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Einleitung

1 Die Amerikareise von Alexander von Humboldt wird als ein Höhepunkt im Jahrhundert der wissenschaftlichen Forschungsreisen (von Bougainville bis Darwin) bezeichnet. Diese Phase hatte die der reinen Entdeckungsreisen abgelöst und war gekennzeichnet durch die Erforschung und Vermessung fremder Länder, den Gebrauch moderner Instrumente, neue taxonomische Systeme, z. B. in der Biologie durch Linné, um die Fülle der gesammelten Objekte zu klassifizieren. So sah Humboldt den Hauptzweck seiner Amerikareise darin, „Tatsachen zur Erweiterung einer Wissenschaft [zu] sammeln, die noch kaum skizziert ist und ziemlich unbestimmt bald Physik der Welt, bald Theorie der Erde, bald Physikalische Geographie genannt wird.“[1] Deshalb sei die Erkundung und Vermessung gerade des Inneren der bereisten Länder wichtig, wodurch sich neue Forschungsfragen ergaben, wie z. B. die Abhängigkeit der Messungen von der Höhe, der Temperatur oder der Refraktion. Humboldt beschrieb die Probleme, unter schwierigsten Bedingungen bei seinen Expeditionen, insbesondere den Flussreisen, Instrumente zu transportieren und zu benutzen und fügte hinzu: „[…die] Wahl der Instrumente wird nicht allein durch den Zweck bestimmt, den man erreichen will, sondern auch durch die Lage, in welcher man zu beobachten hat.“[2][1] Humboldt 1991, I, 10–15.[2] Humboldt/Oltmanns 1810, I, xxj.

2All dies widerspiegelt sich in Humboldts Amerikanischen Reisetagebüchern (ART), von denen der erste Band, ART I, hier neu und das erste Mal vollständig veröffentlicht wird.[3][3] Für umfangreiche und uneigennützige Hilfe und Unterstützung, ohne die weder die Arbeit an ART I noch diese Einleitung möglich gewesen wäre, danke ich ganz besonders folgenden Personen: Eberhard Knobloch (BBAW, Berlin), Oliver Schwarz (Universität Siegen), Sandra Balck, Carmen Götz, Regina Mikosch, Ulrich Päßler, Tobias Kraft, Ingo Schwarz und den weiteren Mitarbeitern der Arbeitsstelle »Alexander von Humboldt auf Reisen - Wissenschaft aus der Bewegung« sowie für technische Unterstützung Christian Thomas und den Mitarbeitern der Arbeitsstelle Telota, sowie Laurence Barbasetti (Berlin) und Karin Göhmann (Berlin).

Unordnung in den Tagebüchern

3Die Tagebücher spiegeln das Wesen der Reise selbst wider: Umwege, scheinbar zielloses Getriebensein, Fragmentarisches …. Das Moment des Unvorhersehbaren einer Forschungsreise zwangsläufig in sich tragend wirken sie wie ein Flickenteppich. Die Herausgeber muss die in diesem scheinbaren Stückwerk durchaus vorhandene Systematik erkennen.

4Man findet eine Mixtur aus chronologischen Expeditionsbeschreibungen, Messreihen, Literaturauszügen, wissenschaftlichen Schlussfolgerungen, persönlichen Beobachtungen und Reflexionen. Vieles davon ist bisher unpubliziert.[4] Es ist eine Materialsammlung für seine geplante Edition[5], ein wissenschaftliches Journal oder eine Sammlung von Protokollen der Untersuchungen der Natur. Die Humboldt’schen Reisejournale sind auch Abbild seines Arbeitsstils und der für ihn typischen Wissensorganisation. Spezifisch ist eine vernetzte Textstruktur, die sie besonders für eine digitale Edition prädestiniert: erstens Querverweise innerhalb der Texte selbst, zweitens zwischen den Texten der verschiedenen von ihm während der Reise geführten Hefte, sowie drittens mit weiteren handschriftlichen Texten wie Nachlass und Korrespondenz. Neben dem Haupttext, der auf verschiedenen Seiten manchmal hin- und her-, oder vor- und zurückspringt, gibt es unzählige Randbemerkungen, wobei hier oft die Hierarchie unklar ist. Nicht nur wechselt Haupttext mit Nebentext in den Randbemerkungen, sondern manchmal sind Randbemerkungen ebenfalls als Haupttext zu werten, d. h. zwei hierarchisch gleichwertige Texte laufen parallel. Mehr noch: Es gibt Fälle, in denen ein Haupttext bei seiner Fortsetzung auf einer anderen Seite plötzlich zum Text am Rand, also Nebentext, mutiert, oder umgekehrt.[4] Margot Faak hat in ihrer Edition Humboldt 2000 die reiseschildernden Teile aus den verschiedenen Tagebücher zusammengestellt.[5] Das französische Reisewerk erschien unter dem Gesamttitel: Voyage aux régions équinoxiales du nouveau continent fait en 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 et 1804, par Al. de Humboldt et A. Bonpland. 6 Partien in 29 Bänden von 1805 bis 1839.

5Hinzu kommt der unterschiedliche Grad der Bearbeitung durch Humboldt, der sich im Schreibstil der einzelnen Texte äußert. Viele Notizen, beispielsweise Messergebnisse, wurden zeitnah an Ort und Stelle in das Tagebuch eingetragen, andere, wie die daraus resultierenden Berechnungen, zu einem späteren Zeitpunkt der Reise. Humboldt beschrieb später seine Vorgehensweise wie folgt:

Während unserer Reisen auf den südamerikanischen Strömen und über Land führte ich allerdings ein wenn auch kurz gefaßtes Reisetagebuch; auch beschrieb ich in der Regel, und meist an Ort und Stelle, die Exkursionen […] Allein, dies Tagebuch ward jedesmal unterbrochen, sobald ich mich in der Stadt befand oder durch andere Beschäftigungen an der Fortsetzung […] gehindert wurde […] Meine einzige Absicht dabei war, einige der zerstreuten Ideen festzuhalten, die sich einem Naturforscher, der fast beständig im Freien lebt, darzubieten pflegten, eine Vielzahl von Tatsachen, die ich aus Mangel an Zeit nicht ordnen konnte, vorläufig aufzuzeichnen, und schließlich die ersten angenehmen oder widrigen Eindrücke, welche Natur und Menschen auf mich machten, zu beschreiben.[6] [6] Humboldt 1991, I, 31.

6Jabbo Oltmanns hat dann nach der Rückkehr die astronomischen und geodätischen Beobachtungen neu bzw. überhaupt erst berechnet und in der astronomischen Partie des Reisewerks (deutsch[7] und französisch[8] jeweils in zwei Bänden) publiziert. Humboldt überließ ihm in Paris seine Aufzeichnungen mit den Messdaten, nach denen dieser die Berechnungen der Längen-, Breiten- und Höhenangaben anstellte. So findet man in den Tagebüchern neben Humboldts Notizen auch Randbemerkungen von Oltmanns, und es ist zu vermuten, dass auf diesem Weg der Bearbeitung einige Notizen verloren gingen. Ein Hinweis hierauf ist folgende Notiz: „Die 6 fehlenden Blätter enthalten Astronomica, p. 101–112 incl. habe ich zu mir genommen. Oltmanns.“[9][7] Humboldt/Oltmanns 1810.[8] Humboldt 1808–1811.[9] ART II u. VI, Bl. 162v.

7Die Astronomiebände des Reisewerks enthalten, so Humboldt, „Originalbeobachtungen, […] barometrische Höhenbestimmungen […] fast 700 Ortsbestimmungen des Neuen Kontinents, wovon 235 durch meine eigenen Beobachtungen, nach den Koordinaten der Länge, Breite und Höhe, bestimmt worden sind.“[10] In den meisten Fällen hat Humboldt aus den Messungen bereits unterwegs die Höhen- oder Ortsbestimmungen selbst berechnet: [10] Humboldt 1991, I, 23.

Zwey Dritteile der Beobachtungen hatte ich in America selbst vorläufig berechnet […]. Wenn die von mir in Briefen mitgetheilten Längen von denen abweichen, bei denen Herr Oltmanns stehen bleibt; so liegt der Grund darinn, dass mein Freund alle Beobachtungen zugleich in Rechnung genommen hat, und dass er mit der Schärfe des gelehrtern und geübtern Rechners verfahren ist.[11] [11] Humboldt/Oltmanns 1810, I, viij.

8Weitere Ergebnisse sind in andere Bände des Reisewerks eingeflossen. So gibt es in der französischen Fassung der Relation historique[12] neben der eigentlichen Reiseschilderung die ‚Notes‘, eigenständige Essays zu den Themen: Erscheinungen während der Sonnenfinsternis, Intensität und Flimmern des Sternenlichts, Abweichungen der Beobachtungen durch Refraktion, meteorologische Beobachtungen u. a. Da diese in den deutschen Übersetzungen der Reiseschilderung fehlen, blieben sie weitgehend unbekannt. Hier kann man, ebenso wie auch in den Fußnoten der populären Ansichten der Natur[13], zahlreiche Messungen und Beobachtungen aus den Tagebüchern wiederfinden.[12] Humboldt 1814–1825.[13] Humboldt 1808.

9Bei den überlieferten und uns heute bekannten Reisetagebüchern handelt es sich allerdings nicht um die originalen Hefte, die Humboldt während seiner Reisen und Aufenthalte in Amerika beschrieb. Diese hatte er nämlich offenbar nach der Rückkehr für seine Publikationen auseinander genommen und gegen Ende seines Lebens in 9 Bände neu binden lassen, in der Form, die wir heute kennen.[14] Dadurch ging nicht nur die ursprüngliche Ordnung verloren, sondern offensichtlich fehlen auch Teile. Das belegen Neuentdeckungen im Humboldt-Nachlass der Biblioteka Jagiellońska (etwa die sogenannten Mexiko-[15] und Kuba-Tagebücher[16]) und in Berlin (Spanien-Tagebuch[17]), Sprünge innerhalb der Seitenzählung und die bereits erwähnte Notiz von Oltmanns über die Entnahme von Seiten.[14] Erdmann/Weber 2015.[15] Humboldt 2005.[16] Alexander von Humboldt: Isle de Cube. Antilles en général.[17] Humboldt 2012b.

10Andererseits befinden sich in den Reisejournalen heute wesentlich mehr Informationen als zur Zeit der Reise. Briefe, Literaturauszüge und Manuskripte anderer Wissenschaftler, Quellen für seine Werke, Entwürfe für eigene Manuskripte hat Humboldt offenbar für eine spätere Verwendung hinzugefügt.

11Nach 1945 galten die Tagebücher lange als verschollen. Sie wurden 1957 aus der Sowjetunion, wo sie neu foliiert worden waren, in die DDR zurückgegeben. Dort lagen sie in der Staatsbibliothek der DDR, bis sie 1990 die Eigentümer, die Nachkommen der Familie von Wilhelm von Humboldt auf Schloss Tegel, zurück erhielten. Von ihnen erwarb sie 2013 die heutige Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, die – neben der Biblioteka Jagiellońska in Krakau – den Humboldt-Nachlass verwahrt.[18][18] Genauer zur Geschichte von Nachlass und Tagebüchern vgl. Erdmann/Weber 2015.

12Heute kann man nur aus Indizien wie dem Vergleich zwischen der Humboldt’schen Paginierung und der Moskauer Foliierung auf die ursprüngliche Anordnung schließen. Weitere Hinweise liefert der „Index général“,[19] den Humboldt nach der Rückkehr von der Amerikareise, am 4. Dezember 1805, als eine Art Register zu seinen Tagebüchern verfasste, vermutlich um sich selbst den Zugang zu seinen Notizen für seine Publikationen zu erleichtern. Hier findet man auf der ersten Seite eine knappe Gesamtübersicht über die ursprünglichen Hefte, Vol. I bis V und IX bis XIV (offensichtlich fehlen die Nummern VI bis VIII in dieser Aufzählung), und die sog. Collectanea A, B, C, D und G sowie auf den folgenden 24 Seiten einen alphabetischen Index. Es scheint ursprünglich neben einer chronologischen auch eine systematische Ordnung gegeben zu haben. Beides ist jetzt kaum noch sichtbar. Der originale Inhalt anhand der Humboldt’schen Paginierung kann vollständig erst nach der gesamten Neuedition aller Tagebücher rekonstruiert werden.[19] ART V, Bl. 37r (unpubliziert).

13In der folgenden Tabelle ist eine Gesamtübersicht versucht worden: in der linken Spalte befindet sich Humboldts Liste im „Index général“, in der rechten die Zuordnung zu den heutigen Tagebüchern, soweit möglich:

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Humboldts ursprüngliche Tagebücher Heutige Tagebücher in 9 Bänden (Inhalt nach Humboldts Aufschriften)
Vol. I. Cumaná, 3.6.–18.11.99. I. Voyage d’Espagne aux Canaries et à Cumana. Obs[ervations] astron[omiques] de Juin à Oct. 1799.
Vol. II. Caracas 18.11.99–22.11.1800. III. Voyage de Cumaná à Caracas, Calabozo et San Fernando de Apure de Nov. 1799 à Mars 1799
Vol. III. Caripe du 4–23.9.99. II u. VI. 1) Voyage a Caripe 1799, [...]
Vol. V. l’Orénoque. IV. Journal de la navigation sur l’Apure, l’Orénoque, le Cassiquiare et le Rio Négro (Voy[age] par les
Llanos de Caracas à S. Fernando de Apure) Statistique de Cumaná P[un]ta Araya.
II u. VI. 2) Obs[ervations] astr[onomiques] Apure - Orénoque p. 86–98;
Vol. IV. Voy[age] à la Havane du 24 Nov. V. Reise von Cumana nach der Havana
(Altes vor der Reise Dresden, Wien, Salzburg).
II u. VI. 3) Batabano (Cuba) à Sinú[,] Carthagène et Turbaco 1801;
? VII a u. b. Rio de la Magdalena - Bogota - Quindiù - Popayan - Quito (Antisana, Pichincha) [...]
? VII bb u. c. Quito [...] - Alausi - Assuai - Cuenca - Loxa - Amazone - Caxamarca - Lima - [...] Popayan - Almager.
Pasto - Quito (Los Pastos, Cumbal) Roches envoyées à Madrid, p. 5–8. Voyage a Almaguer […]
II u. VI. 4) Quito 1802 Meteor[ologica];
Vol. IX. signifie le Voy[age] au Mexique. VIII. Voyage de Lima à Guayaquil [...]; Voyage de Guayaquil à Acapulco [...]; Observations astronomiques
du Mexique [...]; Chronologie de mes voyages; Les 2 Volcans de la Puebla [...]; Voyage d’Acapulco à Mexico [...];
Pachuca, Real del Monte [...].
IX. Varia: Obs[ervations] astron[omiques] de Mexico a Guanaxuato, Jorullo, Toluca, Veracruz, Cuba,
Voy[age] de la Havane à Philadelphia. Geologie de Guanaxuato, Volcans de Jorullo et de Toluca.
Voyage de la Veracruz à la Havane et de la Havane à Philadelphie. [...]
Vol. X. le Vol. des Résultats ?
Vol. XI. comencé le 20 Oct. 1798 [Abreise von Paris] II u. VI. 5) De Paris à Toulon Oct. 1798.
Vol. XII. le 12 Mars 1805 [Abreise nach Rom] II u. VI. 6) Voy[age] d’Italie avec Gay Lussac. Obs[ervations] magn[étiques] 1805.
Vol. XIII. de Phil[adelphia] à Bordeaux. ?
Vol. XIV. commencé à Come.[10.–14.10.1805 Rom-Berlin]
Feuilles Collectanea A.B.C.D première Année.
G le petit Cahier fait à Göttingue en 1805.

14Das heutige Tagebuch I entspricht demnach im Wesentlichen dem ursprünglichen Vol. I, bis auf die Exkursionsberichte ins Inland. Diese stehen in anderen Tagebüchern, aus denen sie Faak in ihre Edition[20] übernommen hat: von Cumaná nach Caripe in Band II u. VI, die Reise von Cumaná nach Caracas, der Aufenthalt dort, der Aufbruch zur Orinocoreise über Villa de Cura und Valencia, Calabozo (mit Beschreibung der Zitteraale) in Band III. Die eigentliche Orinocoreise ist Tagebuch IV vorbehalten. Das „livre des résultats“ (ursprünglich Vol. IX), auf das Humboldt in ART I mehrfach verweist, scheint auseinander genommen und anderen Tagebüchern hinzugefügt oder von Oltmanns entnommen worden zu sein.[20] Humboldt 2000.

ART I

15Der erste Band der Tagebücher ist auf dem Einband von Humboldts Hand betitelt: „I Voyage d’Espagne aux Canaries et à Cumaná. Obs[ervations] astr[onomiques] de Juin à Oct. 1799“. Er scheint derjenige zu sein, dessen Nummer in heutiger Bandzählung (d. h. nach Humboldts Neubindung) mit dem ursprünglichen (also Volume I bei Humboldt) am ehesten übereinstimmt.[21] Diese Tatsache legitimiert die Entscheidung, diesen Band als geschlossene Einheit in ART I zu edieren. Zudem weicht er durch einige inhaltliche Eigenschaften von den Folgebänden ab: [21] Mit Sicherheit lässt sich das allerdings nur für den ersten Teil (d. h. „Voyage d’Espagne aux Canaries et à Cumaná“) sagen; der zweite Teil („Obs[ervations] astr[onomiques] de Juin à Oct. 1799“) könnte zumindest teilweise auch aus dem „Volume des résultats“ (ehemals Band X), stammen, dessen Verbleib unbekannt ist.

  1. Er enthält vergleichsweise viele Messungen und Beobachtungen über die Qualität der Instrumente sowie Diskussionen über die verwendeten Karten. Da das Einmessen und Testen bzw. Überwachen der Instrumente zum Handwerkszeug eines jeden wissenschaftlichen Beobachters zählt, hat Humboldt vermutlich auch deshalb hier mehr zu diesem Themenkreis geschrieben, da er (trotz der intensiven Vorbereitungszeit) noch etwas ungeübt und auch der beobachtete und vermessene außereuropäische Raum neu für ihn war. Später führte er die Messungen natürlich routinierter durch und zudem hatte er auf der langen Seereise viel Zeit und wenig Ablenkung.
  2. Der Band enthält auf Bl. 37r–41v unter dem Titel „Plantes de Cumaná“ ca. 70 umfangreiche Beschreibungen von Pflanzen in Cumaná, nach Form und Gestalt, dem Verbreitungsgebiet, den Lebensbedingungen und teilweise der Nutzbarkeit für den Menschen in lateinischer Sprache, nicht fortlaufend nummeriert und mit Querverweisen auf Bonplands Journal botanique, das dieser separat führte.[22] [22] Vgl. den Beitrag von Carmen Götz "Linnés Normen, Willdenows Lehren und Bonplands Feldtagebuch. Die Pflanzenbeschreibungen in Alexander von Humboldts erstem Amerikanischen Reisetagebuch".

16Im Folgenden wird gezeigt, wie sich die verschiedenen Reiseetappen durch das heutige Venezuela in ART I widerspiegeln.

17Auf der ersten Seite finden sich eine Tabelle mit den Messungen der Jupitertrabanten, Längengrade der ersten Expedition nach Caripe und Literaturauszüge. Auf Bl. 2r (bei Humboldt p. 1) beginnt die Reisebeschreibung, überschrieben mit: „An Bord der Pizarro am 8. Juni 99“ von der Abreise in La Coruña, über den Aufenthalt auf Teneriffa, dann die Seereise bis zur Landung in Cumaná (damals Vizekönigreich Neugranada, heute Venezuela). Diese Beschreibung geht etwa bis Bl. 31r (Humboldt’sche Zählung: p. 1–63). Diese Seiten enthalten neben der eigentlichen Reiseschilderung bereits umfangreiche Messungen (Längen- und Breitengrade, Klima, Luft- und Meerwasseruntersuchungen u. a.). In einem zweiten Teil (wie ja schon Humboldts Aufschrift zeigt) folgen weitere Messungen, thematisch gesammelte Notizen und wissenschaftliche Abhandlungen. Jedoch handelt es sich bei den Daten um mehr als nur die für Ortsbestimmungen notwendigen Messreihen, und auch entgegen Humboldts Aufschrift spätere Messungen als nur die bis Oktober 1799. Offenbar beinhaltet ART I in diesem Teil Humboldts Aktivitätenprotokolle während seiner drei Aufenthalte in Cumaná:

  1. nach der Ankunft 16.7.–3.9.1799,
  2. nach der Exkursion ins Innere des Landes 24.9.–18.11.1799,
  3. nach dem Besuch in Caracas und der Orinocoreise 27.8.–16.11.1800.

18Dieser Teil enthält astronomische, meteorologische und geographische Messungen, Beschreibungen der Messinstrumente und Untersuchungen mit detaillierten Angaben, insbesondere zur Sonnenfinsternis am 28. Oktober 1799 und den Jupitertrabantenmessungen.

19Neben der Reiseschilderung und den Messreihen, letztere oft in mehrseitigen Tabellen, gibt es in ART I wissenschaftliche Abhandlungen, die in ausgefeiltem, fast schon publikationsreifem Stil Ergebnisse zusammenfassen, meist unter einem Titel. Sie betreffen fast alle Wissensgebiete: Astronomie, Meteorologie, barometrische und hygrometrische Messungen, Geologie, Geographie, Wirtschaft und Handel, Botanik und Pflanzengeographie usw. Dazu gehören beispielsweise:

  • Geognosie von Amerika, eine geographisch-geologische Übersicht über den nördlichen Teil Südamerikas mit Hypothesen zur Entstehung der örtlichen Küstenlinien und den Bergketten. (Bl. 32r–33r)
  • Provinz Cumaná und Barcelona, eine geologische Beschreibung der südlichen und nördlichen Küstenkordillere der genannten Provinzen. (Bl. 56v)
  • Geographie, eine Aufzählung von Flüssen und Ortschaften der Provinzen Cumaná und Nueva Barcelona, die dem Gouverneur von Cumaná unterstanden, mit historischen Notizen zur Einrichtung der Capitania general und der Audiencia in Caracas 1777 und 1788 (Bl. 47r–v).
  • Sur la lumière des étoiles du Sud, über Lichtintensität des südlichen Sternenhimmels, und deren Schönheit, die sich auf die Anordnung der Sternbilder gründe. Zur Messung der Lichtintensität schlug Humboldt hier ein Messgerät und eine spezielle Skalierung vor.[23][23] Diese Messungen nahm Humboldt in Note C der Reisebeschreibung („Essais pour déterminer l’intensité relative de la lumière des étoiles“) auf. Humboldt 1814–1825, I, 624–625.
  • Geschichte und Geographie der Pflanzen. Akkerbau, über den Unterschied in der Ernährungsweise der Menschen weltweit und den Einfluss des Klimas auf den Anbau von Pflanzen, sowie die historische Rolle der Missionen bei der Kultivierung des Landes. (Bl. 50r–55v)
  • Observations de réfraction terrestre, Zusammenfassung der von Humboldt im Zusammenhang mit der Strahlenbrechung beobachteten Phänomene. (Bl. 93v, 75v und 76r)
  • Erdbeben in Cumaná, Berichte Einheimischer über Erdbeben sowohl aus dem 16. Jahrhundert als auch aus jüngerer Zeit (1766 und 1797).

20Im Folgenden wird zum besseren Verständnis ein erster Versuch einer Inhaltsanalyse vorgestellt.[24][24] Diese kann, wegen der Spezifik der Tagebücher, nur andeutungsweise die Seiten den Daten der Reise zuordnen, denn manche Seiten enthalten undatierte Notizen oder Notizen zu unterschiedlichsten Zeiträumen, insbesondere die Messungen und Experimente während der drei Aufenthalte in Cumaná.

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Datum Inhalt Bl.-Nr. ART I
sowj. Zählung
Bl.-Nr. ART I
Humboldts Seiten­zählung
Andere Tage­bücher[25] Faak-Edition[26] Messungen aufge­nommen in
Astro­nomie[27] auf den Seiten
5.–19.6.1799 Seereise von La Coruña nach den Kanaren 2r–16v 1–34 Kap. 2 25, 34
19.6.–25.6.1799 Aufenthalt auf Teneriffa 17r–19v, 66r 35–40, 135 einzelne Seiten aus III u IX Kap. 2 29–32, 34
25.6.–13.7.1799 Überfahrt von Santa Cruz de Tenerife nach Cumaná 20r–24r 41–48 Kap. 3
14.–15.7. Landsichtung u. Fahrt entlang der Küste 24v–31r 49–63 35–44
16.7.–18.11.
1799
1. Aufenthalt in Cumaná 31v–33r, 77r–86v, 96r–v 64–67 Kap. 4 46–50, 63–66
19.–20.8. Exkursion auf die Halbinsel Araya 62r–65r 128–134 95
4.–24.9.1799 Exkursion nach Caripe und in die Guácharo­höhle II u. VI,112r–131r, 137r, 155r–157r, 162r
III, 4v
Kap. 5 96–108
24.9.–18.11.
1799
2. Aufenthalt in Cumaná 33r–57r, 86v–96v 68–118, 180–196 III, 58r–v Anhang 2 44, 50–55, 66–82
18.–21.11.
1799
Von Cumaná nach Caracas III, 1v–5v, 7r–9v Kap. 6 109
22.11.
1799–7.2.1800
Aufenthalt in Caracas 55v–56r 115–116 III, 7v–10r, 37v–45r, u. einzelne Seiten Kap. 7 111–135
8.2.–5.3.1800 Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello III, 10–36 u. einzelne Seiten V, 21r–29v Kap. 8 u. Anhang 3 145–162
6.3.–27.4.1800 Durch die Llanos nach San Fernando de Apure III, 36r–v, 96r–v u. einzelne Seiten
IV, 1r–10v u. einzelne Seiten
Kap. 9 163-165
7.5.–26.6.1800 Von San Fernando auf dem Apure, Orinoco, Atabapo, Río Negro und zurück 57v–61v, 66v–69v 121–129, 136–142 IV, 16r–175v
II u. VI, 92v–87v
III, 68r–69v
Kap. 10–11 167–225
23.7.–26.8.1800 Nueva Barcelona 56v 117 203
27.8.–16.11.
1800
3. Aufenthalt in Cumaná 57r, 72v–95r 118, 150–195 44, 56–61, 85
17.11.–19.12.
1800
Abreise nach Barcelona und Überfahrt nach Cuba V, 1r–20r u. einzelne Seiten
VII bb u. c, 457r–467v
Kap. 12 56–62

Orte und Ortsbestimmungen

21Während seiner Amerikareise gab es für Humboldt immer wieder besonders wichtige Orte, deren Bedeutung sich an der Vielzahl der Längen- und Breitengradmessungen widerspiegelt, die er an diesen Punkten zur präzisen Ortsbestimmung vornahm.

22Bei der astronomischen Länge musste, um Missverständnisse auszuschließen, immer der Bezugspunkt, d. h. der Nullmeridian, angegeben werden, der verständlicherweise besonders präzise vermessen sein musste. Das war für viele Reisende der wichtige spanische Hafen Ferrol[28], den auch Humboldt im Tagebuch erwähnte.[28] Vgl. Humboldt/Oltmanns 1810, I, 28.

23Humboldt selbst hatte in La Coruña das letzte Mal auf spanischem Festland Messungen vorgenommen[29], vor allem, um noch einmal die Genauigkeit seines Chronometers zu überprüfen. Der Längenunterschied zu Ferrol war jedoch bekannt, so dass man von einem auf den andern Bezugspunkt schließen konnte.[30] Für Humboldt war unterwegs Madrid der Bezugsmeridian. So notierte er es im Tagebuch:[29] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 25.[30] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 26.

Mon Chronomètre et par conséquent tous mes Observat[ions] de longit[ude] ne donnent […] que des différ[ences] de méridiens avec Madrid. S’il est question de long[itude] depuis Paris c’est sous la supposition que Madrid est à 24’ 8’’ de Paris à l’ouest. (Bl. 81v)

24Für andere war oft Cadiz der Bezugspunkt für geographische Längen, weshalb Oltmanns die Abstände zwischen den Orten aus anderen Messungen auch diskutierte.[31][31] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 26.

Abreise

25Die Abreise aus Spaniens Hafen La Coruña am 5. Juni 1799 war in Anbetracht der jahrelangen Reisevorbereitungen verständlicherweise aufregend: „Ich dachte bei mir selbst, wie wichtig gerade der Augenblik des Absegelns (das Auslaufen aus dem Hafen) sei […] Mein Auge war fest auf die Küste geheftet.“ (Bl. 2v)

26Schon am nächsten Tag war

[k]eine Spur der Küste natürlich mehr sichtbar. Ein kalter heiterer Tag. Th[ermometer] 10° Himmel sehr blasblau u. weil man keine Gegenstände gegen den Horizont hin sieht, sehr kugelförmig, nicht gedrükt wie auf festem Lande. Ich beobachtete zum ersten Mal den Mittag auf dem Meere und fand viel Schwierigkeit wegen Schwankungen des Schifs um den Punkt des Hor[izonts] der vertical unter der ☉[=Sonne] steht […] (Bl. 3r)

27Damit begann der Alltag mit den unzähligen Messungen, die besonders typisch für die Überfahrt, aber dann auch für die gesamte Reise sind.

Kanaren

28Am 17. Juni 1799 nahm man von fern die kanarischen Inseln wahr. Der Pilote, an Bord zuständig für die Navigation, befürchtete, die Insel Lancerote nicht zu finden (Bl. 8r), und in der Tat landete man kurz auf der Graciosa, wo Humboldt besonders das vulkanische Gestein faszinierte. Dieses Erlebnis zeigte deutlich, wie wichtig präzise Karten und gute Messungen von Länge und Breite waren (Bl. 10r–v).

29 Weiter auf dem Schiff fertigte Humboldt dann von ferne Profilzeichnungen von Teneriffa an (Bl. 9v) und beschäftigte sich mit der Frage, aus welcher Entfernung man den Pico de Teide sehen konnte (Bl. 14r–v), der immerhin eine Höhe von 3718m[32] hat – ein „Streit, der in der Nähe der Kanarien alles Schiffvolk beschäftigt“ (Bl. 14r). Er skizzierte ein Dreieck für die trigonometrische Berechnung: Hypothenuse = Erdradius plus Höhe des Teide, die beiden Katheten Erdradius und tangentiale Verlängerung des Gesichtsradius und wendete darauf den Satz des Pythagoras an, um zu bestimmen, bis in welche Entfernung der Teide wegen der Erdkrümmung jedenfalls theoretisch hätte sichtbar sein müssen. [32] Humboldt maß in dem gebräuchlichen französischen Längenmaß Toisen, 1 toise = 1,949 m.

30 Große Ansicht (Digilib)Abb. 1: Ausschnitt ART I, Bl. 14v (Quelle: Staatsbibliothek zu Berlin – PK, http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001527100000034, CC BY-NC-SA 3.0) Er spekulierte, ob (wie die Erfahrung zeigte) der Wassergehalt der Luft die Sichtbarkeit bzw. den Einfluss der Refraktion auf die Messung erhöhe: „Die Weitsichtigkeit auf dem Meere ist ein sehr seltsames Phänomen.“ (Bl. 14v)

31Teneriffa wurde traditionell als letzte Landgangmöglichkeit vor der langen Überfahrt besucht. Allerdings konnte Humboldt trotz seiner Ungeduld die Insel nicht gleich betreten, sondern musste auf eine spezielle Erlaubnis des Gouverneurs warten, was ihn „Mismuthig über diese Verzögerung, mismuthig über unseren formliebenden Capitaine“ machte (Bl. 16r), denn: „Meine Erwartung an Land zu steigen war sehr gespannt. Seit meiner frühesten Jugend war es einer meiner Lieblingsträume, diese Insel zu betreten. Meine Reisen mit Georg Forster hatten diesen Wunsch noch lebhafter gemacht.“ (Bl. 15r)

32Humboldts Besteigung des Teide, seine erste wissenschaftliche Exkursion, war ein Schlüsselerlebnis. In sein Tagebuch notierte er:

Sechs Tage lang hielten wir uns auf Teneriffa, in St. Croix, der Laguna, dem puerto Orotava u. dem Pic von Teyde auf – die genußreichsten Tage meines Lebens, helle Punkte … In diesen Tagen habe ich so viel gesehen, empfunden u. erfragt, daß ich jezt in der Furcht vieles aus dem Gedächtniß zu verlieren, die Materialien nur flüchtig u. ungeordnet niederschreiben will. Meine Einbildungskraft wird noch mehrere Jahre warm genug bleiben um einst ein nicht unvollständiges Bild des Ganzen daraus zusamenzusezen, um einst andern einen Theil der Freude mitgenießen zu lassen, welchen jene große u. dabei so sanfte u. milde Natur gewährt. (Bl. 15v)

33Im Anschluss an seinen Inselaufenthalt wurden während der dreiwöchigen Überfahrt erneut täglich die Länge und Breite bestimmt und mit der „estime“ (Gissung) des Piloten verglichen. Ungenauigkeiten des Piloten seien oft durch Strömungen verursacht, mutmaßte Humboldt.

34Daneben notierte er weitere ihn interessierende Naturphänomene. Fliegende Fische wurden von Bonpland anatomisiert und eine auffallend große Schwimmblase festgestellt, die, so vermutete Humboldt, das Fliegen ermöglichen würde. Dazu kamen Beobachtungen zur Himmelsbläue, zur Kraft des Sonnenlichts, magnetische Messungen, Temperatur und spezifisches Gewicht des Meerwassers. Erstmals wurde am 27. Juni 1799 der nach Süden fallende Schatten (Bl. 20r) bemerkt, und etwas später, am 4. Juli 1799, das Kreuz des Südens gesichtet.

Landung in Amerika

35Endlich, am 13. Juli 1799, erblickten sie Land. Allerdings befürchtete die Schiffsbesatzung, in den bekannten, für Schiffe gefährlichen Kanal zwischen Trinidad und dem Festland mit der durch die Orinocomündung gefährlichen Strömung zu geraten. Humboldt wurde geweckt – er sollte schnell die Breitengrade bestimmen. Es wurden unterschiedliche Ortsbestimmungen und die offensichtlichen Differenzen zu den mitgeführten Karten diskutiert. Der Kapitän steuerte zu weit gegen Norden, „um Tobago das vor uns lag zu suchen. Dies Land erschien nicht, aber die See ging bei Regenschauern fürchterlich schwarz und hoch.“ (Bl. 24r–v). In der Astronomie schrieb Oltmanns:

Der 13. July entschied zum Vortheil der Längenuhr. Man sah um 6 Uhr Morgens ein gebirgigtes Land, welches man mit Unrecht für Trinidad hielt. Nach dem Log (estime) war die Fregatte unterm 10° 52′ der Breite. Herr von Humboldt fand durch einzelne Sonnenhöhen 11° 1′; so stark war die nördliche Strömung gewesen. Er beobachtete den Mittag an der nördlichen Küste von Tabago, und 2′ von derselben entfernt. ‚Ich fand (so bemerkt er in seinem Manuscripte) durch verschiedene Aufnahmen […] die Breite des nordöstlichen Caps von Tabago […].‘[33] [33] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 36.

36Oltmanns nannte hier als Quelle dieses und weiterer Zitate Humboldts Manuskript, wobei die Herkunft nicht ganz sicher ist: Vielleicht waren sie Humboldts knappen Notizen in ART I entlehnt und in lesbaren Text umgewandelt, vielleicht stammten sie aus dem in ART I oft erwähnten erwähnten Journal astronomique[34] oder aus der Monatlichen Correpondenz, in der Zach Nachrichten aus Humboldts Briefen publizierte.[35] [34] Gemeint ist wohl eines der unterwegs geführten Hefte, evtl. das „Journal des résultats“.[35] Humboldt 1999, 31.

37Die Präzisierung der Lage der vor dem venezolanischen Festland liegenden Inseln war für die Seefahrt von hoher Bedeutung. Auf einer unscharfen Bleistiftskizze zeichnete Humboldt die Umrisse der Insel Trinidad mit ihrer typisch viereckigen Form, markierte die Namen der Landspitzen von Trinidad und ergänzte historische Notizen zur Entdeckung durch Kolumbus am 31. Juli 1498. Wegen der oft falsch überlieferten Bezeichnungen dieser Kaps war es unsicher, welche Orte Kolumbus bei seiner Ankunft in Amerika zuerst gesichtet hatte. (Bl. 35r)[36][36] Vgl. auch Humboldt 1836–1852, I, 256–261.

Cumaná

38Cumaná, wo das Schiff dann endlich am 16.7.1799 landete, wurde für Humboldt in vieler Hinsicht ein bedeutender Ort. Dreimal verbrachte Humboldt längere Zeit dort, insgesamt etwa sechs Monate. Dieser lange Aufenthalt war jedoch nicht geplant: Ursprünglich sollte das Schiff, die Pizarro, nur in Cumaná anlegen und sofort weiter nach Trinidad auf Kuba segeln.[37] Wegen einer auf dem Schiff ausgebrochenen, ansteckenden Krankheit, an der ein junger mitreisender Spanier starb, entschlossen sich Humboldt und Bonpland, in Cumaná an Land zu gehen. Humboldt konstatierte: [37] Humboldt an Karl Ludwig Willdenow, Aranjuez, 20.4.1799, in Humboldt 1993, 664.

Aus Besorgnis vor dem ansteckenden Fieber, welches auf dem Pizarro ausbrach, waren wir an dieser Küste geblieben, unbekannt, ohne irgendeine Empfehlung, selbst ohne Geld, in der Absicht, innerhalb 2–3 Monathen Caracas und die von Jacquin beschriebene Vegetation zu sehen […]. Wie weit haben wir uns von diesem Plane entfernt![38] [38] ART V, Bl. 2r, zitiert nach Humboldt 2000, 391. Aus diesem offenbar im Nachhinein geschriebenen, die Erlebnisse in Venezuela zusammenfassenden Artikel unter dem Titel „Voyage de Nueva Barcelona à la Havane, nov. et déc. 1800“ in Humboldt 2000, 391–393, stammen die folgenden Zitate. Vgl. auch ART I, Bl. 29v.

39Während des ersten Aufenthalts maß Humboldt korrespondierende Sonnenhöhen, die vor allem der Überprüfung des Chronometers zur Genauigkeit der mitgenommenen Madrider Zeit galten, um eine präzise Messung der Ortszeit zu garantieren. Oltmanns berechnete, dass der Chronometer nur 7 Sekunden nachging![39] [39] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 50.

In Cumaná lebten wir sehr, sehr fleißig und häuslich, nur durch die neugierigen Besuche der Einwohner […] gestört. Wir besuchten die umliegende Gegend […][40] [40] ART V, Bl. 2v, zitiert nach Humboldt 2000, 392.

40Nach der ersten längeren Exkursion, mit der Besteigung des Tumuriquiri und dem Besuch der Guacharo-Höhle, planten Humboldt und Bonpland eigentlich nach Cumaná zurückzukehren, um in Richtung Caracas weiterzureisen. Aber die auf Humboldt ausgestellten Geldwechsel waren wegen der ursprünglichen Reiseplanung nach Kuba gesandt worden, und inzwischen hatte Humboldt vor Ort bereits Schulden. Sollten sie schnellstmöglich versuchen, nach Kuba zu gelangen, oder noch abwarten? „Bald wünschte ich, den Ort zu verlassen, den mir eine so peinliche Lage verhaßt machte, bald schmerzte es mich, eines elenden Geldgeschäfts wegen in seinen Plänen gestört zu werden, dem Orinoco so nahe ihn nicht gesehen zu haben.“ In dieser finanziell angespannten Situation verbrachten sie drei Wochen, die nicht zu den „süssesten meines Lebens gehörten.“[41][41] ART III, Bl. 3v, zitiert nach Humboldt 2000, 166.

41Aber letztendlich verschaffte gerade dieser ungeplante Aufschub Humboldt besondere wissenschaftliche Chancen:

Dieser Geldmangel und diese Ungewißheit hielt mich nun bis zum 18ten November in Cumaná zurück, sie zwang mich, die Sonnenfinsternis zu beobachten, sie verschaffte mir Gelegenheit, Augenzeuge eines heftigen Erdbebens zu sein und in einer Gesellschaft nach Caracas zu reisen, die für meine dortige gute Aufnahme und angenehme Existenz wichtig wurde. So wundersam sind Ursache und Wirkung in einem Menschenleben verwebt.[42] [42] ART III, Bl. 2r–3r, zitiert nach Humboldt 2000,165–166.

42In Cumaná sind vermutlich die meisten der Eintragungen des zweiten Teils von ART I entstanden[43], denn nun hatte Humboldt Zeit, sich intensiv mit Experimenten und Beobachtungen zu beschäftigen. Eine Zusammenfassung der Messungen während des ersten Aufenthalts findet man auf Bl. 79v, und Oltmanns schrieb später : [43] Nicht alle Eintragungen lassen sich datieren, es ist jedoch überliefert, dass Humboldt oft in den größeren Orten die längeren Passagen seines Tagebuchs schrieb.

Er bestimmte die geographische Position dieses für die Schiffahrt so wichtigen Punktes, durch seinen vortrefflichen Chronometer von Louis Berthoud, durch Monds-Abstände, durch eine Sonnenfinsterniss, durch eine Reihe von Jupiters-Satelliten-Verfinsterungen und durch beobachtete Sonnen- und Sternhöhen.[44] [44] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 35.

43Als herausragendes astronomisches Ereignis erlebte Humboldt die Sonnenfinsternis am 28.10.1799 in Cumaná. Da sie angekündigt worden war, konnte Humboldt sich gründlich darauf vorbereiten: In den Tagen davor prüfte er erneut den exakten Gang des Chronometers, maß die magnetische Inklination und notierte die Begleitumstände wie z. B. nächtliche Gewitter und einen Überfall am Strand. (Bl. 87v) Diese Passage des Tagebuchs hat Oltmanns wieder als Zitat in die Astronomie übernommen. Die lange Beobachtung der Sonnenfinsternis (10½ Stunden!) erzeugte Augenentzündungen und Sonnenbrand (Bl. 88r). Allerdings nahm Humboldt diese gesundheitlichen Gefahren nicht ernst, da diese Sonnenfinsternis etwas Besonderes bedeutete. Denn er vermutete, dass seine Beobachtung die einzige in Lateinamerika sein würde. Zudem bot sie einen Vergleich zu einer früheren Erfahrung: die erste Sonnenfinsternis hatte er 1797 mit seinem Lehrer Köhler in Dresden beobachtet. Auf den Bl. 89v und 90r befindet sich ein Protokoll seiner Messungen. Die dazugehörigen Skizzen zeigen den Stand der teilweise verdeckten Sonne im Fadenkreuz des Quadranten (Quart de Circle) und die dazugehörige Chronometerzeit. Oltmanns übernahm diese Beobachtungen in die Astronomie und berechnete aus Humboldts diesen Werten die Länge von Cumaná.

44Eine Mondfinsternis war für den 2. Oktober 1800 vorausgesagt worden, konnte aber wegen Regen nicht beobachtet werden. Hinzu kamen in Cumaná Beobachtungen zu Ebbe und Flut (Bl. 42r), Wind (Bl. 70v), Regen (Bl. 73v), Gewitter (Bl. 48v), Sonnenflecken (Bl. 88v), Halonen (d. h. leuchtende Ringe am Himmel) (Bl. 82v), Sonnenkraft (d. h. die Differenz der Temperatur in Sonne und Schatten), Luftfeuchte (Bl. 57r), und Informationen, die er vor Ort erhielt, beispielsweise zu den südamerikanischen Jaguaren, die Humboldt amerikanische Tiger nannte (Bl. 35r), Wirtschaft und Handel (Bl. 70r–v), Medizinpflanzen (Bl. 75r), Zahlen zur Statistik (Einwohnerzahlen, Handelsvolumen, Tabakanbau (Bl. 35v).

Unterwegs

45Endlich, am 18.11.1799 ging es weiter zu Schiff nach Caracas, wo die Reisenden bis zum 7.2.1800 blieben. Nun wurden die umliegenden Berge bestiegen und Exkursionen ins Umland unternommen. Von hier starteten sie auch ihre Orinocoreise, bei der rund 2250 km auf Flüssen zurückgelegt wurden. Über Nueva Barcelona wurde die Rückreise zum dritten Aufenthalt in Cumaná angetreten.

In N[ueva] Barcelona blieben wir fast einen Monath, vom 23. Jul[ius] bis 26. Aug[ust], im Hause des reichen und guthmüthigen D[o]n Pedro Lavie, den wir während seiner Gefangenschaft und Anklage (wegen revolution) schon in Caracas gekannt. Auf der Rückreise von Barcelona nach Cumaná nahm uns ein Corsar von Halifax gefangen. Da er sich in der Nähe der Fregatte (Sloop) the Hawke befand, lud uns der Commandant, Cap[itän] John Garnier, der mit Vancoover um die Welt gereist war, sogleich an Bord, überhäufte mich mit Höflichkeit […] In Cumaná harrten wir nun zwei Monathe lang auf den Correo, der schon drei Monathe fehlte. Diese Zwischenzeit diente, alle meine astronom[ischen] Beobachtungen zu berechnen. Wir wohnten nun in dem Hause des D[o]n Pasqal Martinez, wo die trefflichen azoteas [Dachterrassen] mir sehr die astronom[ischen] Beobachtungen erleichterten. Wir aßen täglich im Hause des Gouv[erneurs] Emparan. Da schlechterdings kein Correo aus Spanien ankam, so waren wir sehr froh, in Barcelona ein halb-Am[erikanisches] Schiff zu finden, […] Wir reisten am 16ten Nov[ember] von Cumaná ab, wo ich meine Gesundheit (die im Río Negro und Alto Orinoco gelitten) dergestalt herstellte, dass ich vielleicht nie, nie so robust und stark war als jetzt. Die halbe Stadt begleitete uns an die Küste. Es war eine schöne, mondhelle Nacht. Die brisa (Ostwind) wehte so stark, daß wir in 6 Stunden schon am Morro von Barcelona vor Anker lagen.[45] [45] Humboldt 2000, 392–393; vgl. auch Humboldt 1997, III, 262–263.

Instrumente und Calcul

46Bereits aus den ersten Tagen in Cumaná hatte Humboldt Messergebnisse an seine europäischen Kollegen gesandt, zu denen die bedeutendsten Astronomen wie Franz Xaver von Zach in Gotha und Jean-Baptiste-Joseph Delambre in Paris gehörten. Mit beiden verband ihn eine längere Beziehung aus der Zeit der Reisevorbereitungen, wobei der Kontakt zu Zach nur schriftlich, nicht durch persönliches Treffen erfolgt war. Ihm verdanke er erste Anregungen zur Beschäftigung mit Astronomie:

Meine Neigung zur praktischen Astronomie hat seitdem mit jedem Jahre zugenommen. Einsamkeit, Pracht des südlichen Himmels, Ruhe der Wälder, haben mich an eine Arbeit gefesselt, der ich vielleicht während meines Aufenthalts in dem neuen Continente mehr Zeit gewidmet habe, als ich, bei der grossen Mannigfaltigkeit von Gegenständen, die den Reisenden umgeben, hätte thun sollen.[46] [46] Humboldt/Oltmanns 1810, I, VII. Zu Zachs Einfluss auf Humboldt vgl. Biermann 1990, 188–192.

471798, bereits in Frankreich, lernte Humboldt Delambre kennen, als er ihn für zwei Tage bei seinen Gradmessungen zur Festlegung des Urmeters begleitete. Er sah dann später auf Humboldts Bitte das Manuskript der französischen Astronomie durch und schrieb einen kleinen Beitrag. Im Gegenzug widmete Humboldt ihm dieses Werk, die deutsche Ausgabe dagegen Zach, dem er am 1.9.1799 aus Cumaná eine erste Schilderung seiner Reise sandte:

[…] haben Sie besonders Nachsicht mit meinem astronomischen Arbeiten. Bedenken Sie, dass dies nur ein Nebenzweck meiner Reise ist, daß ich ein Anfänger in der Astronomie bin und erst seit zwei Jahren mit Instrumenten umzugehen gelernt habe […].[47] [47] Humboldt 1999, 32.

48Auch an Delambre schickte er mehrere Berichte seiner Messungen, auf die er sich im Tagebuch bezog. Einer dieser Briefe (12.5.1799) enthielt Humboldts Messungen aus Madrid, die sonst nirgends mehr verfügbar sind, da Humboldts Notizen dazu verloren gingen. Dieser Brief ist zwar nur auszugsweise im Druck überliefert,[48] Oltmanns hatte jedoch den Inhalt in die Astronomie aufgenommen: [48] Humboldt 1973, 666.

Die astronomischen Beobachtungen, welche Herr von Humboldt zu Madrid, […] westlich von der Plaza major angestellt hat, sind sämmtlich verloren gegangen. Wir kennen nur ihre Resultate […] nach einem von Herrn von Humboldt […] an de Lambre geschriebenen Briefe […][49] [49] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 20.

49Humboldts eigentlicher Lehrer vor der Reise war jedoch Johann Gottfried Köhler in Dresden. Hier hatte er im Juni/Juli 1797 die Methoden der astronomischen Ortsbestimmungen erlernt.[50] Notizen im Tagebuch belegen, dass sein wichtigstes Lehrbuch in dieser Zeit Johann Gottlieb Friedrich Bohnenbergers[51] Anleitung zur geographischen Ortsbestimmung war.[50] ART V, Bl. 64r–119v, vgl. Brand 2015, 38 und Leitner 2005, 42.[51] Bohnenberger 1795.

50Für die Ortsbestimmungen (Länge und Breite) verwendete Humboldt einen Chronometer („garde temps“) von Berthoud, der während der Reise die Vergleichszeit anzeigte. Dieses offenbar extrem zuverlässige und wertvolle Gerät hatte Humboldt von Borda erworben, den er bereits 1798 in Paris kennen gelernt hatte. Borda hatte 1771 im Auftrag der Académie des Sciences eine Seereise zu den Azoren, Kapverden und Kanaren unternommen, um die Tauglichkeit von Längenuhren zu überprüfen.[52] Sein Werk[53] enthält nicht nur seine Reisebeschreibung, sondern auch Erläuterungen zu den verwendeten Instrumenten und der Methodik (z. B. ‚Des Méthodes pour déterminer la latitude‘ und ‚Des Méthodes pour déterminer la longitude‘), auf die Humboldt sich in seinen Tagebüchern bezieht.[52] Humboldt 1808–1811, I, xxiij. Genauer vgl. Brand 2015, 32, und Kortum 2001.[53] Borda 1778.

51Daneben spielten optische Geräte zur Messung der Gestirne und zur Winkelmessung (Fernrohre, Sextanten) sowie künstliche Horizonte eine Rolle, zum Beispiel ein Quadrant (Viertelkreis, Quart de circle) des Londoner Instrumentenmachers John Bird, den Humboldt in Spanien von Megnié erworben hatte. Wenn im Tagebuch nach einer Winkelangabe kurz „Bird“ steht, handelt es sich um die Angabe, womit gemessen wurde: „Bird signife le Quart de circle du Bird …“ so Humboldt zur Erklärung in seinen Hinweisen über die angewandten Verfahren und Instrumente für den Fall, dass er nicht nach Europa zurückkehren sollte: „Au cas que je ne retourne pas moi-même en Europe pour calculer mes observations“ (Bl. 80r). Für den Sextanten von Ramsden steht im Tagebuch dagegen nur kurz: Sextant (Bl. 78v). Unter der Überschrift „Observations astronomiques faites en Amérique depuis le 28 Juillet 99“ (Bl. 78r) berichtet das Tagebuch über die Korrektur des Quadranten von Bird durch den Vergleich mit dem Sextanten, der allerdings auch kontrolliert und korrigiert werden musste. Er hätte jedoch eine größere Genauigkeit (Fehler seit Madrid: 8 Sekunden) als der Quadrant (Fehler mehr als 8 Minuten!) bewiesen. Später soll er den Quadranten von Bird als unnützen Ballast an Caldas gesandt haben.[54] Humboldt besaß auch einen Multiplikationsspiegelkreis („cercle répétiteur à réflexion“) von Borda.[55] (Bl. 78r–v) Daneben erwähnte Humboldt noch den Dosen- oder „Snuffbox“-Sextanten von Throughton, den er wegen seiner praktischen Handhabung sehr lobte, und der trotz seiner geringen Größe über eine erstaunliche Genauigkeit verfüge.[56][54] Brand 2015, 39.[55] Brand 2015, 20 und 41.[56] Brand 2015, 40.

52Im Folgenden sollen einige Beispiele aus den Tagebüchern Humboldts Messungen und die darauf fußenden Berechnungen erläutern.

53Eine seiner wichtigsten Aufgaben während der Amerikareise sah Humboldt in den geodätischen Vermessungen zur Herstellung präziser Karten, die er in den Atlanten des Reisewerks drucken ließ.

Längen und Breiten

54Für Breiten- und Längengradbestimmungen wurden vor allem Winkel- und Zeitmessungen benötigt. Für die Berechnung der Breite wurde der Meridiandurchgang der Sonne oder von Sternen gemessen und mit Sternkatalogen verglichen, man verwendete also den Stand der Sonne (oder nachts von Sternen) zum Zeitpunkt ihrer Kulmination. Außerdem wurden astronomische Ereignisse (Mondabstände, Durchgänge von Planeten oder des Mondes durch die Sonne, Jupitersatelliten, Sonnen- und Mondfinsternisse u. a.) gemessen, mit den Sternkatalogen verglichen und aus der Zeitdifferenz die Länge bestimmt. Dafür waren regelmäßig publizierte Ephemeridenwerke notwendig.

55Gleich zu Beginn der Reise beschrieb er sein Vorgehen bei einer Messung:

Ich beobachtete zum ersten Mal den Mittag auf dem Meere und fand viel Schwierigkeit wegen Schwankungen des Schifs u. dem Punkt des Horizonts, der vertical unter der Sonne steht. (Bl. 2v)

56Den Mittag beobachten heißt, mit dem Sextanten den Höhenwinkel zum Zeitpunkt der Kulmination der Sonne zu messen. Zum Einstellen des Sextanten benötigt man den vertikal unter der Sonne stehenden Punkt am Horizont (bzw. an Land mittels des künstlichen Horizonts). Um genau den Höchststand der Sonne zu finden, misst man kurze Zeit vor dem erwarteten Mittag und ebenso kurze Zeit danach. Logischerweise ist das Mittel zwischen diesen sog. korrespondierenden Höhen genauer bei größerem Zeitabstand, weshalb Humboldt hier zu Recht bemerkte, dass nur 2 Sekunden vor Mittag sehr schlecht sei. Aus dem Höhenwinkel zur Zeit der Kulmination folgt direkt die geographische Breite, die Länge dagegen aus dem Abstand der gemessenen Ortszeit und der mitgenommenen Zeit auf dem Chronometer („garde-temps“). Der Bezugspunkt der Länge, die ja immer als Abstand verstanden werden muss, sollte also stets angegeben werden.[57] In die Berechnung muss nun noch die Differenz zwischen wahrer (der tatsächlich gemessenen) und mittlerer Zeit (Mittelwert der jahreszeitlichen bzw. täglichen Variationen) aufgenommen werden[58]. Die Messung der Kulmination der Sonne führte man praktischerweise zu zweit aus: eine Person (Bonpland) sagte die Zeit in kurzen Abständen an, die andere nahm die Messung des Sonnenstandes mit dem Sextanten vor, vor Mittag bis kurz nach Mittag, jeweils Ortszeit.[57] Üblich waren Paris, Cadix, Ferro (El Hierro), Madrid (Humboldt) und Greenwich, heute nur noch Greenwich.[58] Da die Bewegung der Erde um die Sonne und die Erdrotation sowohl täglichen also auch jahreszeitlichen Schwankungen unterliegt, wird durch die sog. „Zeitgleichung“ die tatsächlich gemessene Zeit korrigiert.

57Die korrespondierenden Höhen mussten in einem nicht zu kleinen zeitlichen Abstand von demselben Punkt aus gemessen werden, was natürlich unterwegs auf dem schwankenden und sich fortbewegenden Schiff weitaus schwieriger war. Deshalb hatte Cornelis Douwes eine Korrekturmethode entwickelt, welche die inzwischen zurückgelegte Entfernung berücksichtigte. Oltmanns nahm Humboldts Messungen der Überfahrt nicht auf, denn sie sind ja für „Land-“Karten nicht von Belang. Allerdings erwähnte Humboldt in einem Brief nach Paris seinen Plan, eine Seekarte mit Dichte und Temperatur des Wassers anfertigen zu wollen.[59][59] Humboldt an Lalande, Caracas, 14.12.1799, in Humboldt 1999, 47.

58Der Pilote bestimmte üblicherweise die Lage des Schiffes durch eine einfachere Methode, der sog. Koppelnavigation: Mit dem Log (Loch), wurde die Fahrgeschwindigkeit gemessen, daraus (und der Zeit) die zurückgelegte Entfernung berechnet, die täglich in eine Seekarte (Logbuch, Reduktionsquadrant) eingetragen wurde. Humboldt verglich während der Überfahrt diese Methode mit seiner eigenen, fand seine jedoch wesentlich genauer. Differenzen erklärte er aus der schwer kalkulierbaren Abdrift des Schiffes durch Strömungen (z. B. Malstrom, Bl. 22r und 23r).

59Während der Wartezeit auf der Mole von Sainte Croix ermittelte er am 19.6.1799 den Abstand von Paris und notierte hier nicht nur die Messungen und das Ergebnis der Berechnung, sondern auch die Rechnung selbst: Aus der Doppelmessung des Stundenwinkels mit dem Sextanten folgt, mit den Korrekturen durch Zeitgleichung, Refraktion, Kollimationsfehler des Sextanten, Höhe des Standorts der Stundenwinkel und aus diesem, wenn Humboldt nun noch den leicht verspäteten Gang seines Chronometers seit Paris (retard 4′ 13″ bis 5.6., von 5.–19.6. täglich 1′ 2″) mit einberechnete, erhielt er die astronomische Länge von 1h 14′ 14″ bezogen auf Paris bzw. 24′ 8″ auf Madrid (Bl. 16v).

60Für die Exkursionen im Inland von Venezuela, vor allem während der Orinocofahrt, hat Humboldt eine andere Methode verwendet, da hier die Sonnenhöhen schwer messbar waren. Später betonte er die besondere Bedeutung der präzisen Berechnung der Lage von Cumaná vor allem deshalb, weil sich die Längenbestimmungen während der beiden Inlandsexkursionen darauf stützten.[60] Dafür benutzte Humboldt alle ihm zur Verfügung stehenden Methoden:[60] Humboldt 1999, 189.

Ich habe gesucht, so viel ich konnte, alle Längen-Methoden zugleich anzuwenden; Abstände des Mondes von der Sonne und den Fixsternen, Jupiters-Trabanten, Sonnen- und Mond-Finsternisse.

61Die Längen der Orte der Exkursionen konnten dann lediglich mittels Chronometerabständen bestimmt werden, vgl. „Des longitudes observées dans le Voyage de l’Orenoque et du Rio Negro“ (Bl. 58v–61v sowie 66v–69v und der Rest auf Bl. 57v). Auf die erste Seite des Tagebuchs notierte er zusammenfassend die Ergebnisse seiner chronometrischen Messungen auf dem Weg von Cumaná nach Caripe (mit Besuch der Guacharo-Höhle) im September 1799 (Bl. 1r).

62Noch wichtiger, vor allem zur Bestimmung der Länge und auch, um den Gang des Chronometer zu kontrollieren, waren jedoch vorausberechnete Himmelsereignisse. Bei den Jupitertrabantenmessungen wurden die Zeitpunkte der Eintritte der Jupitermonde in seinen Schatten gemessen (Bl. 1r). „Die Beobachtungen wurden sämmtlich mit einem Dollondschen Fernrohr vom 95maliger Vergrösserung angestellt. Herr von Humboldt beobachtete zu Cumaná eine Reihe von Ein- und Austritten[…]“ schrieb Oltmanns in der Astronomie, zitierte aus Humboldts Tagebuch zur Qualität der Beobachtung („bonne“ oder „très belle, bandes très-claires, quoique la lune fût assez près de la planète“ u. a. und berechnete daraus die Länge von Cumaná, die von der Humboldt’schen Berechnung nur um einige Sekunden abwich. Außerdem fügte er europäische Beobachtungen hinzu, die so die Ermittlung des Abstands von Paris erlaubten. Laut Oltmanns hat Delambre persönlich einige der Humboldt’schen Beobachtungen mit seinen Tafeln verglichen und Differenzen von 7–8 Sekunden für den Zeitraum 27.9.–27.10.1799 festgestellt. Berechnungen anderer Wissenschaftler zeigen für die letzten Trabanteneintritte noch größere Fehler. [61][61] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 79–85.

63Humboldt hatte seine Daten kurz vor der Abreise aus Cumaná, an Delambre mit den begleitenden Worten gesandt:

Auf der bereits ein Jahr währenden Reise bestimmte ich 54 Orte in Südamerika nach den Breiten und Längen, erstere größtenteils von der Mittagshöhe der beiden Gestirne abgeleitet, letztere entweder durch Distanzen des Mondes zur Sonne und zu den Sternen oder durch das Chronometer und die Stundenwinkel. Ich bin dabei, die Karte der von mir bereisten Gebiete zu entwerfen.[62] [62] Humboldt 1999, 84.

Höhen

64Höhenbestimmungen ergaben sich ebenfalls aus Winkelmessungen. Mit einer Basislinie und zwei Winkeln am Anfang und Ende der Linie kann man leicht mit Hilfe einfacher Trigonometrie die Höhe berechnen. So vermaß Humboldt (vermutlich zu Beginn seines Aufenthalts in Cumaná) den Berg Brigantín, der der höchste der von Cumaná sichtbaren Berge sei, und notierte die Messung unter dem Titel: „Höhe der Berge.“ (Bl. 31v). In diesem Fall maß Humboldt zwei Basen: einmal eine durch Zählung der Schritte, dann eine präzis gemessene, um zu sehen, als wie groß sich der Unterschied in der Höhe herausstellte. Er schloss daraus, dass der recht geringe Unterschied von 200 Fuß für einen Geognosten (im Gegensatz zum Kartographen) eine noch erträgliche Unschärfe bedeute, da er die Aussagen über Lagerungen von Gesteinen, dem Themengebiet des Geognosten nicht beeinträchtigen würde.

65Häufiger verwendete Humboldt jedoch zur Höhenbestimmung die barometrische Methode[63]. Humboldt verwendete die Höhenformel von Deluc, bei der die Höhe des Standortes über dem Meer, die Differenz zwischen Lufttemperatur vor Ort und über dem Meer sowie die des Luftdrucks einflossen, Oltmanns dagegen später die Höhenformel von Laplace. Er kam damit zu deutlich besseren Ergebnissen. Humboldt hat auch die barometrische mit der trigonometrischen Methode kombiniert, wie der Aufstieg auf den Berg Imposíbile auf dem Weg zur Guácharohöhle am 4.9.1799 zeigt. Vom Gipfel maß er die Winkel zu einigen sichtbaren Punkten in der Entfernung: „Da die Sonne im Untergehen begriffen war, nahm ich schnell […] Sonnenhöhen […] und bestieg dann den höchsten Gipfel, um dort zur refractionsbestimmung den Untergang der Sonne zu beobachten.“ Aus der Barometermessung auf dem Gipfel ermittelte er dann die Höhe und schwärmte von der Aussicht. Leider wurde es dunkel, so dass nur noch wenige Winkelmessungen möglich waren. Im Tagebuch liest man dann:[63] Genaue Beschreibung vgl. Brand 2015, 45.

Die Nacht überaus sternhell u. kalt. Th[ermometer] 16°. Reisende hatten in der Nähe den Wald in Brand gestekt. Die Flamme in Rauch gehüllt gewährte einen wunderschönen Anblik. Ich wollte die Culmination des Fomalhaut […] zur Breitenbestimung abwarten. Der Schlaf überraschte mich. Ich erwachte zu spät u. verlor über nivellirung des Horizonts die wenigen Min. welche zur Beob[achtung] übrig waren. Ich ging mismuthig zu Bette. (Bl. 31v)

Magnetismus

66Schon sehr früh hatte Humboldt sichfür die Messung des Erdmagnetismus interessiert. Erste Anregungen erhielt er wohl von Borda, der, so Humboldt, lange geglaubt hatte, dass die magnetische Intensität überall identisch sei. Durch unterschiedliche Messwerte während seiner Reisen war er jedoch selbst in Zweifel geraten und hatte Humboldt aufgefordert, sich mit dieser Frage zu beschäftigen.[64] Eine Randbemerkung (Bl. 2r) bestätigt, dass sich Humboldt von Beginn der Reise dieser Frage widmete. Er maß vor allem auf See wohl täglich die Oszillationen der Magnetnadel (ein Äquivalent der magnetischen Intensität bzw. Kraft) sowie die Abweichungen: horizontal (Deklination) und vertikal (Inklination) und konstatierte schon auf Teneriffa, dass die Intensität der Deklination nicht proportional sei.[65] In einem Brief, in dem er die gemessenen Werte dieser drei Parameter für verschiedene Orte in Venezuela nach Paris sandte, schlußfolgerte er, dass die Intensität ortsabhängig, aber dort dann immer gleich sei: „[…] sie scheint wie die Anziehungskraft oder die Schwerkraft konstant zu sein.“[66] Den Borda’schen Inklinationskompass, von Le Noir konstruiert, hatte Humboldt vom Bureau de Longitudes de France erhalten[67], und Megnié in Madrid hatte ihn etwas vereinfacht[68]. Leider gab es Probleme mit der Reibung und auf See mit den Schwankungen des Schiffs. Ausführlich beschrieb Humboldt im Tagebuch das Thema unter dem Titel „Observations d’Inclinaisons magnétiques“ (Bl. 93r und 75v–76r) und nach der Rückkehr in einer Publikation.[69][64] Humboldt 1999, 45.[65] Humboldt 1999, 28.[66] Humboldt 1999, 45.[67] Nach Kortum 2001, und Brand 2015, 51. Genaue Beschreibung des Geräts vgl. Brand 2015, 52.[68] Humboldt 1999, 28.[69] Humboldt/Biot 1804.

Refraktion

67Bei der Messungen des Sonnenuntergangs unterwegs (Bl. 3v) diente die Zeitdifferenz zwischen dem Eintritt der Sonne in den Horizont (unterer Limbus) und ihrem Verschwinden (oberer Limbus) offenbar auch zur Bestimmung der Refraktion (Strahlenbrechung). Die Differenz durch die bogenförmige Krümmung des Lichtstrahls bewirkt eine unterschiedliche Wahrnehmung. Die Beeinflussung der Messungen durch Refraktion in den Tropen war ein Thema, das Humboldt im weiteren Verlauf der Reise und damit im Tagebuch ausführlich behandelte. So schrieb er am 1.9.1799 aus Cumaná an Zach:

Ich beschäftige mich jetzt mit dem Problem, warum die Strahlenbrechung in dem heissen Erdgürtel geringer als bei uns ist. Die Hitze kann nicht allein die Ursache hiervon sein. Die Hygrometrie spielt dabei eine große Rolle, und ich glaube, daß die große Feuchtigkeit dieses Erdstriches die Strahlenbrechung vermindere. Die Dünste haben Einfluß auf die Lichtbahn, und das Licht (Licht ohne Wärme) hat hinwieder auf die Bestandteile und die Zersetzung des Wassers seinen Einfluß.[70] [70] Humboldt 1999, 29.

68 Große Ansicht (Digilib)Abb. 2: Ausschnitt ART I, Bl. 94r (Quelle: Staatsbibliothek zu Berlin - PK, http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001527100000205, CC BY-NC-SA 3.0) Vermutlich auch deshalb (und nicht nur für die Untersuchungen des tropischen Klimas) gibt es in ART I derart viele Messungen zur Luftfeuchtigkeit sowie die Experimente zur Verdunstung, die Humboldt während seines dritten Aufenthalts in Cumaná vom 8.9.–10.10.1800 unter Berücksichtigung von Wärme- und Lichteinwirkung, Tageszeit, Luftfeuchtigkeit und Wind unternahm. Die Versuche wurden mit unterschiedlichen Gefäßmaterialien und -formen (Porzellan, Glas, kugel- oder zylinderförmig) mehrfach durchgeführt. (Bl. 72v–73r) Humboldts wissenschaftliche Abhandlung in ART I „Observations de réfraction terrestre“ (Bl. 93v, 75v und 76r) fasste die in diesem Zusammenhang beobachteten Phänomene zusammen. Während des dritten Aufenthalts in Cumaná hatte er, wie bereits erwähnt, auf der Terrasse seines Gastgebers perfekte Bedingungen für Winkelmessungen (Höhenwinkel von fünf sichtbaren Bergen). Durch Luftspiegelungen erschienen entfernte Gegenstände höher, manche Inseln schienen zu schweben oder wurden verzerrt wahrgenommen. Humboldt notierte seine Beobachtungen, Messungen und Vermutungen zu dieser Thematik, wie z. B. die veränderte Größe von entfernten Inseln oder den Einfluss auf Höhenmessungen. Luftspiegelungen hatte er bereits während der Rundreise zuvor, insbesondere in den Llanos bei San Fernando de Apure, bei flirrender Hitze, oder bei der Schifffahrt von Nueva Barcelona nach Caracas registriert. In den Llanos de Calabozo hatte man sogar schwebende Kühe sehen können! (Bl. 93v–94r)

69Die Notizen aus den Tagebüchern hat er später fast wörtlich in die Reisebeschreibung aufgenommen[71].[71] „Note D. Observations faites sur le mirage et la dépression variable de l’horizon de la mer“, Humboldt 1814–1825, I, 625–631.

Genauigkeit und Information

70Da für Humboldt präzises Messen und die Erfassung von Daten zur späteren Herstellung von Karten höchste Priorität hatte, nehmen in seinen Tagebüchern die Diskussionen über die Genauigkeit seiner Instrumente, die verwendeten Mess- und Berechnungsmethoden im Vergleich, die Kritik an den benutzten Karten und vor Ort erhaltenen Informationen sehr viel Raum ein.

71Eine wichtige Aufgabe, die Humboldt unterwegs nie vernachlässigte, war die Überprüfung seines Chronometers durch Sonnenhöhenmessungen. Viele Seiten des Tagebuchs sind diesem Thema gewidmet, und sehr oft äußert sich Humboldt lobend über seinen Gang. So befindet sich beispielsweise auf Bl. 77r unter der Überschrift „Marche du Chronomètre n. 27 de Louis Berthoud depuis le Départ de Madrid“ eine Tabelle mit der ansteigenden Minutenzahl, um die sein Chronometer vom 8. Mai bis 15. November 1799 nachging. Oltmanns fasste später zusammen:

[…] mir schien daher eine tägliche Verspätigung in Bewegung von 2″ die wahrscheinlichste zu seyn. Soviel hatte auch Herr von Humboldt dafür gerechnet, dessen Annahme sich auf weitere Beobachtungen gründete, die aber […] verloren gegangen sind.“[72] [72] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 32.

72Diese Bemerkung bezieht sich auf den Lauf des Chronometers in Spanien.

73Unter der Überschrift „Astronomie“ versuchte Humboldt, vermutlich während seines 2. Aufenthalts in Cumaná, eine Zwischenbilanz über den Gang seines Chronometers nach einem Jahr Benutzung zu ziehen. Das Instrument, so bestätigte er, verfüge über eine große Widerstandsfähigkeit gegen ungleichmäßige Bewegung, Stöße, Temperaturschwankungen. Wenn doch eine Veränderung aufgrund von äußeren Einwirkungen auftreten würde, bliebe diese dann jedoch relativ stetig, d. h. kalkulierbar, wie schon Borda ihm beim Verkauf vorausgesagt hatte (Bl. 79r). Bis zum Ende der Orinocoreise ging das Gerät tagelang um dieselbe Sekundenzahl nach (retard). Wegen der auf dem Orinoco nicht möglichen Kontrolle durch Sonnenhöhen maß Humboldt jeweils zweimal auf der Hin- und Rückreise (Bl. 66v–69r).

74Humboldt hat zwar in seinen Publikationen die auf der Reise verwendeten Instrumente aufgezählt[73], jedoch bedauerlicherweise nicht die mitgenommenen Druckwerke oder andere Quellen. Diese Informationen kann man eigentlich nur aus den Tagebuchnotizen erschließen. Es scheint, dass er eine Art Tafelwerk (Logarithmentafeln) zur Vereinfachung seiner trigonometrischen Berechnungen mit sich führte. Wichtig waren auch die Ephemeriden, die Humboldt durch den Vergleich mit seinen Messungen ebenfalls für Längenbestimmungen dienten. Er hatte zwar vor der Reise zwei Nummern der Connaissance des tems erwerben können[74], britische Tafeln jedoch wegen der Konkurrenz der verfeindeten Seemächte erst durch einen glücklichen Zufall unterwegs bekommen. Wie bereits erwähnt, war Humboldt auf der Fahrt von Nueva Barcelona nach Cumaná (dem dritten Aufenthalt dort) von Seepiraten gefangen genommen und durch einen glücklichen Zufall einem britischen Schiff übergeben worden, auf dem er in dem Kapitän einen gebildeten und wegen seiner Reisen in Geographie bewanderten Kapitän antraf:[73] Humboldt 1814–1825, I, 58, Humboldt/Oltmanns 1810, I, x-xj.[74] ART II u. VI, Bl. 108v.

[…] er schien sich lebhaft für alles, was ich ihm über die großen Katarakte von Atures und Maipures, über die Gabelteilung des Orinoco und seine Verbindung mit dem Amazonenstrom mitteilte, zu interessieren. […] seit einem Jahr hatte ich mich nicht in der Gesellschaft so kenntnisreicher Personen befunden. Durch englische Zeitungen war man einigermaßen vom Ziel meiner Reise unterrichtet, ich wurde mit viel Vertrauen behandelt und erhielt mein Nachtlager im Zimmer des Kommandanten. Beim Abschied wurden mir die astronomischen Ephemeriden geschenkt, die ich mir in Frankreich und Spanien nicht hatte beschaffen können. Dem Kapitän Garnier habe ich die Beobachtungen der Trabanten zu verdanken […][75] [75] Humboldt 1997, III, 263. Vgl. Humboldt/Oltmanns 1810, I, 92, und Brand 2015, 33.

75In den jährlich vom britischen Astronomen Nevil Mascelyne herausgegebenen Tafeln The Nautical Almanac and Astronomical Ephemers, konnte man genaue Daten zu Himmelsereignissen in Greenwich, Paris oder Madrid nachschlagen. Wenn man dieselben dann mit der Ortszeit maß (wie Humboldt die Trabanten des Jupiter), konnte man aus diesem Zeitvergleich die Länge berechnen oder bei mitgenommener Bezugszeit die Genauigkeit des Chronometers kontrollieren. Garnier zeigte Humboldt an diesem Abend auch eine englische Karte der Insel Trinidad. (Bl. 84v)

76Zum Teil konnte Humboldt auch Publikationen seiner Vorgänger auf dieser Reise nutzen. Borda, der während seiner zweiten Reise auch Cook auf den Kanaren traf und 1772 ebenfalls auf den Teide gestiegen war, war für Humboldts Teneriffa-Exkursion und die Kartographie dieser Region die wichtigste Autorität. Humboldt zitiert in ART I mehrfach aus dessen Reisewerk und der dazugehörigen Karte[76]. Auf Teneriffa erfuhr Humboldt vom Tod seines Mentors und Lehrers am 20.2.1799.[77] Er verglich seine Messungen vor Teneriffa mit denen von Borda und konstatierte „eine gewiss bewundernswürdige Übereinstimmung“ (Bl. 16v), wogegen Oltmanns später diese „Harmonie doch nichts mehr als ein Zufall“ nannte.[78] Kritisch beurteilt Humboldt jedoch Cooks Ergebnisse (Bl. 17r)[79].[76] Borda 1778 mit „Carte réduite d’une partie de l’Océan atlantique […]“.[77] Vgl. Kortum 2001.[78] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 30.[79] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 31.

77Besonders viele Vergleiche mit Vorgängern gibt es bei der Landsichtung 12.7.1799 bis zur Landung in Cumaná am 16.7.1799. Wie beschrieben gab es Probleme, zwischen den vielen dem Festland vorgelagerten Inseln den richtigen und ungefährlichen Weg zu finden. Oltmanns zitierte erneut aus Humboldts Tagebuch:

Herrn von Humboldts Manuscripte enthalten folgende Bemerkung: ‚Nichts ist für die Schiffahrt von grösserer Wichtigkeit, als die richtige Lage des östlichen Caps von Tabago und die der Punta de la Galera auf Trinidad. Denn alle aus Europa kommende und nach den Häfen des festen Landes von Südamerica oder nach den Inseln unter dem Winde bestimmte Schiffe müssen den Canal zwischen Trinidad und Tobago passiren. Diese beyden Inseln sind das erste Land von America, das sich dem Auge darbietet. Ein Seefahrer hat sich sehr in Acht zu nehmen, nicht in seiner Ansicht zu irren; denn nimmt er z. B. Trinidad für Tabago […] so läuft er grosse Gefahr, seinen Irrthum theuer zu bezahlen. Er wird in die Boca de Dragos gerathen, wo der Oronoco sich mit wüthendem Ungestüm in den Ocean stürzt. Diese Gefahr ist umso grösser, da die meisten von Europa kommenden Schiffer, die ihre Länge nach dem Log bestimmen, ihrer Lage sehr ungewiss sind. Die lange Dauer der Fahrt […] kann um so eher einen Fehler von 3°–4° zuwege bringen, da die östliche Strömung vom 44. Grade an sehr stark ist. Man erblickt das Land zwey Tage früher, als man es vermuthete, und die Ströme führen einen schon gegen die unbekannte Küste. Hinzu kommt noch, dass wegen des beständigen Regens […] die Sonne oft in drey bis vier Tagen nicht zum Vorschein kommt […] In dieser kritischen Lage sollten genaue Ortsbestimmungen denjenigen zu Hülfe kommen, die ihre eigene Länge chronometrisch oder durch Mondsdistanzen kennen.

78Es folgen die Angaben der Fehler der verschiedenen Karten der Region, die Humboldt verwendete.

Es ist schwer zu begreiffen, wie die Lage so wichtiger Puncte so lange hat zweiffelhaft bleiben können, wie man so lange nicht gewusst hat, ob man, von Europa kommend, Tabago früher oder später als Trinidad erblicke […][80] [80] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 39–41, offenbar von Oltmanns aus Humboldts Tagebuch ART I übernommen (Bl. 84v).

79Das Zitat wurde offensichtlich nach einer längeren Passage in ART I verfasst (Bl. 83v).

80Zur Diskussion über die Verwechslung der Inseln Trinidad und Tobago folgen im Tagebuch Notizen zu den damals bei der Marine gebräuchlichen Karten, zum Teil in Randbemerkungen (was bedeutet, dass sie eventuell nach der Rückkehr eingetragen wurden). Leider würden die Karten manchmal die Konfusion eher vermehren. Humboldt verwendete unterwegs und diskutierte in ART I folgende Karten:

    Französische Karten:

  • „Amérique Méridionale“ (Anville 1748)
  • „Carte réduite des parties connues du globe terrestre“ (Bellin 1754),
  • „Carte réduite du golfe du Mexique et des isles de l’Amérique“ (Bellin 1774),
  • „Atlas de toutes les parties connues du globe terrestre“ (Bonne 1782),
  • „Carte générale de l’Océan Atlantique“ (Anonym 1786, verbessert 1792).

    Englische Karten:

  • „Chart Of The West Indies And Spanish Dominions In North America“ (Arrowsmith 1803),
  • „A New Map of the Island of Trinidad“ (Faden 1797),
  • „West-India Atlas“ (Jefferys 1783) und „A complete Pilot for the West-Indies“ (Jefferys 1792).

81Karten sind ebenso wie die Methodik der Ortsbestimmungen ein immer wiederkehrendes Thema in Humboldts Tagebüchern. Manche Karten waren nur in handgezeichneter Form erhältlich und wurden immer wieder kopiert. Humboldt schrieb dazu in seinem Reisewerk:

Man kann die Steppen und Savannen des südlichen Amerika nicht durchwandern, ohne die Hoffnung zu nähren, eine Zeit werde kommen, wo die Vorteile nicht ungenutzt bleiben, die diese Gegend vor allen anderen auszeichnet für die Messung von Graden des Erdbogens in der Richtung des Meridians oder einer zum Meridian senkrechten Linie. Die weite Ausdehnung von Ost nach West würde besonders die Messung einiger Längengrade ungemein erleichtern. Für die genaue Kenntnis der Figur der Erde müsste diese Arbeit von großer Wichtigkeit sein. Die Llanos von Venezuela liegen 13° östlich der Orte, wo […] die französischen Akademiker durch auf die Gipfel der Cordilleren gestützten Dreiecke […] ihre Messungen vornahmen […] Die spanisch-amerikanischen Regierungen dürfen keineswegs etwa glauben, die geplanten […] Operationen in den Llanos böten nur ein rein wissenschaftliches Interesse dar; diese Arbeiten können gleichzeitig die Hauptgrundlage der Karten werden, ohne die jede wohlgeordnete Staatsverwaltung unmöglich ist.

82Er fasste seine eigenen Arbeiten für den Zweck der Kartenherstellung zusammen:

Die wichtigsten Orte hat man nach den Koordinaten Breite, Länge und Höhe fixiert. Die Zwischenpunkte wurden chronometrisch mit den Hauptpunkten verbunden. Der sehr gleichmäßige Gang der Chronometer in den Booten und die seltsamen Krümmungen des Orinoco haben diese Verbindung erleichtert. Durch Zurückbringung des Chronometers zum Ausgangspunkt, durch doppelte Beobachtung (auf Hin- und Herreise) eines Zwischenpunkts, durch Anbindung der Endpunkte der chronometrischen Linien voneinander weit entfernter Orte […] ist es gelungen, die Summe der Irrtümer, welche begangen werden könnten, abzuschätzen. Auf solche Art habe ich (und vor mir war im Binnenland keinerlei Längenbestimmung ausgeführt worden) astronomisch aneinandergefügt […] eine Oberfläche von mehr als zehntausend Quadratlieues.[81] [81] Humboldt 1997, III, 248.

83Bei den genannten französischen Karten initiierten oft wissenschaftliche Fragestellungen (wie z. B. im 18. Jh. die nach der Gestalt der Erde oder die Überprüfung von Längenuhren) ihre Entstehung. So waren La Condamine und Maupertuis von der Académie francaise an zwei weit voneinander entfernte Regionen der Erde gesandt worden, um Meridianvermessungen vorzunehmen. Der Kartograph Anville unterstützte Condamine bei seinem Reisewerk über Südamerika und erstellte dafür Karten, von denen Humboldt eine benutzte.

84Ein anderer französischer Kartograph, R. Bonne, schuf 1770 einen Atlas für Raynals berühmte Histoire des deux Indes, aus dem Humboldt einige Karten im Tagebuch zitiert, darunter auch eine, die die korrekte, nämlich viereckige Form der Insel Trinidad zeigte, im Gegensatz zu der französischen Karte von 1786 und 1792, die zwar laut Humboldt in der Schifffahrt sehr gebräuchlich seien, aber die Form verfälschten. Aber:

Bonne verbesserte in seinem Atlas für Raynal […], die grosse spanische Charte, indem er dem Canal 9 statt 4 ¼ lieues Breite gab: man weiss auf der ganzen Küste, dass sie 10 lieues beträgt. Es scheint, als wären beyde Inseln dazu bestimmt, geographische Irrthümer zu erwecken.[82] [82] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 41.

85Die Karte von Bellin dagegen, angefertigt für den französischen Minister Herzog von Praslin, sei ganz falsch: sie zeige Tobago östlich von Trinidad!

86Auch die Lage der kleinen, der Küste nahe der Halbinsel Margarita vorgelagerten Inseln Coche und Cuagua war unsicher. Da bei der Ankunft auf Grund von fehlerhaften Angaben Humboldts Schiff einen falschen Weg nahm, hatte man es für ein englisches Kriegsschiff gehalten,

[…] denn Spanier die von Europa kommen, gehen in dem seichten Kanal zwischen Coche und der terra firma nicht durch. Diese gehen immer nördlich von Coche. Uns machte die Unwissenheit immer originell. Was wir für Marguerita hielten, war nemlich die Insel Coche und Marguerita lag nördlich dahinter, ein sehr hohes! Gebirgsland […] [Sowohl die Manuskriptkarte von Caymaxi als auch die französische Karte machten hier völlig falsche Angaben; UL:] In der Natur lagen dort 2 Inseln Coche und Cubagua[,] erste östlicher. Man weiss nicht welche gemeint ist. (Bl. 30v–31r)

87 Große Ansicht (Digilib)Abb. 3: ART VII bb u. c, Bl. 485r (Quelle: Staatsbibliothek zu Berlin - PK, http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB000152B400000946, CC BY-NC-SA 3.0) Anscheinend bewog das Humboldt, selbst eine Karte zu skizzieren, auf der man die Küstenlinie vom Golfo triste bis nach Cumaná, die Halbinsel Araya, die Insel Margarita und die vorgelagerten kleinen Inseln Coche und Cuagua sieht.[83][83] ART VII bb u. c, Bl. 485r, zitiert nach Humboldt 2000, 369.

88Auch die englischen Karten von Arrowsmith und Faden wurden von Humboldt kritisiert, insbesondere was die Angaben der vier die Form der Insel Trinidad charakterisierenden Kaps betrifft. Sie würden auf unrichtigen Angaben beruhen, obwohl Faden doch bereits Churrucas und Fidalgos Ergebnisse mit eingearbeitet hätte.[84][84] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 41.

89Fidalgo war Leiter der spanischen Expedition zur Kartographierung der Küsten Venezuelas und der Antillen. Nach acht Monaten trennten sich die Expeditionsteilnehmer auf Trinidad: Churruca begab sich nach Puerto Rico und Havanna, Fidalgo vermaß die Nordküste von Südamerika. Er hielt sich lange in Cumaná auf und hatte dem Gouverneur Vicente Emparán eine Karte gegeben, in die einige Breiten eingetragen waren, die Humboldt mit seinen eigenen Messungsergebnissen verglich. Er stellte eine gute Übereinstimmung fest, wie er überhaupt nur lobende Worte über dessen Karte fand:

Meine Beobachtungen harmoniren sehr schön mit den von Fidalgo angestelten […] Die beiden Fregatten-Capitaine, Don Cosme Churruca und Don Joaquin Francesco Fidalgo, kamen im Jahr 1793 mit vier Brigantinen, fünf Chronomtern, vortrefflichen Quadranten von Ramsden, Theodoliten und Sextanten versehen, auf die Küsten der Insel Trinidad. Sie hatten von der Regierung des Auftrag erhalten, einen Atlas von Südamerica […] zu bilden. […] Alle ihre Längen wurden durch Chronometer festgesetzt […] Sie legten über dieses Schloss [San Andres am östlichsten Punkt der spanischen Kolonien] den ersten Meridian des spanischen America’s, auf den sie in der Folge alle übrigen Positionen bezogen [… Fidalgo nahm] die Küste von Terra Firma, von Bocca de Dragos an bis nach Portobello auf. Jede noch so unbesuchte Bucht wurde mit der ängstlichen Sorgfalt sondirt, und wenige Aufnahmen haben sich solcher Genauigkeit zu erfreuen. Der Krieg und Mangel an Fonds haben diese, für alle Nationen so wichtige Arbeit unterbrochen. [85] [85] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 87–88.

90Das zeigt, wie Humboldt an Informationen gelangte: er maß nicht nur selbst, sondern versuchte, an vorhandene Messdaten zu gelangen, um diese mit seinen eigenen zu vergleichen. Er hatte nun zwar einige Breitenangaben aus seinen Küstenmessungen vor der Ankunft und dann später von der Expedition nach der Halbinsel Araya, aber ihm fehlte noch die genaue Länge von Cumaná. „Einige Wochen nach meiner Ankunft zu Cumaná, sah ich einen Plan von einem Theil des Golfs von Cariaco, auf welchen folgende Note meine Aufmerksamkeit auf sich zog,“ so zitiert Oltmanns aus Humboldts Tagebuch.

Diese Note zeigte mir zwar den geringen Unterschied (von 4″) in meiner und Fidalgo’s Breitenbestimmung; allein ich blieb länger als einen Monath hindurch in der peinlichen Ungewissheit über die Länge von Cumaná, indem ich die absolute Lage von Puerto España nicht kannte. Glücklicherweise fand ein junger Mann, der bey Fidalgo als Pilote angestellt war, unter seinen Papieren eine Note, worauf Fidalgo bemerkt hatte, dass die Punta de Galera 37′ 32″ östlich von Puerto de España liege […][86] [86] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 88–89, nach Bl. 83v–84r.

91 Große Ansicht (Digilib)Abb. 4: Churruca y Elorza, Cosme Damian de, 1761-1805. Carta esférica de las Islas Antillas con parte de la Costa del Continente de América [material cartográfico]: trabajada de orden del Rey por los Capitanes de navío de su Rl. Armada Dn. Cosme Churruca y Dn. Joaquín Franco Fidalgo. Mapoteca (Quelle: Biblioteca Nacional Digital de Chile http://www.bibliotecanacionaldigital.cl/bnd/631/w3-article-350460.html). Daraus konnte Humboldt, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sein Chronometer Madrider Zeit trug, Fidalgos dagegen die von Cadiz, auf die Länge von Cumaná schließen, und konstatierte erneut eine „harmonie plus belle.“ (Bl. 83v–84r) In Cartagena traf Humboldt später, im April 1801, noch das Expeditionsteam von Fidalgo, mit dem er seine Ergebnisse durchsprechen und vergleichen konnte.

Fidalgo und [sein Mitarbeiter] Noguera, […] haben Punct für Punct, die Resultate meiner Beobachtungen mit den ihrigen verglichen. Ich fürchtete, ich muss es gestehen, dass diese strenge Prüfung nicht zu meinem Besten ausfallen möchte. Allein Noguera versicherte mich in einem besonderen Schreiben, dass er sich sehr über die grosse Harmonie gefreut, welche zwischen meinen französischen und ihren englischen Chronometern Statt gefunden habe.[87] [87] Humboldt/Oltmanns 1810, I, 89.

92Für die Expeditionen ins Inland suchte Humboldt vor allem Informationen über den Verlauf des Orinoco, über den die wildesten Spekulationen kolportiert wurden, z. B. von dem sagenumwobenen See Parime. Die von Humboldt hier benutzten Karten waren meist Ergebnisse der spanisch-portugiesischen Grenzexpedition 1754–1761. Es sei „deutlich, dass der aus dem politischen Meinungsstreit zwischen Spanien und Portugal über die Grenzen in Südamerika entstehende Gewinn hauptsächlich auf dem Gebiet der Geographie lag“, schrieb Faak.[88][88] Humboldt 2000, 488.

93Humboldt besaß Kopien der Karten von La Cruz, Caulín, Surville und Solano. Caulíns Werk[89] war bekanntlich eine der wichtigsten Quellen für die Orinocoregion. Antonio Caulín war zuerst Missionar in Nueva Barcelona, dann Visitator und Chronist der Missionen im Süden des Landes und er begleitete zeitweise die spanisch-portugisische Grenzexpedition. Als Humboldt in Venezuela ankam, war Caulín jedoch längst nach Spanien zurückgekehrt.. Caulín hatte für sein Werk ursprünglich Karten der Grenzexpedition nehmen wollen. Da diese bei Erscheinen des Buches jedoch bereits veraltet waren, wurde Surville (im Archiv der Secretaría de Indias) mit der Herstellung einer neuen Karte beauftragt, die dem Werk beigegeben wurde, aber auch separat erschien.[90] Caulíns Karte bezeichnete Humboldt 1800 als „die zur Zeit beste auch wenn alle Namen falsch sind“. Er meint hier vermutlich nicht Survilles Karte, denn an dieser übte er laut Faak umfassende Kritik: [89] Caulín 1779. Das Exemplar aus Humboldts Besitz befindet sich heute in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Diese Tatsache und das Folgende nach Faak in Humboldt 2000, 331 und 499.[90] Surville 1778.

Humboldt führte auf der Orinocofahrt von ihr wie von La Cruz’ Karte Kopien mit sich, das geht aus der Bemerkung in der Relation historique hervor, in der er berichtet, dass sie in Esmeralda den alten Militärposten Kopien der Karten von Surville und La Cruz gezeigt hätten. Diese hätten gelacht, als sie ihnen die angebliche Verbindung des Orinoco mit dem Río Idapa und das ‚weisse Meer‘ [die ‚Laguna de Parime‘] gezeigt hätten, durch die der Orinoco fließen soll.[91] [91] Humboldt 2000, 489, hier auch mehr zur Geschichte der Karte von La Cruz y Olmedilla sowie der Hinweis, dass sich die Karte aus Humboldts Besitz heute in der National Geographic Society in Washington befindet.

94Vermutlich handelt es sich eher um die „Copie de la Carte de Surville“, die sich heute in den Tagebüchern befindet.[92] [92] ART IV, Bl. 108v, vgl. Humboldt 2000, 331.

95Diese Beispiele mögen genügen, um Humboldts Arbeitsweise zu illustrieren: begierig nahm er unterwegs alle ihm zugängliche Informationen auf, mündliche und schriftliche, und verglich diese mit seinen eigenen Messungen oder Berechnungen in seinen Tagebüchern.

Schluss

96Humboldts „Nomadenleben“[93], der Reisestil des Nomadisierens, scheint auch auf die Tagebücher zuzutreffen, denn in ihnen treten Humboldt’sche Charakterzüge zutage: sich für alles zu interessieren, ruhelos das nächste, vielleicht noch interessantere Ziel anzusteuern, sich nicht von Schwierigkeiten auf dem Weg beirren zu lassen, Möglichkeiten für Ab- und Umwege zu ergreifen, sämtliche Informationen aufzusaugen, ständig zu messen, zu berechnen und Zahlenreihen zu notieren. Aber zwischen den Messreihen und Fakten im Tagebuch wird auch der private Alexander von Humboldt sichtbar. Wenn man auch häufiger in seinen Briefen Gefühlsäußerungen findet, so kann man diese ebenfalls, wenn auch seltener, in den Reisejournalen entdecken, beispielsweise am Vorabend der lang ersehnte Abreise aus Spanien: [93] Humboldt 1987, 47.

Die Nacht vom 3ten zum 4ten ward sehr unruhig zugebracht. Wir glaubten die lezte Nacht auf europ[äischem] Boden zu schlafen […] Meine Stimung war gut, wie sie sein muß wenn man ein großes Werk beginnt. (Bl. 2r–v)

97Besonders emotional reagierte er auf die Sichtung der Insel Graciosa (die man erst für Lanzarote hielt), der ersten Station in der fremden Ferne:

Wir lagen nun vor einem tiefeinschneidenden Busen, ganz in der Lage der ersten Entdekker. Die Küste sah einsam und öde aus […] Wir erhielten Erlaubniß mit ins Boot zu steigen, mit welchen Empfindungen läßt sich nicht ausdrükken. Die Idee afrikan[ischen] Boden zu betreten, ein Land, das man sich immer so fern denkt, die Möglichkeit wundersame Thier- und Pflanzengestalten zu sehen[…] Unsere Einbildungskraft war aufs angenehmste gespannt. Mit welcher Lust wir uns 3 St. vorher beschäftigten, unsere Pflanzenbüchsen, Thermometer, Salpetersäure u. Fäustel zusammenzupacken. Der erste, der zweite, der dritte Schritt den wir an Land thun würden, daß der eine rechts der andre links gehen müsse, um mehr zu finden, alles war im voraus calculirt. Man muß sich in dieser Lage befunden haben, um sie ganz zu empfinden. (Bl. 10r)

98Seine Empfindungen äußern sich auch in Erinnerungen an die Zurückgelassenen.

Ich grub mein […] kleines Thermometer, welches Wilhelm so lange gehabt (es ist mir darum so lieb) in den weißen Sand […] Ich schreibe alle diese Umstände mit Sorgfalt nieder, weil sie (der erste Schritt auf nicht europ[äischem] Boden ewig dieselbe Wichtigkeit für mich haben werden als die erste Kinderreise vom Lande in die Stadt. (Bl. 10v)

99Besonders bei Gesteinsbeschreibungen findet man oft Vergleiche mit Funden seiner kurzen Reisen durch Deutschland: Reminiszensen, die ihn zu ersten Versuchen der theoretischen Verallgemeinerung der Formbildung führten (Bl. 13v).

100Trotz dieser positiven Stimmung wurde er unterwegs auf dem Meer doch manchmal nervös, wenn von ferne Schiffe gesichtet wurden: welcher Nationalität gehörten sie an? Vielleicht englische, also feindliche Schiffe? Oder sogar Korsaren, d. h. Piraten, die in den kriegerischen Zeiten die Meere besonders unsicher machten? Spanien hatte sich seit 1795 mit der französischen Republik im Krieg befunden, der zwar durch den Vertrag von Ildefonso 1796 beendet worden war, aber seitdem gab es Auseinandersetzungen mit England, die in dieser Zeit Eroberungen im pazifischen Raum machten, z. B. 1797 die Insel Trinidad.

101Am dritten Tag notierte Humboldt: „Man wird jede Gefahr gewohnt“ (Bl. 4r). Mehr als ein Jahr später wurden er und Bonpland nahe der Küste von Venezuela ja dann wirklich von einem Korsaren gefangen genommen. Die Geschichte fand jedoch, wie oben beschrieben, ein glückliches Ende.

102Humboldt scheint wirklich Tag und Nacht mit Instrumenten bewaffnet in den Himmel gesehen zu haben. Aber er hat die Natur nicht nur vermessen, sondern auch gefühlvoll empfunden und poetisch beschrieben, beispielsweise in den Passagen zur Farbe des Himmels und des Meeres. So notierte er, kurz nach der Messung des spezifischen Gewichts des Wassers:

Seewasser dabei noch immer schön indigoblau, durch eine kleine Öffnung (z. B. im Abtritt gesehen) von Schönheit und Reinheit der Farbe, wie ich nie ein blau sah. Wellen mit leichtem Schaum […] (Bl. 5v)

103Noch mehr faszinierte ihn das Himmelsblau und der nächtliche Sternenhimmel:

Himmel ganz blau u. unendlich schön. […] Und das Licht welches die volle Mondscheibe ausgoß! Die Höhe trägt viel zu der Klarheit bei. Wie man die kleinste Schrift bei diesem Mondlicht ohne Mühe las. Zahllose Sternschnupfen fielen aus unbewölktem Himmel […] (Bl. 8r)

104Überraschende Ausblicke ließen ihn die Natur wie ein Theaterschauspiel erleben:

Die Sonnenscheibe war für uns noch nicht sichtbar, als plötzlich das dikke Gewölk zerriß. Durch diese Öfnung erschien der Himmel in lieblicher Bläue u. mitten in dieser Bläue, als gehörte er nicht der Erde zu, als wäre die Aussicht in eine fremde Welt eröfnet, der Pic von Teyde in seiner ganzen Majestät […] Die schwarzen krausen Wolken welche das Bild einschlossen, machten den schönsten Contrast gegen die Fülle des röthlichen Lichts welche die ersten Sonnenstrahlen ausgossen. (Bl. 15r)

105Während der langen Überfahrt stimmte ihn der nächtliche Anblick des Kreuzes des Südens melancholisch:

Nachts sah ich zum ersten Male […] das südliche Creuz das auch mehrere Matrosen kannten u. freudig begrüßten, da sie es (wie sie sagten) so lange nicht gesehen u. es nach ihren relig[iösen] Ideen in großem Ansehen steht. Mit welchen Rückerinnerungen heftete ich meine Augen auf dies liebe Gestirn. Wilhelm, Li, Burgörner, stets unterhaltene Träume der Jugend[…] Also auch dieser Wunsch erfüllt, aber nicht für Euch Ihr Theuren Abwesenden. (Bl. 21v)

106Ein kaum entzifferbarer kurzer Textanfang über „Traurigkeit auf dem Meere, drei lange Tage habe ich in Stimmung von Wehmut zugebracht“ wurde von Humboldt gestrichen.

107Faszinierend ist die Vorstellung, wie Humboldt nach dem Essen in der Hängematte (vermutlich in Cumaná) „wie gewöhnlich nach Tische Taciti Annalen las“ (Bl. 34r), aus denen er dann auch im Zusammenhang mit dem Thema Sklaverei zitierte (Bl. 58r). An dieser Stelle mit Beispielen zur besonders grausamen Behandlung von Sklaven ist Humboldts Betroffenheit deutlich spürbar:

Unbegreiflich daß Herrenmord so selten. […] Dadurch dass man von Gerichts wegen züchtigt [ist die] Sache der Sklaven fast noch schlimmer geworden.[94] [94] Vgl. Alexander von Humboldt: Isle de Cube. Antilles en général.

108Positivere Gefühlsregungen finden wir in der Beschreibung seines Aufenthalts auf dem britischen Schiff mit dem höflichen Kommandanten Garnier, als sie gerade der bereits beschriebenen Gefahr entronnen waren: „Wir brachten an diesem Bord den interessantesten Abend zu, den ich seit einem Jahr unter gebildeten Menschen gefunden“[95]. Humboldt genoss sichtlich das Gespräch mit einem Gleichgesinnten, das er vermisst hatte. Noch stärker betont als im Tagebuch wird das Besondere dieser Begegnung in der Rückschau der vermutlich etwa 20 Jahre später geschriebenen Passage der Reiseschilderung: [95] ART V, Bl. 3r, zitiert nach Humboldt 2000, 392.

Wenn man aus den Wäldern des Casiquiare zurückkommt und monatelang gleichsam in den engen Kreis der Missionare gebannt war, so fühlt man sich glücklich beim ersten Zusammentreffen mit Männern, die auf Seereisen ihren Ideenkreis mannigfach zu erweitern fähig waren. Ich verließ das britische Fahrzeug mit Empfindungen, die nicht erloschen sind und die mich die Laufbahn, welche ich erkoren hatte, noch mehr lieben ließen.[96] [96] Humboldt 1997, III, 263.

Anmerkungen

Die Erstellung der Datenbestände der edition humboldt digital ist ein fortlaufender Prozess. Umfang und Genauigkeit der Daten wachsen mit dem Voranschreiten des Vorhabens. Ergänzungen, Berichtigungen und Fehlermeldungen werden dankbar entgegengenommen. Bitte schreiben Sie an edition-humboldt@bbaw.de.

Zitierhinweis

Leitner, Ulrike: „Ich habe es mir zur Pflicht gemacht, alle angestellten Beobachtungen ohne Auswahl in mein Tagebuch einzutragen.“ . Über die Neuausgabe der amerikanischen Reisejournale, 1. Band (ART I). In: edition humboldt digital, hg. v. Ottmar Ette. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. Version 3 vom 14.09.2018. URL: https://edition-humboldt.de/v3/H0016432


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Über die Autorin

 

Ulrike Leitner

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

leitner@bbaw.de

Ulrike Leitner ist Mathematikhistorikerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Vorhaben „Alexander von Humboldt auf Reisen - Wissenschaft aus der Bewegung“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Schwerpunkte ihrer Tätigkeit sind die Bibliographie der Werke Alexander von Humboldts und die Edition seines handschriftlichen Nachlasses: Tagebücher, z. B. Alexander von Humboldt: Von Mexiko-Stadt nach Veracruz - Tagebuch (Humboldt 2005) und Korrespondenzen, z. B. Alexander von Humboldt – Friedrich Wilhelm IV. – Briefwechsel (Humboldt 2013).