Zusammenfassung

Alexander von Humboldts wissenschaftliches Programm begreift die Natur als harmonische Einheit aller Erscheinungen, Stoffe und Lebewesen. Am Beginn seiner Überlegungen zu einer Geographie der Pflanzen stehen Fragen nach der Verbundenheit von Pflanzen- und Menschheitsgeschichte. Auf der amerikanischen Reise entwickelt Humboldt das Konzept der Pflanzenphysiognomik, demzufolge morphologische Hauptformen in ihren jeweiligen Anteilen den Charakter verschiedener Vegetationstypen bestimmen. Im ebenfalls bereits auf der Reise entworfenen Naturgemälde der Tropenländer wird die Geographie der Pflanzen zum Teil eines weltumspannenden geowissenschaftlichen Forschungsprojekts. Der Plan einer Pflanzengeographie der ganzen Erde liegt auch Humboldts Arbeiten zum numerischen Verfahren der botanischen Arithmetik und dem – schließlich aufgegebenen – Vorhaben einer Neuausgabe seiner Ideen zu einer Geographie der Pflanzen zugrunde.

Humboldts Wurzeln[*]

[*] Für die kritische Lektüre des Textes danke ich Carmen Götz und Florian Schnee. Wertvolle Hinweise und Unterstützung verdanke ich darüber hinaus Alberto Gómez-Gutiérrez, Tobias Kraft, Anne MacKinney, Mauricio Nieto Olarte und Christian Thomas.

1Alexander von Humboldts lebenswissenschaftliche Forschungen erstrecken sich von den frühen 1790er Jahren bis in die Zeit kurz vor seiner Rückkehr nach Berlin im Jahr 1827. Bis 1807, dem Jahr der Veröffentlichung der Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer, hatten Humboldts Publikationen zudem einen botanischen Schwerpunkt.[1] In den Jugendschriften handelte es sich vor allem um pflanzenphysiologische Untersuchungen, während die botanischen Forschungen auf der mit dem Botaniker Bonpland unternommenen Forschungsreise im Zeichen der Sammlung und Dokumentation von Spezimina der Neotropis standen.[2] Parallel zur Veröffentlichung dieser Sammlung und der Auswertung anderer Teilaspekte der Reise beschäftigte sich Humboldt zwischen 1814 und 1826 mit vertiefenden numerischen Studien zur Pflanzengeographie.[1] So Humboldt an Martin Hinrich Lichtenstein, o. O., 24. Februar 1851, Niedersächsisches Staatsarchiv, Wolfenbüttel, Abt. VI, 12 nr. 79, Nr. 1, Bl. 2r: „Da ich mich von meinem 18ten bis 35sten Jahre, wie meine Schriften beweisen, vorzugsweise praktisch mit Botanik beschäftigt […].“[2] Zur botanischen Sammelpraxis Humboldts und Bonplands vgl. Götz 2018 (https://edition-humboldt.de/H0016429).

2Seine Beiträge zu drei Disziplinen botanischer Forschung – Physiologie, Systematik und Pflanzengeographie – fallen in die Zeit des Übergangs von der Naturgeschichte der Aufklärung zur Biologie des 19. Jahrhunderts. Die wesentlichen epistemologischen Positionen und heuristischen Verfahren der Humboldt’schen Lebenswissenschaften haben ihre Wurzeln im Naturbild des 18. Jahrhunderts. Erkenntnisleitend blieb für Humboldt zeitlebens die Idee einer inneren Verbundenheit der Organismen und Naturkräfte. Sein erster Lehrer der Botanik, Karl Ludwig Willdenow, beschrieb diesen Gedanken durch die Metapher des Netzes:

Wir suchen bey unsern systematischen Eintheilungen die Körper in geraden Linien zusammenzustellen; aber die Natur bildet im Ganzen ein verwickeltes, nach allen Seiten ausgebreitetes Netz, was wir auszuspähen zu kurzsichtig und zu ergründen zu schwach sind. Vielleicht wird man nach Jahrhunderten, wenn alle Winkel des Erdballs durchsucht sind, und mehrere Erfahrungen das Wahre vom Falschen gesondert haben, richtiger darüber urtheilen.[3] [3] Willdenow 1792, 148. Zur Netz-Metapher im frühneuzeitlichen Naturbild seit Vitaliano Donati und Georges-Louis Leclerc de Buffon vgl. Lepenies 1978, 44–45 sowie Ragan 2009. Vgl. auch Humboldts Briefe an Willdenow in der vorliegenden Edition (http://edition-humboldt.de/X0000005).

3Humboldts 1796 erstmals formuliertes Programm einer „physique du monde“,[4] einer Wissenschaft, welche die Natur als organische Einheit aller Erscheinungen, Stoffe und Lebewesen begreift und deren wechselseitige Beziehungen sie empirisch erfassen und mittels allgemeiner Gesetze ausdrücken möchte, greift die naturhistorischen Axiome einer ganzen Generation von Forschern auf, zu der neben dem wohl einflussreichsten Autor Georges-Louis Leclerc de Buffon auch Humboldts Lehrer Johann Friedrich Blumenbach und Georg Forster gehörten.[5] Frühe Schriften Humboldts galten der Suche nach dem „chemischen Process des Lebens“ – dem organisierenden Prinzip der Lebewesen.[6] In Briefen an Blumenbach und den Anatomen Samuel Thomas Soemmerring schilderte er seine physiologischen Experimente und Beobachtungen.[7] Humboldt löste sich zwar früh von vitalistischen Annahmen über die Existenz einer Lebenskraft.[8] Für Humboldts Naturbild behielt die Idee der Selbstorganisation jedoch ihre Bedeutung: Die Harmonie der Natur ist demzufolge nicht statisch, sondern geht „aus dem freyen Spiel dynamischer Kräfte“ hervor.[9] Aufgabe des Naturgelehrten ist es, diesen Kräften mittels Experimenten und präzisen Messungen empirisch auf den Grund zu gehen. Die ästhetische Sensibilität des messenden und beschreibenden Forschers führt zur Erkenntnis der inneren Gesetzmäßigkeiten der Natur und ermöglicht so die Anschauung des Naturganzen.[10][4] Humboldt an Marc-Auguste Pictet, Bayreuth, 24. Januar 1796 (La Roquette 1865, 4).[5] Vgl. z. B. Georg Forsters 1781 formuliertes Ideal einer umfassenden Wissenschaft der Natur: „Ein Blick in das Ganze der Natur. Einleitung zu Anfangsgründen der Thiergeschichte“ (Forster 1958–2003, VIII, 77–97, bes.: 78–79). Peter Hanns Reill ordnet Buffon, Blumenbach, Forster sowie Alexander und Wilhelm von Humboldt einer Bewegung von Naturgelehrten zu, die er unter dem Begriff der ‚Enlightenment Vitalists‘ zusammenfasst. Diese Gruppe setzte einem mechanistischen Weltbild das dynamische Konzept von Wechselwirkungen der belebten Natur entgegen. Vgl. Reill 2005, 1–16; zu den Brüdern Humboldt ebenda, 17–31; 237–254.[6] Humboldt 1793, 133–182; Humboldt 1794; Humboldt 1797.[7] Vgl. die Briefe Humboldts an Soemmerring in der vorliegenden Edition (http://edition-humboldt.de/X0000003).[8] Vgl. dazu Humboldt 1849, II, 310–311 sowie Jahn 1969, 52.[9] Humboldt 1807, 39.[10] Zu Sensibilität, Ästhetik und Anschauung als Kategorien der empirischen Naturforschung um 1800 vgl. Dettelbach 1999.

Das Hauptwerk: Die Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer

Vom Plan zum Buch

4Humboldt fasste den Plan zu den Ideen bereits mehrere Jahre vor seiner amerikanischen Forschungsreise. Ob er einen ersten Entwurf des Werkes tatsächlich an Georg Forster, also vor 1794, gesandt hatte, wie Humboldt 1807 in der Vorrede angibt, ist nicht gesichert.[11] Seine vor der Reise entstandenen pflanzengeographischen Manuskripte sind bis auf eine kurze Notiz nicht erhalten.[12] In einem 1794 verfassten Brief Humboldts an Friedrich Schiller stehen Pflanzenwanderungen und deren kulturgeschichtliche Dimension im Zentrum seiner Überlegungen:[11] Vgl. Humboldt 1807, iii.[12] „Geschichte der Pflanzen (Der Vierwaldstättersee), Naturgemälde“ (Humboldt 1795). Dass Humboldt vor 1799 bereits Material gesammelt hatte, belegt eine Stelle im Reisetagebuch, in der er sich auf „MSS in Europa“ zur Pflanzengeographie bezieht: SBB-PK, Handschriftenabteilung, Nachlass Alexander von Humboldt (Tagebücher) I, Bl. 50.

Wie man die Naturgeschichte bisher trieb, wo man nur an den Unterschieden der Form klebte, die Physiognomik von Pflanzen und Thieren studirte, Lehre von den Kennzeichen, Erkennungslehre, mit der heiligen Wissenschaft selbst verwechselte, so lange konnte unsere Pflanzenkunde z. B. kaum ein Object des Nachdenkens speculativer Menschen sein. […] Die allgemeine Harmonie in der Form, das Problem, ob es eine ursprüngliche Pflanzenform giebt, die sich in tausenderlei Abstufungen darstellt, die Vertheilung dieser Formen über den Erdboden, die verschiedenen Eindrücke der Fröhlichkeit und Melancholie, welche die Pflanzenwelt im sinnlichen Menschen hervorbringt, […] Geschichte und Geographie der Pflanzen, oder historische Darstellung der allgemeinen Ausbreitung der Kräuter über den Erdboden, ein unbearbeiteter Theil der allgemeinen Weltgeschichte, Aufsuchung der ältesten Vegetation in ihren Grabmälern (Versteinerungen, Steinkohlen, Torf &c.), allmählige Bewohnbarkeit des Erdbodens, Wanderungen und Züge der Pflanzen, der geselligen und isolirten, Karten darüber, welche Pflanzen gewissen Völkern gefolgt sind, […] – das scheinen mir Objecte, die des Nachdenkens werth und fast ganz unberührt sind.[13] [13] Humboldt an Friedrich Schiller, Nieder-Flörsheim, 6. August 1794 (Humboldt 1973, 346–347).

5Die erste Erwähnung des Buchprojekts lässt sich ebenfalls auf das Jahr 1794 datieren: Humboldt kündigte gegenüber dem Helmstedter Mathematiker Johann Friedrich Pfaff ein Buch an, das „in 20 Jahren unter dem Titel: ‚Ideen zu einer künftigen Geschichte und Geographie der Pflanzen oder historische Nachricht von der allmäligen Ausbreitung der Gewächse über den Erdboden und ihren allgemeinsten geognostischen Verhältnissen‘“ erscheinen sollte.[14] Einen ersten Entwurf schrieb Humboldt noch auf der Reise im Januar und Februar 1803 in Guayaquil nieder.[15] Bereits dieser frühe Text weist die spätere Zweiteilung in einen programmatischen Abschnitt („Prospecto“) und die Beschreibung des Naturgemäldes („Quadro físico de los Andes, y paises immediatos“) auf und enthält zentrale Thesen des Buches.[16] Im Mai 1804 kündigte Humboldt auf Kuba in einem kurzen Artikel die Veröffentlichung des Werkes an;[17] am 7. Januar 1805 trug er eine erste Fassung der Ideen vor der Klasse für physikalische und mathematische Wissenschaften des Institut de France in Paris vor.[18] Das Erscheinen der Ideen verzögerte sich jedoch durch Humboldts Italienreise im selben Jahr sowie den anschließenden Aufenthalt in Berlin bis 1807.[19] So war ein am 6. Januar 1806 in der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften gehaltener und noch im selben Jahr publizierter Vortrag die erste pflanzengeographische Veröffentlichung Humboldts: Die „Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse“ entsprechen allerdings im Aufbau und inhaltlich im Wesentlichen den Ideen zu einer Geographie der Pflanzen.[20][14] Humboldt an Pfaff, Goldkronach, 12. November 1794 (Humboldt 1973, 370).[15] Francisco José de Caldas veröffentlichte eine ins Spanische übersetzte, von ihm annotierte Fassung des Manuskripts zwischen April und Juli 1809 im Semanario del Nuevo Reyno de Granada (Humboldt 1809). Das zugrundeliegende französische Manuskript von 1803 konnte bislang nicht nachgewiesen werden.[16] Somit ist der in der Vorrede von Humboldt 1807 angegebene Entstehungskontext („Im Angesichte der Objekte, die ich schildern sollte; von einer mächtigen, aber selbst durch ihren innern Streit wohlthätigen Natur umgeben; am Fuße des Chimborazo, habe ich den größern Theil dieser Blätter niedergeschrieben.“ – Humboldt 1807, iii) durchaus plausibel und kein bloßes Stilmittel, um Unmittelbarkeit zu suggerieren.[17] „[…] la vegetacion tiene tambien sus limites fixos, que dentro de poco tiempo expondré en mi Geografía de las plantas accompañada de mapas que á la vez manifestan la temperatura, la humedad, la carga eléctrica, la cantidad de oxygeno, la cultura del terreno y la diferencia de animales, segun las regiones á donde llegan dichos límites.“ (Humboldt 1804, 142–143, Hervorhebung UP).[18] Zu Humboldts Pariser Rede vgl. den Eintrag in der Alexander von Humboldt-Chronologie: https://edition-humboldt.de/H0014747.[19] Zur Publikationsgeschichte von Humboldt 1807 vgl. Fiedler/Leitner 2000, 234–245.[20] Humboldt 1806a. Zu diesem Essay sowie zum Begriff der Physiognomik bei Humboldt vgl. Hagner 1996.

Die Ideen zu einer Geographie der Pflanzen

6Die Ideen erschienen im Frühjahr 1807 parallel in einer französischen und einer deutschen Ausgabe.[21] Humboldt gliedert das Werk in zwei im Grunde eigenständige Teile, einen einleitenden Essay – die eigentlichen Ideen zu einer Geographie der Pflanzen –, in dem er eine Definition der Pflanzengeographie vornimmt sowie deren Leitfragen darlegt (Seite 1–32, nur etwa ein Sechstel des Buches), sowie eine eingehende Erläuterung des dem Band beigegebenen monumentalen Naturgemäldes der Tropenländer (die verbleibenden Seiten 33–182). In einer kurzen Vorrede stellt Humboldt das Buch als Auftakt des Reisewerks vor. Bewusst habe er nicht die Schilderung des Reiseverlaufs an den Anfang dieses Werkes gestellt.[22] Einer solchen retrospektiven Erzählung zieht Humboldt die prospektive Schilderung vorläufiger wissenschaftlicher Ergebnisse vor.[21] Vgl. Fiedler/Leitner 2000, 238–239; 244–245. Die französische Ausgabe mit dem Titel Essai sur la Géographie des plantes; accompagné d’un tableau physique des régions équinoxiales (Humboldt 1807a)war bereits 1805 im Druck. Die beiden Ausgaben weichen daher an vielen Stellen voneinander ab. Die vorliegenden Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die deutsche Fassung.[22] Humboldt 1807, I–II.

Fragen der Pflanzengeographie

7Bereits die Bezeichnung Ideen verweist auf das Vorläufig-Programmatische dieses Textes.[23] Humboldt präsentiert sich hier als Neuschöpfer der wissenschaftlichen Pflanzengeographie – „eine[r] Disciplin, von welcher kaum nur der Name existirt.“[24] Anschließend an eine knappe Definition der Disziplin („Sie betrachtet die Gewächse nach dem Verhältnisse ihrer Vertheilung in den verschiedenen Klimaten.“[25]) führt er kursorisch in deren Forschungsfragen ein, geht ihnen aber nicht im Einzelnen nach.[26] Welche Verteilungsmuster der Pflanzen lassen sich auf der Erde feststellen? Humboldt skizziert dazu auf wenigen Seiten den Vegetationscharakter der verschiedenen Kontinente und Höhenstufen sowie deren klimatische Ursachen und verweist auf den unterschiedlichen Landschaftscharakter, der durch sozial lebende bzw. isoliert wachsende Pflanzen verursacht werde. Weitere Fragen betreffen die erdgeschichtlichen Ursprünge und Verbreitungswege der Vegetation: Gibt es Pflanzenarten, die auf allen Kontinenten heimisch sind? Gingen also alle Pflanzen oder deren Urformen von einem Punkt aus oder gab es mehrere Schöpfungszentren? Welche Aussagen erlauben die in Gestein, Kohleflözen und Torflagen gefundenen Überreste vorzeitlicher Vegetation über einstige Klimaverhältnisse und Pflanzenwanderungen? Er untersucht die Arten, welche Ostasien mit Neuspanien gemein seien und schildert die unterschiedlichen Vegetationstypen Südeuropas und Nordafrikas, die durch „die große Katastrophe, welche durch plötzliches Anschwellen der Binnenwasser erst die Dardanellen und nachher die Säulen des Herkules durchbrochen und das breite Thal des Mittelmeers ausgehöhlt“ habe. Ähnlich bilde der mittelamerikanische Isthmus eine Vegetationsgrenze zwischen Nord- und Südamerika.[23] Bettina Hey’l interpretiert das essayistische Schreiben Humboldts als „ein sprachliches Verfahren, Synthesen zu erzeugen oder vorwegzunehmen, die im Grunde wissenschaftlich erst zu erweisen wären.“ (Hey’l 2007, 216).[24] Humboldt 1807, 2. Augenfällig sind die Parallelen der Ideen zur „revolutionären Rhetorik“ einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Programmschriften um 1800. Vgl. dazu Solleveld 2016.[25] Humboldt 1807, 2.[26] Vgl. zum Folgenden Humboldt 1807, 2–22.

8Der in diesem Zusammenhang aufgefächerte Fragenkatalog rief dem informierten Leser die bereits vertrauten biobotanischen Grundgedanken des 18. Jahrhunderts in Erinnerung. Der Themenkreis der Ideen – etwa die Frage nach weltweit natürlich vorkommenden Arten, zur Pflanzenwanderung über Kontinente, bis hin zum Phänomen gesellig lebender Pflanzen und dem Ruf nach einer wahren Geschichte der Pflanzen – findet sich beispielsweise in Willdenows Grundriss der Kräuterkunde.[27][27] Willdenow 1792, 353–367, 371–373. Humboldt verweist in der Vorrede der Ideen auf die „klassischen Schriften meines vieljährigen Freundes und Lehrers Willdenow” (Humboldt 1807, VIII). Vgl. auch Larson 1994, 115.

Menschheitsgeschichte und Pflanzengeschichte

9Die Verbindung von Pflanzen- und Menschheitsgeschichte hatte Humboldt schon in den 1790er Jahren in seinen Forschungs- und Publikationshorizont eingefügt. In einem wohl 1799 auf der ersten Etappe der amerikanischen Reise entstandenen Aufsatz mit dem Titel „Geschichte und Geographie der Pflanzen. Akkerbau“ sammelte Humboldt in seinem Tagebuch Angaben über natürliche Pflanzenwanderungen zwischen Amerika und Asien und die Verbreitung der Kulturpflanzen. Er vergleicht Klima und Vegetation der nördlichen Hemisphäre mit seinen Beobachtungen in den amerikanischen Tropen. Das unwirtliche Klima der nördlichen Klimazonen befördere die „Kultur des Menschengeschlecht’s“ durch den notwendigen Wettstreit der physischen und intellektuellen Kräfte des Menschen und deren daraus resultierenden „Kunstfleiß“ und die „Vervollkommnung des Akkerbaus“. Ganz anders in den Tropen Amerikas, deren Natur reichlich Nahrung bereithalte und so Kultur und Vergesellschaftung eher hemme:[28] „So hat die Pflanzenwelt auf das Menschengeschlecht u. dieses wechselseitig auf jene gewirkt.“[29] Diese Gedanken waren schon in den 1803 in Guayaquil entstandenen Entwurf der Ideen eingegangen.[30] Auf wenigen Seiten umreißt Humboldt dann auch in den Ideen die beiden großen menschengemachten Pflanzenwanderungen: die Verbreitung von Kulturpflanzen in der Antike von Asien nach Europa und den Austausch zwischen Europa und Amerika am Beginn der Neuzeit.[31][28] ART I, Bl. 50–51.[29] ART I, Bl. 53r.[30] Humboldt 1809, 134: „La extencion de la Agricultura, sus objetos diversificados segun el caracter, segun las constumbres, y frequentemente segun las imaginaciones supersticiosas de los pueblos, la influencia del alimento mas ó menos estimulante sobre la energia de las paciones, las navegaciones y las guerras emprenidas par conseguir procucciones del reyno vegetal, son otras tantas concideraciones que ligan la Geografía de la Plantas con la historia política y moral del hombre.” (Hervorhebung im Original).[31] Humboldt 1807, 17–24.

Eine Physiognomik der Gewächse

10Sicherlich betrat Humboldt auch mit diesen Überlegungen zum Einfluss von Klima und Landschaft auf den Stand der menschlichen Kultur kein Neuland. In Herders Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit erscheint die Pflanzengeographie, insbesondere die Verbreitung der Kulturpflanzen, ebenfalls als Teil einer „allgemeinen Weltgeschichte.“[32] Doch entwickelt Humboldt aus dieser Verbindung von Natur- und Kulturgeschichte mittels der Anschauung des Naturganzen eine unerwartete Synthese:[32] Zu Herders Einfluss auf Humboldt vgl. Knobloch 2006, 31–34; speziell zur Pflanzengeographie: Mook 2012, 133–157.

Welchen Einfluß hat die Vertheilung der Pflanzen auf dem Erdboden, und der Anblick derselben auf die Phantasie und den Kunstsinn der Völker gehabt? worinn besteht der Charakter der Vegetation dieses oder jenes Landes? wodurch wird der Eindruck heiterer oder ernster Stimmung modificirt, welche die Pflanzenwelt in dem Beobachter erregt?[33] [33] Humboldt 1807, 24.

11Die Natur auf diese Weise „im Großen“ betrachtet, lasse die „physionomischen [sic] Unterschiede“ der verschiedenen Vegetationstypen der Welt erkennen und führe zu deren weltweiter Vergleichbarkeit.[34] Humboldt identifiziert 17 Grundformen, in die sich alle bekannten Pflanzenarten einordnen ließen.[35] Diese Formen ordnet er nach dem morphologischen Gesamtbild der Pflanze, wie zum Beispiel Bananenform, Palmenform oder Form der Nadelhölzer.[36] Das Verhältnis der Formen zueinander bestimme den „Charakter der Vegetation“, den Gesamteindruck einer Landschaft.[37] Hier folgt Humboldt der eigenen, bereits in der Flora Fribergensis formulierten Definition der Pflanzengeographie, der zufolge es dieser Disziplin um Verbindungen und Beziehungen der Pflanzen gehen müsse, „durch die alle Vegetabilien untereinander verknüpft“ seien.[38] Humboldts physiognomischer Ansatz, entwickelt aus dem Geist der ästhetischen Wissenschaft des 18. Jahrhunderts, war das eigentlich Neue der Ideen; er wirkte nachhaltig auf die phytogeographische Forschung des 19. Jahrhunderts. Die Botaniker Joakim Frederik Schouw, Franz Julius Ferdinand Meyen und August Grisebach entwickelten ihn zum Konzept der Pflanzengesellschaften und pflanzengeographischen Formationen weiter.[39] Als ähnlich bahnbrechend sollte sich eine in den Ideen eher beiläufige Bemerkung erweisen: Die Beobachtung, dass die Formen der Pflanzen und die Physiognomie der von ihnen gebildeten Vegetation entsprechend geographischer und klimatischer Gegebenheiten variieren und weltweit vergleichbar sind, fand in den hergebrachten botanischen Klassifikationssystemen keine Entsprechung.[40] Dieses Problem versuchte Humboldt in den folgenden Jahren mittels einer numerischen Systematik globaler Verteilungsmuster zu lösen.[34] Humboldt 1807, 24–25.[35] Timothy Lenoir führt Humboldts Suche nach Grundformen auf Blumenbach und das Programm der „Göttingen School“ zurück (Lenoir 1980, 171–173).[36] Vgl. dazu Ebach 2015, 38.[37] Humboldt 1807, 28.[38] Humboldt 1793, IX. Übersetzung von Eberhard Knobloch, zitiert nach: Pieper 2006, 94.[39] Nicolson 1996, 293–297.[40] Humboldt 1807, 28; vgl. Humboldt 2009d, 36.

Das Naturgemälde der Tropenländer

12Große Ansicht (Digilib)Abb. 1: Alexander von Humboldt, „Geographie der Pflanzen in den Tropen-Ländern“, 1807 (Quelle: Zentralbibliothek Zürich, Wikimedia Commons, Public Domain) Die Sensibilität des Naturbetrachters und die sinnliche Erfahrung der Gesamtschau führte Humboldt somit zum analytischen Befund physiognomischer Hauptformen. Das Mittel des Totaleindrucks setzt Humboldt auch im Naturgemälde der Tropenländer ein. Es bietet dem Betrachter ein idealisiertes Profil der Anden am Äquator zwischen Pazifik und Atlantik. Im Bildzentrum stehen die beiden Vulkanmassive des Chimborazo und des Cotopaxi. Auf ihnen trägt Humboldt die Spezies von natürlich vorkommenden sowie Nutzpflanzen ein. Die Pflanzen erscheinen auf den jeweiligen Höhenstufen, auf denen er und Bonpland sie auf der Reise durch die Tropen Amerikas gesammelt hatten. Humboldt benennt einzelne Regionen nach den das Erscheinungsbild der Landschaft dominierenden Familien oder Gattungen in den verschiedenen Höhenstufen der Tropen Amerikas, beispielsweise die Region der „Lichenen und Umbilicarien“, „Region der baumartigen Farnkräuter“, die „Region der Palmen und Scitamineen“ usw.

13Die Darstellung der sich vom Tiefland bis in die Gipfelregionen der Anden wandelnden Vegetation des tropischen Amerika ist das zentrale Motiv des Schaubildes, aber nur Teil eines umfassenderen Projekts. Die vertikale Perspektive bietet Humboldt aber vor allem die Möglichkeit, auch „die Ansicht des Bodens und die Reihe physikalischer Erscheinungen, welche der Luftkreis“ in den jeweiligen Höhenstufen darbietet, auf einem Schaubild abzubilden und optisch in eine Beziehung zu setzen.[41][41] Humboldt 1807, 33.

14Humboldt präsentiert in 16 Tabellen die Daten seiner Forschungsreise, zu der neben der Vegetation, der Tierwelt und den geognostischen Verhältnissen auch Ackerbau, Temperatur, Schneegrenzen, Zusammensetzung und elektrische Spannung der Atmosphäre, Barometerstand, Abnahme der Gravitation, Luftdichte, Intensität der Himmelsbläue, Abschwächung der Lichtintensität in unterschiedlichen Luftschichten, Strahlenbrechung am Horizont und Siedehitze des Wassers in verschiedenen Höhen und schließlich, als Mittel des weltweiten Vergleichs, die Höhen von Berggipfeln anderer Weltteile gehören. In ähnlicher Weise, wenn auch methodisch und geographisch im kleineren Maßstab, hatte Humboldt bereits 1798 die steil aufragenden Gebirgsstöcke der Berchtesgadener Alpen für vergleichende physikalische Messreihen auf verschiedenen Höhenstufen als topographisches Erkenntnismittel erkannt und genutzt.[42][42] „Kaum ist es möglich, eine Gegend der Erde zu finden, welche mehr zu physikalischen Beobachtungen anreizen, und ihre Ausführung zugleich mehr begünstigen könnte, als diese Ebene am Fusse des Hohenstauffen und Untersbergs. Ein weites von den Winden gereinigtes Thal ist von 4–5000 Fuss hohen Alpen umgeben. In wenigen Stunden kann man sich von den niedrigen mit Buchen und Ahorn beschatteten Hügeln in eine Region begeben, wo Moos und Flechten mit ewigem Schnee bedeckt sind.“ (Humboldt 1799, 155).

15Mit Hilfe des Schaubilds legt Humboldt das gesamte geowissenschaftliche Forschungsprogramm seiner Reise dar:

Dieses Naturgemälde berührt demnach gleichsam alle Erscheinungen, mit denen ich mich fünf Jahre lang während meiner Expedition nach den Tropenländern beschäftigt habe. Es enthält die Hauptresultate der Arbeiten, welche ich in den folgenden Bänden näher entwickeln werde.[43] [43] Humboldt 1807, 39.

16In den Einzelkapiteln des Kartenkommentars erläutert Humboldt jeweils die Messtabellen und setzt sie in einen weltweiten Zusammenhang.[44] Humboldt greift als Vergleichsgrößen auf Messdaten von Naturforschern aus Europa sowie Süd- und Nordamerika zurück und entwirft so bereits einen nächsten Schritt: eine vergleichende Pflanzengeographie der Erde.[45] Über die phytogeographischen Forschungen Europas schreibt er:[44] Vgl. die eingehende Analyse der Verschränkung von Karte und Text bei Kraft 2014, 148–164.[45] Nils Güttler wählt für diese kartographische Darstellungsweise den treffenden Begriff des ‚Auszoomens‘: „Auszoomen bedeutet, dass Humboldt seine Karten dazu benutzte, um vom Konkreten ausgehend das Ganze, Allgemeine, in den Blick zu nehmen.“ (Güttler 2014, 139).

Wie sehr wäre es zu wünschen, daß man diese Vegetation in einer ähnlichen Skizze darstellte, als ich über die der Tropen-Region zu liefern gewagt habe! Wie viele Materialien hat der nie ermüdende Fleiß der Botaniker nicht bereits dazu gesammelt![46] [46] Humboldt 1807, 77.

17Zwar hebt Humboldt in diesem Zusammenhang unter anderem Louis Ramond de Carbonnières’ geographische Erforschung der Pyrenäen und dessen Verbindung von geologischen, botanischen und mathematischen Kenntnissen „mit dem reinsten Sinn für philosophische Naturbetrachtung“ als vorbildlich hervor.[47] Doch dient dieses Lob vor allem als Kontrastfolie, vor deren Hintergrund die methodischen Schwächen anderer Botaniker umso deutlicher hervortreten:[47] Humboldt 1807, 77. Vgl. beispielsweise Ramond de Carbonnières’ komparative Beobachtungen zu alpinen Vegetationsstufen (Ramond 1789, II, 329–346).

Die berühmten Naturforscher, welche die Schweizer-Alpen, die Gebirge von Tyrol, Salzburg und Steyermark durchstrichen haben, könnten, wenn sie Höhenmessungen mit ihren botanischen Beobachtungen genugsam verbunden hätten, genauere Pflanzenkarten entwerfen, als man je über die unzugänglichere und minder bereiste Andeskette hoffen darf.[48] [48] Humboldt 1807, 77.

18Humboldts Pflanzengeographie setzt den „messenden Botaniker“[49] voraus, der neben den Pflanzenexemplaren auch eine ganze Reihe physikalischer Phänomene im Feld aufnimmt, sodass seine Daten mit denen anderer Regionen verglichen werden können.[49] Humboldt 1807, 86.

Exkurs: Pflanzengeographische Profile um 1800 – Giraud-Soulavie, Humboldt, Caldas

19Die Darstellung der Vegetation der Anden und von physikalischen Phänomenen entlang von Höhenstufen im Kartenprofil diente durchaus einer verdichteten Veranschaulichung der Vegetations- und Klimazonen, wie sie sich auch entsprechend der Breitengrade änderten. Humboldt war sich jedoch bewusst, dass nur unter den Tropen die verschiedenen Klima- und Vegetationszonen in kurzer Abfolge „gleichsam schichtenweise über einander gelagert“ auftreten, während ein entsprechendes Naturgemälde der Pyrenäen oder der Alpen ein deutlich ungenaueres und unregelmäßigeres Bild ergeben würde.[50] Die Tropen Amerikas, deren meteorologische Erscheinungen „regelmäßigen, periodischen Veränderungen“ unterworfen sind, waren so das ideale Untersuchungsfeld für Humboldts „Erdphysik“ und die Suche nach „unwandelbare[n] Gesetzen“.[51] Sein „physikalisches Gemälde der Äquinoctialländer“[52] ist somit keine thematische Karte zur Biogeographie im Sinne einer „Darstellung von Raumbeziehungen eines bestimmten Sachinhalts“[53], sondern eine Visualisierung eines erst begonnenen weltweiten Projekts, in dem die Untersuchung der Verbreitungsmuster der Pflanzen als Phänomen der „großen Verkettung von Ursachen und Wirkungen“ einen bedeutenden Platz einnimmt.[54][50] Humboldt 1807, 37.[51] Humboldt 1807, 37.[52] Humboldt 1807, 38.[53] Engelmann 1977, 118; Hervorhebung UP.[54] „Humboldt turned the study of plant distribution into a full-fledged scientific endeavor.“ (Browne 1983, 43).

20Große Ansicht (Digilib)Abb. 2: Jean-Louis Giraud-Soulavie, „Coupe verticale des montagnes vivaroises“, 1783 (Quelle: Zentralbibliothek Zürich, http://doi.org/10.3931/e-rara-51136, Public Domain)In diesem umfassenden kosmologischen Anspruch und in der Menge der zusammengetragenen Daten unterscheidet sich Humboldts Naturgemälde beispielsweise von Jean-Louis Giraud-Soulavies 1783 erschienenem Schnitt durch den Mont Mézenc im Zentralmassiv.[55] Die von Giraud-Soulavie für sein Werk Histoire naturelle de la France méridionale angefertigte Karte bildet ähnlich wie später Humboldts Naturgemälde verschiedene Vegetationsstufen auf dem Profil des Berges ab, ergänzt um barometrische Höhenangaben am linken und rechten Bildrand.[56] Doch beschränkt sich Giraud-Soulavie auf die Darstellung der Kulturpflanzen einer Region sowie die Angaben der Baum- und Vegetationsgrenzen.[55] Zu Giraud-Soulavie vgl. Ramakers 1976.[56] Giraud-Soulavie 1780–1784, II.1.

21Große Ansicht (Digilib)Abb. 3: Francisco José de Caldas, Pflanzengeographisches Profil der Anden von Loja bis Quito, undatiert (Quelle: Mauricio Nieto Olarte, La obra cartográfica de Francisco José de Caldas, Bogotá: Ed. Uniandes 2006. Mit freundlicher Genehmigung des Autors) Detaillierter waren die zwischen 1802 und 1809 entstandenen Andenprofile des neo-granadischen Naturforschers Francisco José de Caldas, der sich zwar ebenfalls überwiegend für die Höhengrenzen von Nutzpflanzen wie der des Cinchona-Baums interessierte, aber auch die Verbreitungsgebiete zahlreicher weiterer andiner Pflanzen in seine Untersuchungen einbezog.

22Große Ansicht (Digilib)Abb. 4: Francisco José de Caldas, Kopie des von Humboldt angefertigten Höhenprofils „Nivelación barométrica hecha por el Barón de Humboldt en 1801 desde Cartagena de Indias hasta Santa Fe de Bogotá“, 1802 (Quelle: Mauricio Nieto Olarte, La obra cartográfica de Francisco José de Caldas, Bogotá: Ed. Uniandes 2006. Mit freundlicher Genehmigung des Autors) Die Vergleichbarkeit des Bildprogramms Caldas’ und Humboldts wirft die Frage nach den gegenseitigen Einflüssen beider pflanzengeographischer Entwürfe auf. Humboldt und Caldas traten bei ihrem ersten Zusammentreffen am 31. Dezember 1801 in Ibarra in einen wissenschaftlichen Austausch, den sie die folgenden Monate in Quito bis zu Humboldts und Bonplands Abreise im Juni 1802 fortsetzten.[57] Caldas hatte bereits vor der ersten Begegnung Humboldts Reise verfolgt und kannte dessen Höhenprofil der Route zwischen Cartagena und Bogotá, von der er eine Kopie anfertigte.[57] Zum Austausch zwischen Humboldt und Caldas sowie zum Folgenden vgl. Appel 1994, 20–32; 53–59. Vgl. auch Gómez-Gutiérrez 2016.

23Große Ansicht (Digilib)Abb. 5: Alexander von Humboldt, „Géographie des plantes près de l’Équateur. Tableau physique des Andes et pais [sic] voisins, dressé sur les observations et mesures faites sur les lieux en 1799–1803“, 1803 (Red Cultural del Banco de la República en Colombia, http://babel.banrepcultural.org/cdm/ref/
collection/p17054coll13/id/180
, Dominio público)
Humboldt seinerseits hatte sich schon in Bogotá Caldas’ Feldnotizen und astronomische Ortsbestimmungen zeigen lassen und sich anerkennend über deren Präzision geäußert. Er gewährte Caldas Einblick in seine eigenen Aufzeichnungen und konnte sicherlich von Caldas’ eingehenden Kenntnissen der Geographie Neugranadas, insbesondere der Verbreitung andiner Nutzpflanzen wie der Cinchona-Pflanze, profitieren. Caldas war mit den Instrumenten und Methoden zur Ortsbestimmung und für Höhenmessungen bestens vertraut; er besaß somit praktische Voraussetzungen für pflanzengeographische Forschungen. Doch findet sich in seinen Aufzeichnungen vor der Begegnung mit Humboldt keine Erwähnung des Begriffes Pflanzengeographie; erst im August 1801 hatte er begonnen, Pflanzen nach einem taxonomischen System aufzunehmen. Möglicherweise entstand bei beiden Gelehrten im Austausch über die Pflanzenregionen und Vegetationszonen Neugranadas das Bedürfnis der Abgrenzung des eigenen Forschungsfeldes oder gar der Sicherung der Priorität. Humboldt zeichnete im Februar 1803 in Guayaquil, kurz vor der Abreise nach Neuspanien, einen ersten Entwurf des Naturgemäldes mit dem Titel „Géographie des plantes près de l’Équateur et pays voisins, dressé sur les observations et mesures faites sur les lieux en 1799–1803“.

24 Die Karte schickte er gemeinsam mit dem ersten Entwurf der Ideen an Juan Pío Montúfar mit Bitte um Weiterleitung an José Celestino Mutis, der für dasselbe Jahr eine botanische Expedition durch Neugranada vorbereitete.[58] Montúfar sandte Manuskript und Schaubild zunächst an Caldas, der es gemeinsam mit einer eigenen kurzen Abhandlung nebst zugehöriger Karte an Mutis weiterleitete. Caldas’ sehr knapper Text, der sich mit den Anbaugebieten von Banane, Kartoffel, Maniok und Kakao sowie Weizen, Hafer und Mais am Äquator beschäftigte, wurde erst im 20. Jahrhundert publiziert, seine Karte ging verloren.[59][58] Caldas an Mutis, Quito, 21. April 1803 (Caldas 1978, 218–219).[59] Vgl. die englische Übersetzung von John Wilton Appel: „Memoir on the Distribution of Plants that are Cultivated near the Equator“, datiert auf den 6. April 1803 (Appel 1994, 139–144).

Botanische Arithmetik

Datenvernetzung in Paris

25Eine wichtige Datengrundlage für Humboldts Plan einer Geographie der Pflanzen der Erde ergab sich zunächst aus der Auswertung der eigenen Reise. Zwischen 1805 und 1834 erschien als Teil des Reisewerks die Beschreibung der botanischen Sammlungen, begonnen von Bonpland, 1811/1812 durch Willdenow fortgesetzt und ab 1813 weitergeführt von Carl Sigismund Kunth.[60] Humboldts Plan einer weltweiten Pflanzengeographie war aber nur durch ein weit gespanntes Beobachternetz durchführbar.[61] Wertvolle Daten liefert die von den Ideen inspirierte Feldforschung, die botanische Erhebungen mit hypsometrischen, meteorologischen und klimatologischen Befunden kombinierte. Dazu gehörten die vergleichende pflanzengeographische Untersuchung über Lappland und die Schweiz von Göran Wahlenberg sowie der Reisebericht Leopold von Buchs aus Norwegen.[62] Humboldt nutzte darüber hinaus sein Briefnetzwerk für die Datensammlung. Ein Beispiel dafür bietet seine Korrespondenz mit Robert Brown, der von 1800 bis 1805 eine botanische Forschungsreise nach Madeira, an das Kap der Guten Hoffnung und nach Australien unternommen hatte.[63] Humboldt förderte zudem eine jüngere Generation von Forschungsreisenden, die seinem biogeographischen Konzept folgte und zu einer weltweiten Geographie der Pflanzen beitragen konnte. Zu diesem Kreis gehörte der Botaniker Franz Julius Ferdinand Meyen, für dessen Teilnahme an einer Weltumsegelung im preußischen Auftrag (1830–1832) sich Humboldt erfolgreich einsetzte.[64][60] Zur Publikationsgeschichte der botanischen Teile des Reisewerks (Partie 6) vgl. Fiedler/Leitner 2000, 250–339.[61] „The quest for the unity of nature seemed necessarily to go together with a global and co-ordinated approach, able to encompass and measure all types of phenomena. […] To fulfil this programme, Humboldt had to rely on a distributed network of local observers or travellers in the field, in charge of making series of observations and measures that were to be gathered from all over the world and processed into a unique and global science.“ (Bourguet 2002, 117).[62] Wahlenberg 1813; Buch 1810.[63] Vgl. Humboldts an Brown gesandten pflanzengeographischen Fragenkatalog sowie Browns Antworten in der vorliegenden Edition: http://edition-humboldt.de/H0015180; http://edition-humboldt.de/H0015188.[64] Vgl. den Briefwechsel Humboldts mit Meyen in der vorliegenden Edition: http://edition-humboldt.de/X0000004.

26In seinem 1814 im Institut de France gehaltenen Vortrag „Considérations générales sur la végétation des îles Canaries[65] erläutert Humboldt die praktische Durchführung seiner Vision einer globalen pflanzengeographischen „Vernetzungswissenschaft“[66]: Durch Arbeiten Buchs, Wahlenbergs, Candolles und Ramond de Carbonnières’ sowie Bonplands und Humboldts sei die Geographie der Pflanzen in drei klimatischen Zonen (Polarzone, gemäßigte Zone Europas, amerikanische Tropen) in den vorangegangenen fünfzehn Jahren auf eine „solide Grundlage“ gestellt worden.[67] Nun gelte es, geographische Leerstellen zu füllen. Den wenig erforschten Übergang zwischen gemäßigter Zone und den Tropen untersucht Humboldt am Beispiel der Kanarischen Inseln. Dazu vergleicht er seine eigenen, in den nördlichen Tropen Amerikas (Neuspanien und Kuba) und auf Teneriffa gesammelten Daten mit den Angaben anderer Forschungsreisender wie Jean-Charles de Borda, Jean-Baptiste Bory de Saint-Vincent und Pierre-Louis-Antoine Cordier. Humboldt versucht, die Verteilungsgesetze durch eine Verbindung von Temperaturdaten mit barometrischen Höhenmessungen sowie botanischen bzw. pflanzenphysiologischen Befunden zu ermitteln. Durchschnittstemperaturen sowie Grenzen der Vegetation und des ewigen Schnees auf verschiedenen Breitengraden bilden die analytischen Verbindungsketten („chaînons intermédiaires“) durch die Humboldt dem Haushalt der organischen Natur („l’économie de la nature organique“) auf die Spur kommen möchte. Humboldt wendet hier numerische Methoden seiner zeitgleichen Untersuchungen über die weltweiten Schneehöhen und die isothermen Linien auf die Pflanzengeographie an.[68][65] Alexander von Humboldt, Considérations générales sur la végétation des îles Canaries (https://edition-humboldt.de/H0016427).[66] Zu diesem Begriff vgl. den Beitrag von Ottmar Ette in der vorliegenden Edition: Insel-Text und archipelisches Schreiben: Alexander von Humboldts „Isle de Cube, Antilles en général“.[67] „C’est ainsi que par les travaux réunis de quelques voyageurs qui ont interrogé la nature d’après les mêmes vues, et qui ont employé les mêmes méthodes dans la détermination des températures moyennes et des hauteurs du sol, on est parvenu dans l’espace des dernières 15 années à connoître la distribution géographique des plantes sous l’Équateur, à l’entrée des tropiques, au centre de la zone tempérée et sous le cercle polaire.“ (https://edition-humboldt.de/H0016427).[68] Auf diesen methodischen Zusammenhang verweist bereits Schouw 1823, 373.

Reduzierung der Methoden

27Die in den „Considérations générales“ vorgetragene arithmetische Analyse, so etwa die Idee, die Abstände von Vegetations- und Schneehöhen in unterschiedlichen Regionen durch Zahlenverhältnisse auszudrücken, verweist auf das Konzept der botanischen Arithmetik, mit dem sich Humboldt zu dieser Zeit bereits beschäftigte. In vier zwischen 1815 und 1821 publizierten Texten legt er diese neue Methode ausführlich dar.[69] Ziel war es, mittels statistischer Erhebungen das Verhältnis der natürlichen Pflanzenfamilien sowie der Gattungen und Arten zueinander in verschiedenen Breiten und Regionen zu bestimmen.[70] Humboldt konnte dabei auf regional begrenzte Vorarbeiten von Robert Brown (für die Vegetation Neuhollands und des Kongo) zurückgreifen.[71][69] Humboldt/Bonpland/Kunth 1815–1825, I, III–LVIII; Humboldt 1816; Humboldt 1817 (weitgehend identischer Separatdruck von Humboldt/Bonpland/Kunth 1815–1825, I, III–LVIII); Humboldt 1820; Humboldt 1821; Humboldt 1821a (erweiterte deutsche Übersetzung von Humboldt 1821).[70] Müller-Wille 2017, 125.[71] Brown in: Flinders 1814, II, 538; Brown 1818. Vgl. Humboldt 1821, 274–279.

28Neben Robert Brown hatte auch der aus Genf stammende Botaniker Augustin-Pyrame de Candolle Humboldts arithmetische Untersuchungen angeregt. Candolles pflanzengeographisches Konzept unterschied sich wesentlich von Humboldts Fokus auf Vegetationstypen. Sein floristischer, also auf die einzelne Familie, Gattung oder Art ausgerichteter Ansatz hatte einen regionalen und taxonomischen Fokus.[72] In einem 1813 in der Société d’Arcueil gehaltenen Vortrag vertrat er die These, dass für die pflanzengeographische Untersuchung der Flora Frankreichs lediglich die Ermittlung der geographischen Breite und Höhe, in der die jeweilige Art vorkomme, notwendig sei. Alle anderen etwa von Humboldt in den Ideen aufgeführten Untersuchungsgrößen (Zusammensetzung und Feuchtigkeit der Luft, Durchschnittstemperatur und Lichtintensität usw.) seien ihrerseits von den ersten beiden Faktoren abhängig und daher zu vernachlässigen.[73] Diese pragmatische Begrenzung der Untersuchungsgrößen war eine mögliche Inspiration für Humboldt. Mit Candolle hatte er um 1815 erste Berechnungen der Verhältnisse einzelner Familien zur Gesamtzahl der Phanerogamen in Nordamerika, Frankreich, Deutschland und Lappland ausgetauscht.[74] Ein wichtiger Impuls für die arithmetischen Arbeiten Candolles und Humboldts ging von Pierre-Simon Laplaces etwa zur selben Zeit erschienenen Arbeiten zur Wahrscheinlichkeitsrechnung aus. Humboldt selbst stellte die methodische Verwandtschaft der botanischen Arithmetik mit der Bevölkerungsstatistik und Laplaces Exposition du système du monde heraus.[75][72] Ebach 2015, 65.[73] Candolle 1817, vgl. Ebach 2015, 95.[74] Vgl. zwei nicht datierte Briefe Humboldts an Candolle, Conservatoire et Jardin botaniques de la Ville de Genève („Je suis venu témoigner à mon ami et confrère …“, „Voici, mon excellent ami, le Pursh qui me paroît …“), sowie ein Brief Candolles an Humboldt, o. O., o. D., SBB-PK, Handschriftenabteilung, Nachlass Alexander von Humboldt, gr. Kasten 6, Nr. 82a, Bl. 2–3: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB00019F5000000000.[75] „La physique du globe a ses élémens numériques, comme le système du monde, et l’on ne parviendra que par les travaux réunis des botanistes voyageurs à reconnoître les véritables lois de la distribution des végétaux.“ (Humboldt 1821, 277). „Les savans qui aiment à considérer chaque phénomène dans l’isolement le plus absolu, qui regardent les températures moyennes des lieux, les lois que l’on observe dans les variations du magnétisme terrestre, dans les rapports entre les naissances et les décès, comme des hypothèses hardies et comme de vagues spéculations théoriques, dédaigneront peut-être les discussions qui font l’objet principal de ce Mémoire […].“ (Humboldt 1821, 291).

29Große Ansicht (Digilib)Abb, 6: Alexander von Humboldt, Geographiae plantarum lineamenta, 1815 (Quelle: Zentralbibliothek Zürich, http://doi.org/10.3931/e-rara-24319, Public Domain) Die statistische Methode war zudem ein Weg, die botanische Datenflut zu bewältigen. Zu zuvor wenig erforschten Weltgegenden – etwa Nordamerika, die Kap-Region Südafrikas und Australien – lagen nun Regionalfloren, Kataloge und Herbarien vor. Nicht zuletzt die Veröffentlichung der auf der eigenen Reise gesammelten 3000 neuen Arten führte die Notwendigkeit einer Vereinfachung des methodischen Arsenals auf dem Weg zu einer weltweiten Geographie der Pflanzen klar vor Augen. Humboldts erste rein pflanzenarithmetische Veröffentlichung erschien dann auch 1815 als „Prolegomena“ zum wichtigsten botanischen Werk der amerikanischen Reise, den Nova genera et species plantarum, gleichsam als Anleitung für eine Verarbeitung großer Datenmengen bei der Suche nach Verteilungsgesetzen.[76] Verglichen mit den in den Ideen vorgetragenen Erkenntniszielen und geforderten Messgrößen zeichnet sich dieser neue numerische Untersuchungsansatz durch eine deutliche Reduzierung der Forschungsfragen und Methoden aus. Optisch verdeutlicht diese Beschränkung ein Blick auf das dem ersten Band der Nova Genera beigegebene thematische Schaubild „Geographiae plantarum lineamenta“, welches ausschließlich dem Verhältnis von Schnee- und Vegetationsgrenzen in drei Klimazonen gewidmet ist.[77][76] Humboldt/Bonpland/Kunth 1815–1825, I, III–LVIII.[77] Humboldt/Bonpland/Kunth 1815–1825, I, Frontispiz.

30 Humboldt kombiniert die floristischen Befunde mit den drei Größen: geographische Breite, Höhe und mittlere Temperatur (des Jahres und der Jahreszeiten).

31Große Ansicht (Digilib)Abb. 7: Alexander von Humboldt, Berechnung der Zahlenverhältnisse von Pflanzenfamilien zur Gesamtzahl der Phanerogamen in drei Klimazonen, Separatdruck von Humboldt 1820 (Quelle: SBB-PK, Lx 150, http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001C0B500000023, CC BY-NC-SA 3.0) In einem folgenden Schritt reduzierte Humboldt die Untersuchungsgrößen noch weiter. Die „Nouvelles Recherches sur les lois que l’on observe dans la distribution des formes végétales“ beschränkten sich auf die geographische Lage und Durchschnittstemperatur, um den jeweiligen Anteil einer Familie an der Gesamtmenge der Phanerogamen (Blütenpflanzen) einer Region zu ermitteln.[78] An die Stelle einer kartographischen Darstellung dieser Zahlenverhältnisse trat nun eine Tabelle. Diese Übersicht wird in der rechten Spalte dynamisiert: Die Zu- oder Abnahme der Pflanzenfamilie gegen die nördliche Polarzone bzw. zum Äquator hin wird durch Pfeile dargestellt.[78] Humboldt 1820. Lediglich in der Jussieu’sche Familie der Agamen (blütenlose Pflanzen) wird für die Äquatorialzone des neuen Kontinents zwischen Gebirge und Ebene unterschieden.

Pflanzen ohne Geschichte?

32Humboldts botanische Arithmetik verlässt nicht den epistemologischen Rahmen der Ideen und des Naturgemäldes. Die Suche nach Gesetzmäßigkeiten in der Natur,[79] die Erforschung der „wechselseitige[n] Verkettung der organisierten Wesen“[80] bleiben die Leitgedanken der numerischen Pflanzengeographie. Mittlere Zahlenwerte und Verhältniszahlen sind die Datenbasis, die es dem Naturforscher ermöglicht, die „Natur der Dinge mit einem Blick zu erfassen“.[81] Aus seiner Frühschrift Florae fribergensis specimen übernimmt Humboldt darüber hinaus eine längere Passage in die „Prolegomena“, in der er bereits 1793 eine Temporalisierung der lebenswissenschaftlichen Forschung zurückgewiesen hatte.[82] In ihr hatte er die Pflanzengeographie als Teil der Geognosie („Erdkunde, Théorie de la terre, Géographie physique“) definiert. Auch 1815 blieb die Pflanzengeographie also die Disziplin einer umfassenden Erdkunde; Humboldt unterscheidet die Erdkunde (und damit die Pflanzengeographie) von der Erdgeschichte (einer Geschichte der Entstehung und Verbreitung der Pflanzen im eigentlichen Sinne). Hatte Humboldt in seinem programmatischen Brief an Schiller (1794) und in den Ideen (1807) „gewisse[n] Urformen“ der Pflanzen und erdgeschichtliche Arealveränderungen der Pflanzen sowie der Gestalt der Kontinente noch als Forschungsprobleme der Pflanzengeographie genannt – im Widerspruch zur 1793 gegebenen Definition – so schließt er 1815 diese erdgeschichtlichen Fragen wiederum als empirisch nicht fassbar aus der Disziplin aus.[83] Doch hält Humboldt seine eigene Position zur Verzeitlichung der Naturforschung in den folgenden Schriften zur botanischen Arithmetik in einer ambivalenten Schwebe. Schreibt er 1821 von „unwandelbaren Gesetzen“,[84] nach denen die Pflanzenformen auf der Erde verteilt seien, so sieht er die Verbreitungsmuster 1849 in den Ansichten der Natur lediglich als „wahrscheinlich an lange Zeitperioden“ gebunden und deutet an, dass das Verfahren der Zahlenverhältnisse „in das geheimnisvolle Dunkel“ dessen führe, was „vom Sein zum Werden“ leite.[85] Überlegungen zum Artwandel weist er jedoch als spekulative Träumereien zurück:[79] Humboldt/Bonpland/Kunth 1815–1825, I, XIII.[80] Humboldt 1821a, Sp. 1047.[81] Humboldt 1817, 8. Zu den genannten Axiomen der Humboldt’schen Wissenschaft überhaupt vgl. Knobloch 2009.[82] Humboldt 1793, IX–X; Humboldt/Bonpland/Kunth 1815–1825, I, XII.[83] Zum Problem der Geschichtlichkeit der Natur bei Humboldt vgl. Helmreich 2009.[84] Humboldt 1821a, Sp. 1034.[85] Humboldt 1849, II, 132, 134–135 (Hervorhebung im Original).

Diejenigen, welche gern von allmählichen Umänderungen der Arten träumen und die, benachbarten Inseln eigenthümlichen Papageien als umgewandelte Species betrachten, werden die wundersame Gleichheit obiger Verhältnißzahlen einer Migration derselben Arten zuschreiben, welche durch klimatische, Jahrtausende lang dauernde Einwirkungen sich verändert haben und sich so scheinbar ersetzen.[86] [86] Humboldt 1849, II, 135–136. Zu Humboldts Position hinsichtlich entwicklungsbiologischer und evolutiver Fragestellungen vgl. Schmuck 2014.

33Ironischerweise erwies sich gerade das ahistorische, rein statistische Verfahren als anschlussfähig für evolutionsbiologische Überlegungen. Charles Darwin griff bei seinen arithmetischen Untersuchungen zur Divergenz auch auf die von Humboldt ermittelten Zahlenverhältnisse von Gattungen und Arten in verschiedenen Zonen zurück.[87][87] Vgl. Browne 1980, 54–58; Browne 1983, 64, 68 sowie Müller-Wille 2017, 126. Darwin bezeichnet die „Prolegomena“ in einer Notiz als „great work“: Cambridge University Library, Charles Darwin Papers, Notebook B (Transmutation of species, 1837–1838), CUL-DAR121, pp. 156–157. Transcribed by Kees Rookmaaker: http://darwin-online.org.uk/content/frameset?pageseq=158&itemID=CUL-DAR121.-&viewtype=side.

Ein gescheitertes Projekt: Die Neuausgabe der Ideen

341807 hatte sich Humboldt zum wissenschaftlichen Begründer einer Disziplin erklärt, von der vor seinen Ideen wenig mehr als der Name existiert habe. Diese Sicht der Dinge war nicht unwidersprochen geblieben: Candolle etwa präsentierte Humboldts Ideen in einem Vortrag in der Société d’Arcueil lediglich als einen neueren Abschnitt in einer längeren Geschichte biogeographischer Forschungen; eine Darstellung, auf die Humboldt wenig souverän reagierte.[88] In späteren Vorlesungen und Veröffentlichungen geht Humboldt recht genau auf die Vorarbeiten anderer Gelehrter wie Giraud-Soulavie, Eberhard August Wilhelm von Zimmermann und Friedrich Stromeyer ein, hebt aber seine methodischen Neuerungen vor diesem Hintergrund umso deutlicher hervor.[89] Die Ausdifferenzierung der pflanzengeographischen Forschung führte zum Erscheinen neuer Überblicksdarstellungen der Disziplin, die nun als Referenzwerke Umfang und Methoden der Disziplin bestimmten.[90] Humboldt beschäftigte sich ab 1820 mit einer neukonzipierten Ausgabe der Ideen, durch die er seine selbsterklärte Position als Innovator im wissenschaftlichen Feld der Pflanzengeographie behaupten wollte.[91] Die 1825 unmittelbar bevorstehende Fertigstellung der Nova genera war schließlich der Startpunkt für die Umsetzung dieses Plans. Als Koautor wählte Humboldt den Bearbeiter der Nova genera Karl Sigismund Kunth. Gemeinsam schlossen sie im Februar 1825 mit den Pariser Verlegern James Smith und Théophile Étienne Gide einen Vertrag über die Herausgabe eines Werkes mit dem Titel Géographie des plantes dans les deux hémisphères, accompagnée d’un tableau physique des régions équinoxiales. Das Werk sollte nun also eine Geographie der Pflanzen der gesamten Erde umfassen.[92][88] Zum Disput zwischen Humboldt und Candolle vgl. Bourguet 2015.[89] Vgl. z. B. Humboldt 1816, 226–227 und den Vortrag „Considérations générales sur la végétation des îles Canaries“ von 1814 (https://edition-humboldt.de/H0016427) sowie die Vorlesungen in der Berliner Universität (5. und 56. Stunde) und in der Sing-Akademie (9. Stunde): http://www.deutschestextarchiv.de/kosmos/gliederung.[90] Vgl. Candolle 1820; Schouw 1823.[91] Vgl. dazu und zum Folgenden die „Dokumente zur Neuausgabe der Ideen zu einer Geographie der Pflanzen – Einführung“ in der vorliegenden Edition: https://edition-humboldt.de/H0016420.[92] Vgl. den Vertragstext in der vorliegenden Edition: https://edition-humboldt.de/H0016424.

35Eine umfangreiche, zum großen Teil erhaltene Materialsammlung zu diesem Buchprojekt liegt in der edition humboldt digital nun erstmals ediert vor. Sie erlaubt eine Rekonstruktion der kollaborativen Arbeitsweise Humboldts und Kunths. Die meisten der Exzerpte, Notizen und Briefe sind um ein achtseitiges Exposé herum angeordnet. Diese Übersicht aus der Feder Kunths zeigt klar, dass die maßgeblich von Humboldt entwickelte botanische Arithmetik die Ausgangsfragen der neuen Ausgabe bereitstellte (Bl. 2–5): Wie viele Pflanzenarten gibt es auf der Erde? Wie viele Arten gibt es in jeder Gattung? Welche geographischen Verbreitungsmuster der Klassen, Familien und Arten können ermittelt werden? Welche Arten gehören nur bestimmten Kontinenten, Regionen und Zonen an? Welche sind allen Kontinenten gemein? Die weiteren Stichpunkte der Übersicht verweisen auf weltweite Regionalfloren, die seit 1807 erschienen waren, sowie auf zahlreiche unveröffentlichte Manuskripte, die Humboldt von Botanikern und Reisenden erhalten hatte (Bl. 5–8). In einer im Herbst 1826 auf Französisch und Deutsch erschienenen Ankündigung des Werkes stellte Humboldt das Buch als Teil des Reisewerks vor.[93] Die Pflanzengeographie definierte er darin als eine „gemengte Wissenschaft“ – die numerische Ermittlung von Verteilungsmustern konnte nur zum Erfolg führen, wenn „die Geographie der Pflanzen […] zugleich von der beschreibenden Botanik, der Meteorologie und der eigentlichen Geographie Hülfe entlehnt“.[94] Die botanische Arithmetik war grundlegender Bestandteil des geowissenschaftlichen Methodenarsenals geworden, ersetzte es aber nicht.[93] Vgl. die Dokumente in der vorliegenden Edition: Französische Ankündigung der „Géographie des plantes rédigée, d’après la comparaison des phénomènes que présente la végétation dans les deux continens“ (https://edition-humboldt.de/H0016426), Deutsche Ankündigung der „Geographie der Pflanzen nach der Vergleichung der Erscheinungen, welche die Vegetation der beiden Festlande darbietet“ (https://edition-humboldt.de/H0016428)[94] Vgl. Humboldt 1826b.

36Die große Zahl neuerer weltweit erhobener botanischer Daten und die Ausdifferenzierung der methodischen Ansätze hatten den Gedanken einer Neuausgabe der Ideen reizvoll erscheinen lassen. Am Ende gelang es Humboldt und Kunth jedoch nicht, ein Werk zu schaffen, das den botanischen Teil des Reisewerks in einer großen Synthese zusammenfassen und zugleich – wie es 1807 gelungen war – neue Impulse für die künftige biogeographische Forschung geben konnte. Schon im Juni 1826 signalisierte Kunth aus Paris in einem Schreiben an Johann Friedrich von Cotta, der eine deutsche Ausgabe plante, dass das neue Buch weitgehend mit dem ursprünglichen Werk identisch sein würde.[95] Nachdem sich Humboldt 1827 dauerhaft in Berlin niedergelassen hatte, erwähnte er die Neuausgabe zwar noch vereinzelt.[96] Doch auch als Kunth ihm 1829 dorthin gefolgt war, griffen sie das Projekt nicht wieder auf.[95] Kunth an J. F. von Cotta, Paris, 10. Juni 1826, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Cotta:Briefe (Kunth, Carl Sigismund, 1825–1833).[96] Vgl. z. B. Humboldt an Altenstein, Berlin, 5. September 1828, Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Sgl. Autographa.

Zurück zu den Wurzeln

37Die Verlagsankündigung von 1826 markiert in den pflanzengeographischen Forschungen Humboldts einen publizistischen Schlusspunkt; sie war seine letzte monothematische Veröffentlichung zu dieser Disziplin. Gleichwohl blieb die Biogeographie in seiner wissenschaftlichen Korrespondenz und in der Lektüre nach wie vor ein Interessenschwerpunkt, wie die umfangreichen Kollektaneen sowohl zur Pflanzen- als auch zur Tiergeographie in Humboldts Nachlass zeigen.[97] Der für den fünften Band des Kosmos geplante Abschnitt zu diesem Themenfeld kam durch den Tod des Autors nicht mehr zustande.[98] So erschien in der dritten Auflage der Ansichten der Natur (1849) die letzte längere Passage Humboldts zur Geographie der Pflanzen: Eine 32 Seiten lange Fußnote erläutert die 1806 erstmals veröffentlichten „Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse“.[99] Diese Anmerkung propagiert erneut den Ansatz der botanischen Arithmetik unter Verwendung langer Passagen des Aufsatzes „Neue Untersuchungen über die Gesetze, welche man in der Vertheilung der Pflanzenformen bemerkt“ von 1821.[100] Zudem greift sie auf neuere Forschungen und statistische Erhebungen zurück, die Humboldt seinem Assistenten Kunth verdankte.[101] Essay und Fußnote verbinden Empirie und Ästhetik, arithmetisches Verfahren und Anschauung, und vereinen so noch einmal die beiden Pole der Pflanzengeographie Humboldts.[97] Vgl. die SBB-PK, Handschriftenabteilung, Nachlass Alexander von Humboldt, gr. Kasten 6, Nr. 31–84; gr. Kasten 12, Nr. 90–142; gr. Kasten 13, Nr. 20–70.[98] Vgl. Werner 2004, 55.[99] Humboldt 1849, II, 118–150; Humboldt 1849, II, 1–248 („Erläuterungen und Zusätze“: 42–248). Humboldt hatte diesen Essay 1808 in die erste Auflage der Ansichten übernommen (Humboldt 1808, I, 157–278).[100] Humboldt 1849, II, 122–139. Vgl. Humboldt 1821a. Humboldt weist nicht auf diese Übernahme hin.[101] So ein Vortragsmanuskript Kunths zur Artenvielfalt des Berliner Botanischen Gartens (https://edition-humboldt.de/H0015190), vgl. Humboldt 1849, II, 140–141. Vgl. auch Humboldts Fragenkataloge und Kunths Antworten aus den Jahren 1848 und 1849: Humboldt an Kunth, Potsdam, Freitag [24. November 1848] (https://edition-humboldt.de/H0000608); Kunth an Humboldt, Berlin, [nach 24. November 1848] (https://edition-humboldt.de/H0015156); Humboldt an Kunth, [Berlin], [Anfang 1849] (https://edition-humboldt.de/H0002924) sowie Kunths Berichtigungen und Ergänzungen zu Band 2 der Ansichten der Natur, 3. Auflage (Anfang 1849) (https://edition-humboldt.de/H0005459).

38Humboldt hatte die Geographie der Pflanzen als ein (Teil-)Projekt weltweiter wissenschaftlicher Datensammlung und -vernetzung konzipiert. Die nun in der edition humboldt digital vorliegenden Schriften, Korrespondenzen, Exzerpte und Manuskripte aus den Jahren 1791 bis 1849 dokumentieren diese kollaborative Forschungspraxis der Humboldt’schen „physique du monde“. Nachdem so tatsächlich nahezu „alle Winkel des Erdballs durchsucht“[102] waren, verlieh Humboldt 1845 im ersten Band des Kosmos der eingangs zitierten Sentenz seines Lehrers Willdenow eine neue, forschungsoptimistische Wendung:[102] Willdenow 1792, 148.

Pflanzen- und Thier-Gebilde, die lange isolirt erschienen, reihen sich durch neu entdeckte Mittelglieder oder durch Uebergangsformen an einander. Eine allgemeine Verkettung, nicht in einfacher linearer Richtung, sondern in netzartig verschlungenem Gewebe, nach höherer Ausbildung oder Verkümmerung gewisser Organe, nach vielseitigem Schwanken in der relativen Uebermacht der Theile, stellt sich allmälig dem forschenden Natursinn dar.[103] [103] Humboldt 1845–1862, I, 33.

Anmerkungen

Die Erstellung der Datenbestände der edition humboldt digital ist ein fortlaufender Prozess. Umfang und Genauigkeit der Daten wachsen mit dem Voranschreiten des Vorhabens. Ergänzungen, Berichtigungen und Fehlermeldungen werden dankbar entgegengenommen. Bitte schreiben Sie an edition-humboldt@bbaw.de.

Zitierhinweis

Päßler, Ulrich: Im „freyen Spiel dynamischer Kräfte“ . Pflanzengeographische Schriften, Manuskripte und Korrespondenzen Alexander von Humboldts. In: edition humboldt digital, hg. v. Ottmar Ette. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. Version 9 vom 04.07.2023. URL: https://edition-humboldt.de/v9/H0016431


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Über den Autor

 

Ulrich Päßler

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

paessler@bbaw.de

Ulrich Päßler, geb. 1975. Studium der Neueren und Neuesten Geschichte sowie der Politikwissenschaft in Tübingen, Freiburg i. Br. und Amherst/Massachusetts. 2007 Abschluss der Promotion an der Universität Mannheim. Seit 2015 Mitarbeiter im Akademienvorhaben „Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung“.