I. Die drei Reiche der Natur in ART I und ihre jeweiligen Kontexte[1]

[1] Für wertvolle Hilfe danke ich Ulrich Päßler (BBAW) und Simon Rebohm (Leopoldina), der zudem die lateinischen Übersetzungen korrigierte. Wichtige Grundlage dieses Beitrags sind die Publikationen von Hans Walter Lack, des langjährigen Direktors am Botanischen Garten und Botanischen Museum Berlin-Dahlem und damit auch der traditionell zu dieser Institution gehörenden Sammlungen. Ohne seine Vorarbeiten wäre dieser Beitrag so nicht möglich gewesen. Mein besonderer Dank gilt zudem der Leitung und den Mitarbeitern im Botanischen Garten und Botanischen Museum Berlin (BGBM) für die Hilfe bei der Quellen- und Literaturrecherche, insbesondere für die Gewährung einer Einsichtnahme in die Kopien des Journal Botanique von Aimé Bonpland. Die Handschrift wird in der Bibliothèque Centrale des Muséum National d’Histoire Naturelle in Paris aufbewahrt (MS 1332–1334, MS 2534 und MS 53–54). Ausgewertet wurde das mit der Nummer 1 beginnende Heft (MS 1332; hier: JB I). — Für die Durchsicht des Manuskripts danke ich Tobias Kraft, Eberhard Knobloch, Hans Walter Lack, Ulrike Leitner, Ulrich Päßler und Florian Schnee. Besonders zu danken habe ich Eberhard Knobloch für die Schlusskorrektur der Übersetzungen aus dem Lateinischen und Hans Walter Lack für die Hinweise aus der Sicht des Botanikers.

1In dem ersten der insgesamt neun Amerikanischen Reisetagebücher Alexander von Humboldts, das hiermit erstmals vollständig und in digitaler Form ediert vorliegt, finden sich – vermischt mit Reisebeschreibungen und Anekdoten, Ergebnissen barometrischer, erdmagnetischer und astronomischer Messungen sowie Schilderungen von Lebensweisen[2] – Erwähnungen zahlreicher Mineralien, Pflanzen und Tiere.[2] Vgl. die Charakterisierung der Amerikanischen Reisetagebücher von Margot Faak in Humboldt 2003, 27–28. sowie den Beitrag von Ulrike Leitner.

2Mineralien stehen zumeist im Kontext geologischer Beschreibungen von Inseln oder Landstrichen, insbesondere von Gebirgsformationen. Ein Beispiel hierfür ist die geologische Beschreibung der kanarischen Insel Graciosa, auf der die Reisenden am 17. Juni 1799 landeten und wo Humboldt erstmals außereuropäischen Boden betrat (vgl. ART I, Bl. 10v–11r[3]).[3] ART steht in dieser Einführung für „Amerikanisches Reisetagebuch“, die römische Ziffer für die Nummer des Tagebuchs, die arabischen Ziffern für die Blattnummer, r für recto (Vorderseite) und v für verso (Rückseite) des Blattes. Zur Verbesserung der Lesbarkeit wird im fortlaufenden Text den Zitaten aus ART I lediglich die Blattnummer in Klammern nachgestellt.

3Pflanzen sind teils Gegenstand ausführlicher Beschreibungen, die der Identifikation einer (neuen) Art dienen, teils begegnet man ihnen im Zusammenhang der Darstellung von (Land-)Wirtschaft, Kultur und Lebensbedingungen. So etwa lesen wir zu Santa Cruz auf Teneriffa, wo Humboldt und Aimé Bonpland[4] am 19. Juni 1799 eintrafen: „In den engen Querstraßen zwischen den Gartenmauern bilden überhängende Palm[-] u[nd] Pisang-blätter schattige Bogengänge“ (Bl. 18v). Die Beschreibung von Plätzen und Spazierwegen geht bisweilen über in vergleichende botanische Betrachtungen: „[…] eine wahre Lameda mit Pappeln alameda (sie schienen uns von der großblättrigen Canad[ischen] verschieden) bepflanzt.“ (Bl. 17v) Besonders ausführlich sind die Bezugnahmen auf Pflanzen auch dort, wo die Betrachtung des Einflusses unterschiedlicher klimatischer Bedingungen auf die Vegetation nicht nur Teil einer Pflanzengeographie ist,[5] sondern auch und eigentlich einer Kulturgeschichte der Menschheit.[6] Eine Besonderheit stellt die Liste von neun durchnummerierten pflanzlichen Heilmitteln unter der Überschrift „Materia medica Indor[um]“ dar, die in den indigenen Kulturen zu medizinischen Zwecken eingesetzt wurden, inklusive der Darstellung ihrer Gewinnung, Herstellung, Darreichungsform und der Art ihrer Anwendung (Bl. 75r). [4] In seinem Brief an Willdenow vom 21. Februar 1801 aus Havanna stellt Humboldt seinen „Reisegefährten Alexandre Bonpland“ vor (ehp: Humboldt 2020, 120; https://edition-humboldt.de/H0001181/5r). [5] Vgl. hierzu den Themenschwerpunkt „Pflanzengeographie und Biowissenschaften“ in der edition humboldt digital sowie den Band zur Geographie der Pflanzen in der edition humboldt print (ehp III, 1; Humboldt 2020), beides herausgegeben von Ulrich Päßler. [6] Vgl. ART I, Bl. 50r–54v sowie den Abschnitt „Menschheitsgeschichte und Pflanzengeschichte“ im Beitrag von Ulrich Päßler in Humboldt 2020, 8; https://edition-humboldt.de/H0016431.

4Tiere werden ebenso wie die Pflanzen als Teil von Lebensbedingungen und Alltag beschrieben. So etwa hebt Humboldt die Hammelzüchtung auf der Kanareninsel Hierro als bedeutendsten Teil der dortigen Landwirtschaft hervor (Bl. 8v) oder auch die sich von den europäischen unterscheidenden Nutztiere in Santa Cruz: „Alle Straßen wimelten von schönen weißen Kamelen, die hier so gemein als in Spanien die Maulesel sind.“ (Bl. 18r)

5Doch auch im Tierreich war die Identifikation der Arten, mit dem Ziel der Beschreibung und Entdeckung neuer Arten, ein wichtiges Ziel der Forschungsreise. Die gleich am Anfang des Tagebuchs (Bl. 1v) befindliche, hier erstmals edierte Liste der „Mammalia americana“ (amerikanische Säugetiere) gibt Einblick in die Reise- und Forschungsvorbereitung. Humboldt nämlich hatte aus der 13., von Gmelin neu bearbeiteten Ausgabe des Systema naturae Linnés[7] jene Gattungen und Arten ausgezogen, als deren Lebensraum in diesem Werk der amerikanische Kontinent vermerkt ist (z. B. „Habitat in America“, ggf. mit den Zusätzen „meridionali“ (südlich) oder „septentrionali“ (nördlich)). Dabei folgte er der Linné’schen Ordnung: beginnend mit Mensch und Affe (Homo, Simia), endend mit Walen und Delphinen (Physeter, Delphinus), wobei letztere Gattung vermutlich einem später vorgenommenen Herausschneiden des mittleren Drittels der Seite zum Opfer fiel. Die Art der Notierung – besonders leserlich, möglichst platzsparend, übersichtlich strukturiert – gibt der Liste den Charakter eines ‚Spickzettels‘, wenngleich Größe und Zustand des Blattes nicht für eine solche Verwendung sprechen. Gleich dem fliegenden Vorsatzblatt eines Buches gehörte das erste Blatt des Tagebuchbandes mit zum Einband, wurde zu Beginn der Eintragungen übersprungen und später als leicht nachzuschlagender Ort für spezifische Notate genutzt.[8][7] Vgl. Linné/Gmelin 1788–1793, 3 Bände in 10 Teilen. Die Exzerpte Humboldts aus I.1, 28–227. [8] Vgl. zur materiellen Geschichte der Amerikanischen Reisetagebücher: Erdmann/Weber 2015. – Vgl. zur kodikologischen Untersuchung der Tagebücher: Bispinck-Roßbacher 2015.

6Folgt man den einfachen und doppelten Unterstreichungen sowie weiteren Auszeichnungen, so wird der Grad der Vorbereitung auf die Forschungsreise deutlicher. Dienen nämlich die einfachen Unterstreichungen der Gattungsnamen wohl lediglich der Strukturierung der verknappten Liste, so markieren die doppelten Unterstreichungen einzelner Arten bereits die prospektive Reiseroute: Deren Lebensräume reichen von „Carthagenae in America“ und „calidioribus regni Mexicani[9] bis zu den nicht mehr bereisten Regionen im Süden („littus Chilense[10]) und Norden („in California reliquaque America occidentali“[11]) sowie „Groenlandia et Newfoundland“. Darüber hinaus verweisen die mit einem Fragezeichen versehenen Artepitheta auf solche Arten, die ursprünglich nicht in Amerika heimisch waren (Neozoen) und, z. B. über Schiffe, eingeschleppt wurden. Hierzu zählen „Mus rattus“ und „Mus musculus“. Zu ersterer notiert das Systema naturae: „Habitat in Persia et India, nunc etiam, boreali parte excepta, in Europa, ex qua per naves in Africam et Americam delata esse fertur“;[12] der Eintrag zu „Mus musculus“ lautet: „Habitat in domibus Europae et Asiae mediae, nunc etiam Americae“[13].[9] „in den heißeren [Regionen] des mexikanischen [König-]Reiches“. [10] litus: Strand, Ufer. [11] „In California und dem übrigen westlichen Amerika“. – Vgl. auch den Brief an Karl von Moll vom 5. Juni 1799 aus La Coruña, wo er ausdrücklich (das historische) „Californien“ als geplantes Reiseziel anführt (Humboldt 1993, 33); ebenso in den Briefen an David Friedländer, Madrid, 11. April 1799 (Humboldt 1973, 657) und an Willdenow, Aranjuez, 20. April 1799; La Coruña, 5. Juni 1799 (ehp: Humboldt 2020, 116; https://edition-humboldt.de/H0001181/2v). [12] „Wohnt in Persien und Indien, nun auch, den nördlichen Teil ausgenommen, in Europa, sie [Mus rattus] soll aus ihm mit Schiffen nach Afrika und Amerika gebracht worden sein.“ Linné/Gmelin 1788–1793, I.1, 128. [13] „Wohnt in den Häusern Europas und des mittleren Asiens, nun auch Amerikas.“ Linne/Gmelin 1788–1793, I.1, 129.

7Nicht nur die Pflanzen, auch die Tiere wurden zum Gegenstand eingehender Analysen und Vergleiche, insbesondere dann, wenn sie herausragende Besonderheiten aufzuweisen hatten. Die sich auf die Schwimmblase fliegender Fische beziehende Untersuchung gibt einen guten Einblick in die Forschungspraxis:

In diesen Tagen zahllose fliegende Fische Exocoetus volitans L[INNAEUS] von denen aber nur wenige doch an 10 Fuß hoch über Bord kamen. Zur Untersuchung erhielten wir nur bis jezt einen sehr jungen, den Bonpland anatomirte. Wir wollten Luft in der Schwimmblase untersuchen, bei den starken Schwankungen des Schifes verunglükte aber der Versuch. ([spätere Randnotiz:] „in anderen 0,02 oxyg[yn]“) Merkwürdig scheint immer die ungeheure Größe der Schwimblase in dem Exocoetus. Der Fisch hatte nur 6,5 Zoll (Pariser) Länge u[nd] seine lange Schwimmblase hatte 3,5 u[nd] 0,9 Zoll Dikke. Sie hielt über 3,7 Kub[ik] Zoll Luft. Auch in diesem Fische beweist die Lage zwischen dem Gerippe u[nd] anderen von Fischer in seinem Werke auseinandergesezte Gründe daß die S[chwimm] b[lase] nicht um 0.001 das Volumen des Fisches verändern kann. Aber ohne diese Veränderung hilft dem Exocoetus die große Sch[wimm]bl[ase] | doch gewiß zum Fliegen. Sie vermehrt seine Leichtigkeit, da das Thier gut auf ⅔ ein mit Luft gefüllter Schlauch ist. Man muß die Sch[wimm]bl[ase] der nördlichen fliegenden Fische des Trigla volitans u[nd] T[rigla] hirundo untersuchen. (Bl. 20r–20v)

8Sehr sichtbar werden hier die einzelnen Elemente der wissenschaftlichen Analyse: Fragestellung, Untersuchung, Schwierigkeiten bei der Durchführung von Messungen, Messergebnisse, Vergleiche mit den Resultaten der bisherigen Forschung,[14] eigene Hypothesen und schließlich Forschungsdesiderate, in diesem Fall ein Vergleich mit fliegenden Fischen anderer Regionen und Gattungen. Die Analyse widmet sich im Weiteren der Art und Technik des Fliegens sowie der Anatomie der Brustflosse, jeweils flankiert von zahlreichen Messergebnissen.[14] Der Sachkommentar verweist auf Fischer 1795.

II. Pflanzenbeschreibungen in ART I

9Große Ansicht (Digilib)„Fucus vitifolius“. Planche LXIX, Humboldt/Bonpland 1808-1813, II (Quelle: Zentralbibliothek Zürich, NF 35 & a | F, http://doi.org/10.3931/e-rara-30036, Public Domain) Doch insbesondere in die konkreten Arbeits- und Denkprozesse botanischer Analysen gewährt das erste Amerikanische Reisetagebuch aufschlussreiche Einblicke, auch wenn „das Pflanzenbeschreiben“, wie Humboldt seinen Mentor in der Botanik, Carl Ludwig Willdenow, wissen lässt, „nur ein Nebenzwek meiner Reise“ ist.[15][15] Brief aus Havanna vom 21. Februar 1801 (ehp: Humboldt 2020, 118; https://edition-humboldt.de/H0001181/3r). – Vgl. auch im Brief an Willdenow aus Havanna vom 4. März 1801: „[…] und daß wir auf einer Reise, die nicht eigentlich botanische Zwekke hat, nicht faul sind.“ (Ebd., 124; https://edition-humboldt.de/H0006053/1v).

10Ein erhellendes Beispiel bietet die Analyse eines (vermeintlichen) Zoophyten, d. h. eines Tieres, das die Gestalt einer Pflanze hat und der in „dem Kanal zwischen den Inseln Allegranza u[nd] S[anta] Clara“ (Bl. 9r) – also zwischen den Kanarischen Inseln Alegranza und Montaña Clara – im Rahmen einer Tiefenprüfung der Schiffsleitung aus großer Tiefe heraufgeholt wurde. Das Exemplar wird gezeichnet, nach den Regeln der Botanik und in der entsprechenden lateinischen Fachterminologie beschrieben, mit ähnlichen Erscheinungsformen bekannter Gattungen und Arten verglichen, gemessen, weitergehend und nun in deutscher Sprache – auch mit Blick auf, teils erstaunliche, Besonderheiten – dargestellt; es werden die Gründe für die Identifizierung (Tier oder Pflanze) genannt und kritisch abgewogen, der konkrete Fundort erwähnt, die Eigenschaften mit den bekannten und in der einschlägigen Forschungsliteratur gelisteten Gattungen verglichen und eine erste vorsichtige – auch widersprüchliche – These, einschließlich eines Namensvorschlags für die Spezies, aufgestellt. Da das Beispiel auch als Leitfaden der weiteren Darstellung von Pflanzenbeschreibungen dienen soll, sei es hier ausführlich zitiert:

In 32 t[oises] Teufe brachte Senkblei einen ungemein merkwürdigen Zoophyten hervor, den wir anfangs für einen fucus hielten. S[iehe] meine Zeichnung … stipitatus, stipite tereti crasso (substantia gelatinoso-calcarea) foliis junioribus alter[o] alteri involutis concauis, adultioribus planis, lobatis, nervosis, margine laceris, utrinque pilosis. Das ausgewachsene Blatt ist schön grasgrün u[nd] den Weinblättern (foliis vitis viniferae) völlig ähnlich, aber sehr dünn, besonders gegen den Rand hin; eine zarte Membran in der man, ganz wie bei den adianthis od[er] dem Gincgo biloba sehr feine parallellaufende, in der Mitte des Blattes sehr nahe gegen den Rand keilförmig auslaufende Nerven entdekt. Zu beiden Seiten besonders an der unteren Fläche sind eine Menge weißlicher Borsten, das alte Blatt 2 Zoll im Durchm[esser]. Die jungen Blätter tütenförmig in einander gefügt, wie ein spadix, am Rande deutlich u[nd] unzerrissen gefranzt u[nd] nur im inneren schön grün gefärbt. Ist dies ein Thier? Sein dikker, kalkartiger Stamm läßt es mich glauben. Physiol[ogisch] merkwürdig ist diese schöne grasgrüne Farbe (ein wahres Weinblatt) in 258 F[uß] Tiefe, wo kein Lichtstrahl dringt — eine Erfahrung mehr zu den vielen der Art die ich gesammelt. Die Wurzel dieses Geschöpfs stand in einem 3 Zoll dikken Stüke steinartigen Coralls worauf Patellen u[nd] lepas. Das ausgewachsene Blatt selbst war mit flustra fol[iacea] hier u[nd] da bedekt. Wohin dieses Wesen classificiren? Ich habe alle Beschreibungen der Zoophythen durchblättert u[nd] keinen Schatten von Aehnlichkeit gefunden. Also fürs erste doch wohl ins Pflanzenreich. Fucus? vitifolius aber gewiß kein fucus, sondern ein neues genus dessen Generation wir nicht kennen. (Bl. 9r)[16] [16] Im IX. Tagebuch findet sich unter der Rubrik „Auszüge aus den nach Europa gesandten Papieren“ eine Kurzfassung dieser Passage: „Merkwürdiges Zoophythum, stipitatum, stipite tereti crasso (substantia gelatinosa-calcarea) foliis iunioribus alter alteri involutis concavis, adultioribus planis, lobatis, nervosis, margine laceris, utrinque pilosis, grasgrün, ausgewachsen dem Weinblatt ähnlich. S[iehe] Zeichnung. Sehr zart, mit Nerven wie im adianthum oder Gingko biloba. [Das] Blatt [hat] 2 Zoll Durchmesser. Junge tütenförmig wie spadix [Kolben/Blütenstand] in spatha [Blumenscheide]. Der kalkartige Stamm läßt glauben, es sei [ein] Thier. Grasgrün in 258 F[uß] tiefe ohne Lichtstrahl! – Wurzel auf Corall voll lepas. Blatt mit flustra bedeckt. Fürs erste wohl im Pflanzenreich zu beschreiben als Fucus vitifolius?“ (ART IX, Bl. 3v; zit. nach Humboldt 2000, 425.) Noch in der Kosmos-Vorlesung an der Berliner Singakademie von 1827/28, genauer: im dritten Vortrag vom 20. Dezember 1827, erwähnt Humboldt dieses Ereignis (vgl. Humboldt/Kohlrausch 2019, 87).

11 Von besonderem Reiz sind hierbei jene Passagen, die nicht einfach die Ergebnisse fixieren, sondern das beständige, bisweilen nachgerade verzweifelt anmutende Ringen um die richtige Erkenntnis authentisch abzubilden scheinen: „Ist dies ein Thier?“ „Wohin dieses Wesen classificiren?“[17] Der Schluss klingt wie eine Pointe, die das Abenteuerliche, Waghalsige, Neuartige fasst und damit der Erzählung von der Neuartigkeit der Schiffspassage an genau jener Stelle[18] die Erzählung von der Neuartigkeit der Gattungen und Arten an die Seite stellt: „Fucus? vitifolius aber gewiß kein fucus, sondern ein neues genus dessen Generation wir nicht kennen.“ Am Rande sei hier nur vermerkt, dass das Reisetagebuch sehr deutlich auch die Elemente und Topoi empfindsamer Ästhetik und Narrativität verwendet, die vor allem auf die emotionale Wirkung beim Leser abzielen.[19][17] Vgl. auch die Textstelle, an der es heißt: „Wo ist Gewißheit in dieser Schar Schröterscher Patellen?“ (ART I, Bl. 11v). [18] „In dem Kanal zwischen den Inseln Allegranza und S[anta] Clara mußte[,] die [sic] keiner auf dem Schiffe des Weges kundig war, sondirt werden.“ (ART I, Bl. 9r) – Vgl. auch Humboldt 1814–1825, I, 85: „Les vents nous forcèrent de passer entre les îles Alegranza et Montaña Clara. Comme personne, à bord de la corvette, n’avoit navigué dans cette passe, il fallut jeter la sonde.“ [19] Häufig verwendete Erzähltopoi sind etwa die Evozierung von Authentizität und Präsentismus oder auch der ‚Unsagbarkeitstopos‘. Vgl. als ein Beispiel unter vielen die Beschreibung der ersten Feldforschung auf außereuropäischem Boden, nämlich auf der Insel Graciosa (ART I, Bl. 10r).

12Im Folgenden sollen, von dem zitierten Beispiel ausgehend und gewissermaßen an dessen Leitfaden, einzelne Elemente des Forschungsprozesses – genauer: der Verschriftlichung des Forschungsprozesses – näher dargestellt werden.

1. Die lateinische Beschreibung

1.1. Linné als Normgeber

13Linné hat in seinen botanischen Schriften dargelegt, 1. welche Teile einer Pflanze, 2. in welcher Reihenfolge und 3. mit welchen Begriffen zu beschreiben sind. Schon der Untertitel seiner Philosophia botanica von 1751 verweist auf diesen Anspruch: „in qua explicantur fundamenta botanica cum definitionibus partium, exemplis terminorum, observationibus rariorum“.[20] Im XI. Abschnitt, betitelt „Adumbrationes“ (Umrisse), führt er jeweils zuerst in Form einer allgemeinen Regel und dann an Beispielen ideale Pflanzenbeschreibungen an. Im Abschnitt 326 heißt es zunächst: [20] „In welcher die botanischen Grundlagen erklärt werden, mit Bestimmungen der Teile, Beispielen der Begriffe, Beobachtungen von Seltenheiten“. Linné 1751. – Vgl. Linné/Freer 2003, 1: „in which the foundations of botany are explained, with definitions of the parts, examples of the technical terms and observations of rarities“.

Descriptio […] est totius plantae character naturalis, qui describat omnes ejusdem partes externas […]. Perfecta Descriptio non adquiescat more recepto in Radice, Caule, Foliis, & Fructificatione, sed etiam probe observabit Petiolos, Pedunculos, Stipulas, Bracteas, Glandulas, Pilos, Gemmas, Foliationem & Habitum omnem.[21] [21] „Die Beschreibung […] ist der natürliche Charakter der ganzen Pflanze, welcher alle äußeren Teile derselben beschreibe […]. Die vollständige Beschreibung begnüge sich nicht in der üblichen Art mit Wurzel, Stengel, Blättern und Fruchtstand, sondern wird auch die Blattstiele, Blütenstiele, Afterblätter, Nebenblätter, Drüsen, Haare, Knospen, Beblätterung und die ganze äußere Gestalt wohl beobachten.“ Linné 1751, 256. – Vgl. Linné/Freer 2003, 277: „A Description is the natural character of the whole plant, and it should describe all its external parts. A complete description should not be satisfied, in the usual manner, with the root, stem, leaves and fruit-body, but must take proper notice of the petioles, peduncles, stipules, bracts, glands, hairs, buds, the foliation, and the whole habit.“

14Im Rahmen der Beschreibungen der angeführten Pflanzenteile sind jeweils, so legt die nächste Regel (327) fest, Zahl, Gestalt, Verhältnis und Lage (Numerus, Figura, Proportio, Situs) anzugeben. Die Reihenfolge der zu beschreibenden Teile ergibt sich aus dem natürlichen Wachstumsprozess (328): „Descriptio ordinem nascendi sequatur. […] Praestat naturam sequi a Radice ad Caulem, Petiolos, Folia, Pedunculos, Flores.“[22] Eine weitere Regel gibt vor, dass die Beschreibung verschiedener Teile der Pflanze in unterschiedlichen Abschnitten vorzunehmen ist.[22] „Die Beschreibung sollte der Reihenfolge des Wachsens folgen. […] Es ist besser, der Natur zu folgen: von der Wurzel zum Stengel, den Blattstielen, den Blättern, den Blütenstielen, den Blüten.“ Linné 1751, 258. – Vgl. Linné/Freer 2003, 279: „The description should follow the order of growth. […] It is best to follow nature, from the root to the stem, petioles, leaves, peduncles and flowers.“

15Gegen Ende der Philosophia Botanica findet sich eine Liste jener „Termini“, die für die Pflanzenbeschreibung benutzt werden sollen.[23] Sie reicht von „Abortiens“ bis „Utriculi“, legt fest, für welche Pflanzenteile welche Begriffe zu verwenden sind und verweist auf jene Seite des Werkes, wo definiert ist, welche Erscheinungsform genau mit dem jeweiligen Adjektiv zu bezeichnen ist. So ist beispielsweise „dentatum“ (gezähnt) im Rahmen der Beschreibungen von Blatt und Blättern („fol.“) zu verwenden. Damit ein Blatt als „dentatum“ beschrieben werden darf, muss es folgendermaßen aussehen: „Dentatum f[igura] 30. quod acumina horizontalia, folii consistentia, spatio remota habet.“[24] Auf der ersten der insgesamt neun dem Band am Ende beigegebenen Tafeln – mit insgesamt 167 Abbildungen – ist unter der Nr. 30 die Idealform eines solchen Blattes abgebildet.[23] Linné 1751, 311–323. [24] „Gezähnt, Figur 30, welches horizontale Spitzen von der Dicke des Blattes hat, entfernt durch einen Abstand.“ Linné 1751, 44. – Vgl. Linné/Freer 2003, 57: „having horizontal points of the same texture as the leaf, separated by spaces“. – Willdenow gibt in seinem „Grundriß der Kräuterkunde“ als deutsche Erläuterung zu „dentatum“ an: „wenn der Rand mit kleinen spitzigen, merklich von einander abstehenden Zähnen besezt ist“ (Willdenow 1792, 32).

1.2. Willdenow als Lehrmeister

16Zur überragenden Bedeutung von Carl Ludwig Willdenow (1765–1812) für seine botanische Initiation hat sich Humboldt verschiedentlich geäußert, und die Botanik war das Bindeglied ihrer lebenslangen engen Freundschaft.[25] Schon während der Zeit seines Studiums der Kameralistik in Frankfurt an der Oder im Wintersemester 1787/1788 hatte Humboldt Willdenows Erstlingswerk Florae Berolinensis prodromus (1787) zur Hand und begann mit der Pflanzenbestimmung. Die persönliche Begegnung beider datiert ins Jahr 1788, nachdem Humboldt Ende März nach Berlin zurückgekehrt war. Unter Willdenows Anleitung betrieb er botanische Studien in der freien Natur bzw. ließ seine gesammelten Pflanzen von Willdenow bestimmen.[26] Die Begegnung mit dessen Herbarium, das unter anderem durch Willdenows Freundschaft zu dem schwedischen Botaniker Carl Peter Thunberg (1743–1828) auch zahlreiche Pflanzen aus Fernost enthielt, prägte ihn nach eigener Auskunft nachhaltig.[27][25] Vgl. zu den Anfängen dieser Freundschaft etwa die Briefe an Wilhelm Gabriel Wegener vom 27. Dezember 1788 und 24.–27. Februar 1789 sowie jene an Paul Usteri vom 8. August und 4. November 1789 (Humboldt 1973, 34, 41, 63 und 72). An letzteren schrieb er am 28. November 1789 aus Göttingen: „[…], ich war so unglüklich, von wohlmeinenden Menschen gefesselt, erst seit 1 Jahre die Bekantschaft unseres treflichen Willdenow zu machen, dem ich nie dankbar genug sein kann.“ (Humboldt 1973, 74) — Vgl. auch Hein 1959, Hiepko 2006 und Müller-Wille/Böhme 2020. [26] Vgl. Alexander von Humboldt: „Ich über mich selbst (Mein Weg zum Naturwissenschaftler und Forschungsreisenden 1769–1790)“. In: Humboldt 1987, 31–40, hier 33–34. Es handelt sich um eine autobiographische Skizze, verfasst in Santa Fé de Bogotá am 4. August 1801, überliefert im VII. der Amerikanischen Reisetagebücher (ART VII a/b, Bl. 134v). Darin heißt es zur ersten persönlichen Begegnung mit Willdenow: „Von welchen Folgen war dieser Besuch für mein übriges Leben! Schriebe ich ohne diesen diese Zeilen im Königreich Neu Grenada?“ [27] Vgl. Humboldt 1987, 34; vgl. aber auch ebd., 39, die geschilderte Wirkung der Sammlungen von Sir Joseph Banks und anderer Forschungsreisender in London 1790. – Vgl. im Brief Humboldts an Willdenow, Havanna, 21. Februar 1801: „[…], wenn ich mich erinnere, daß das botanische Studium mehr als meine Reise mit Forster, den Trieb in mir rege machte, die Tropenwelt zu besuchen“ (ehp: Humboldt 2020, 122; https://edition-humboldt.de/H0001181/6r).

17Humboldts erste Veröffentlichung im Januar 1789 ist daher nicht zufällig die Übersetzung einer botanischen Abhandlung aus dem Lateinischen ins Französische, versehen mit eigenen Anmerkungen.[28] Es folgt 1790 im siebten Stück des Magazins für die Botanik eine Pflanzenmonographie, „eine Arbeit, deren ganzes Verdienst Willdenowsche strenge Methode ist“, wie er den Herausgeber Paul Usteri wissen lässt.[29] Im Anschluss an einige Jahre der Abwesenheit nimmt Humboldt – nach Berlin zurückgekehrt – im Mai 1791 seine botanischen Studien mit Willdenow wieder auf.[30] Doch bereits im folgenden Monat beginnt er sein Studium an der Bergakademie in Freiberg (Sachsen). Resultat seiner dort fortgesetzten botanischen Arbeiten ist die 1793 erscheinende Schrift Florae Fribergensis specimen, die Humboldt seinem Lehrmeister Willdenow widmet mit den Worten: „Dem Carl Ludwig Willdenow […] gibt diese seine pflanzenkundlichen Erstlinge ergebenst als Gabe Friedrich Alexander von Humboldt“.[31][28] Vgl. Humboldt 1789a. [29] Vgl. den Brief vom 28. November 1789 aus Göttingen (Humboldt 1973, 76). [30] Vgl. den Brief an Johann Albert Heinrich Reimarus, Berlin, 1. Juni 1791 (Humboldt 1973, 139). [31] Humboldt 1793, V: „Carolo Ludowico / Willdenow / Hasce Phytologicas Suas Primitias / D. D. D. / Fredericus Alexander Ab Humboldt“– Übers. von Simon Rebohm („D. D. D.“ ist hier verstanden als Kürzel für „devotissime dono dedit“). Willdenow hatte ihn offenbar auch zur Ausarbeitung ermuntert; vgl. Humboldt an Carl Freiesleben, Berlin, 7. März 1792 (Humboldt 1973, 176).

18In diesem Werk stellt Humboldt jene Arten der nach Linné zur XIX. Klasse der Kryptogamen gehörenden Pflanzenfamilien „Algae“[32] und „Fungi“ (Pilze), deren Lebensräume unter der Erde – nämlich in den Bergwerksstollen des Freiberger Gebiets – lagen,[33] umfassend nach den Regeln der botanischen Beschreibung dar, unter anderem zahlreiche Flechtenarten, auch „Lichen hispidus“ und „Lichen parietinus“, die Humboldt ebenfalls auf der Kanarischen Insel Graciosa zu entdecken glaubte (Bl. 10v, 11r). Doch die Beschäftigung mit diesen Pflanzengattungen und -familien war nicht erst Gegenstand der Freiberger Erstlingsschrift, sondern bildete bereits das Hauptinteresse der ersten botanischen Exkursionen,[34] womit Humboldt einem Modetrend der Zeit folgte, denn die „Kryptogamenkunde wurde in diesen Jahren modern und war damals der neueste Forschungszweig der beschreibenden Botanik“.[35] Auch in Humboldts erster Monographie, der geologischen über die Basalte am Rhein, begegnet man den Flechten, da Humboldt in diesem Werk bestimmte Gesteinsarten als Biotop bestimmter Flechtenarten beschreibt.[36][32] Algen gelten, ebenso wie Pilze, heute nicht als Pflanzen. Diesen Hinweis verdanke ich Hans Walter Lack. [33] Der vollständige Titel lautet: Florae Fribergensis specimen plantas cryptogamicas praesertim subterraneas exhibens. – Vgl. auch bereits im Brief an Paul Usteri, Freiberg, 22. September 1791: „Ich habe, ob mir gleich das praktisch bergmännische viel Zeit weg nimmt, doch eine Arbeit über die hiesige Flora, besonders über die Flora cryptogamica angefangen. Ich erstaune täglich über den Reichthum unterirdischer Vegetation“ (Humboldt 1973, 152). [34] Vgl. den Brief Humboldts an Wilhelm Gabriel Wegener, Berlin, 24.–27. Februar 1789 (Humboldt 1973, 40–41): „Eben komme ich von einem einsamen Spazirgange aus dem Thiergarten zurük, wo ich Moose und Flechten und Schwämme suchte, deren Sommer jezt gekommen ist.“ – Vgl. auch in seinem Brief an Paul Usteri vom 4. November 1789 aus Göttingen: „Da ich jezt damit beschäftigt bin, einige neue Cryptogamisten aus dem Hessischen Gebirge und aus dem Eichsfelde zu beschreiben“ (ebd., 72). [35] Humboldt 1973, 45 (Anm. 1). Die Herausgeber, Ilse Jahn und Fritz G. Lange, verweisen hier auf Johannes Hedwigs 1784 erschienenes Werk Theoria generationis et fructificationis plantarum cryptogamicarum sowie auf seine Stirpes crytogamicae (dt.: Abbildungen kryptogamischer Gewächse), die 1787 bis 1793 in vier Bänden erschienen. Humboldt selbst schrieb am 8. August 1789 an den Herausgeber der Zeitschrift Magazin für die Botanik: „Ich denke, Ihnen dann noch Beschreib[ungen] von Cryptogam[isten] nach der Hedwigschen Theorie, der ich anhänge, zu liefern“ (Humboldt 1973, 64). Vgl. auch den Brief an Usteri, London, 27. Juni 1790 (ebd., 96). [36] Vgl. Humboldt 1790a. – Vgl. hierzu auch schon im Brief an Paul Usteri, Göttingen, 28. November 1789: „Es ist doch gewiß eine glükliche Idee, die Mineralogie mit der Botanik zu verbinden, und den Wohnort der Gewächse aufmerksam zu beobachten. […] Bei einer kleinen Reise, die ich längst dem Rhein machte, bemerkte ich, daß Lich[en] crispus eine dem Basalte sehr eigene Flechtenart ist. Auch fand ich zwischen Linz und Unkel zuerst L[ichen] capperatus auf Thon-Schiefer.“ Humboldt 1973, 74. Ebenso im Brief an Sir Joseph Banks, Hamburg, 18. Oktober 1790 (ebd., 111).

19Nicht zuletzt die gesammelten Kryptogamen hatte er in seiner anfänglichen botanischen Lehrzeit von Willdenow bestimmen lassen.[37] In der Flora Fribergensis ist der Bezug auf seinen Lehrer Willdenow allgegenwärtig: sei es in Form von Gattungsbeschreibungen, die Willdenow zugeschrieben sind, sei es in Form zahlreicher Verweise auf Willdenows erste botanische Monographie Florae Berolinensis prodromus, sei es auch durch vereinzelte Hinweise auf Beobachtungen bei gemeinsamen Exkursionen.[38][37] Vgl. hierzu im Brief an den Astronomen Marc Auguste Pictet aus dem Jahre 1806: „Er [Willdenow] gab mir keine förmlichen Stunden, sondern ich brachte ihm die Pflanzen, die ich gesammelt hatte, und er bestimmte sie mir. Auf diese Weise wurde ich für die Botanik, besonders für die Kryptogamen, begeistert.“ (Zit. nach Hein 1959, 467.) [38] Vgl. Humboldt 1793, 22, zu „Lichen pinastri“: „tamen prope Berolinum am Tegelschen See aestate 1788. cum amicissimo D. Willdenow unicum specimen in cortice Pin. sylvestris observavi.“ („Aber nahe Berlin am Tegelschen See habe ich im Sommer 1788 mit dem besten Freund D. Willdenow eine einzige Art in der Rinde der Pin[us] sylvestris beobachtet.“ Übers. von Simon Rebohm.) Vgl. auch ebd., 9, die Fußnote zu „Lichen pallidus“.

20Willdenow wiederum hatte ein Jahr zuvor sein äußerst erfolgreiches Lehrbuch Grundriss der Kräuterkunde, zu Vorlesungen entworfen publiziert.[39] In diesem Werk ist zu Beginn, in der Erstausgabe auf den Seiten 9 bis 146, eine umfassende „Terminologie“ zur Pflanzenbeschreibung enthalten, Linnés Prinzip der Zuordnung bestimmter Adjektive zu bestimmten Pflanzenteilen (z. B. Blättern) aufnehmend, und das Pendant in deutscher Sprache angebend. [39] Zu Willdenows Lebzeiten erschienen in Berlin fünf Auflagen: 1. Aufl. 1792, 2. Aufl. 1798, 3. Aufl. 1802, 4. Aufl. 1805, 5. Aufl. 1810; daneben erschienen Nachdrucke in Wien, u. a. 1799 und 1808, sowie Übersetzungen, so 1794 bereits ins Dänische. Es folgten weitere posthume Ausgaben.

21Zum Buchbestand der Amerikareise gehörten, nach Humboldts Auskunft, auch jene beiden ersten Bände von Willdenows Neubearbeitung der Species plantarum Linnés, die noch vor der Abreise aus Europa erschienen waren, denn seine Aufzählung der in Spanien beschafften (botanischen) Literatur endet mit: „Deine herrliche Ausgabe der Species Plantarum bis Pentandria Polygynia.“[40] Im selben Brief aus Havanna vom 21. Februar 1801 lässt er Willdenow wissen: „Wie sehnlich harre ich auf die Fortsezung Deiner Species plantarum! Vergebens habe ich sie in Philadelphia suchen lassen.“ Er bittet dringend um deren Zusendung und teilt auch sogleich verschiedene mögliche Transferwege mit.[41][40] Brief Humboldts an Willdenow, Havanna, 21. Februar 1801 (ehp: Humboldt 2020, 117; https://edition-humboldt.de/H0001181/2v). Vgl. Linné/Willdenow/Link 1797–1830. Die ersten beiden Bände, I.1 und I.2, waren 1797 erschienen; letzterer endet mit der der V. Klasse der Pentandria zugehörenden Gattung Polygynia. [41] ehp: Humboldt 2020, 121; https://edition-humboldt.de/H0001181/5v. Vgl. auch schon im Brief an Willdenow aus Aranjuez, 20. April 1799; La Coruña, 5. Juni 1799 (ebd., 114, 2v; https://edition-humboldt.de/H0001200).

1.3. Anwendung und Umsetzung der Normen in ART I

22Das oben gegebene Beispiel des mutmaßlichen Zoophyten, den Humboldt und Bonpland sogleich und abschließend für einen „fucus“ (eine Algengattung[42]) hielten, setzt zunächst an die Stelle einiger Beschreibungspartien à la Linné den Verweis auf eine Zeichnung und Auslassungszeichen, die für die fehlenden Teile ebenso stehen könnten wie für die später nachzutragende Nummer der Zeichnung. Es folgen weitere Merkmale: „stipitatus, stipite tereti crasso (substantia gelatinoso-calcarea) foliis junioribus alter[o] alteri involutis concauis, adultioribus planis, lobatis, nervosis, margine laceris, utrinque pilosis.“[43] Insbesondere für die die Blätter beschreibenden Adjektive gilt durchgängig, dass es sich um die von Linné der Beschreibung eines Blattes zugedachten Adjektive handelt: [folium/folia:] involuta (eingerollt), concavum (hohl), planum (flach), lobatum (lappig), nervosum (gerippt), lacereum (geschlitzt), pilosum (haarig).[44] [42] Vgl. Linné/Gmelin 1788–1793, II.2, 1380–1390. [43] „gestielt, mit glattem, dicken Stamm (aus leimig-kalkigem Stoff) mit jüngeren, konkaven Blättern, die in einander gewickelt sind, mit erwachseneren flachen, lappigen, sehnigen, am Rande zerschlitzten, auf beiden Seiten haarigen [Blättern]“. [44] Linné 1751, 43–46. Dort finden sich die Definitionen der Adjektive mit den weiterführenden Hinweisen auf die entsprechenden Abbildungen.

23Wie schon bemerkt, wechselt Humboldt dann in der weiteren Beschreibung – dort nämlich, wo es um Vergleiche mit bekannten europäischen Arten geht – vom Lateinischen ins Deutsche. Die deutsche Begrifflichkeit war gewiss während der Feldstudien mit Willdenow, dann auch auf Basis der im Grundriss der Kräuterkunde veröffentlichten umfassenden Terminologie, eingeübt. Die Anlehnung an die Normsprache wird in Teilen sehr deutlich, so etwa, wenn es heißt: „Die jungen Blätter tütenförmig in einander gefügt, wie ein spadix [Kolben/Blütenstand], am Rande deutlich u[nd] unzerrissen gefranzt […]“. Willdenow führt in seiner Kräuterkunde „tutenförmig (convoluta)“ an und definiert: „wenn die Blätter ganz schneckenförmig gedreht sind, z. B. Pflaumen, Prunus domestica, Aprikosen, Prunus armeniaca.“[45] [45] Willdenow 1792, 62.

24Innerhalb des ersten Amerikanischen Reisetagebuchs gibt insbesondere die „Plantes de Cumaná“ betitelte Pflanzenliste auf den Seiten 37r bis 41v einen guten Einblick in die den Normen Linnés und den Lehren Willdenows folgenden Pflanzenbeschreibungen Humboldts, wobei an dieser Liste auch deutlich wird, dass der Umfang – wie in Feldtagebüchern üblich[46] – stark variiert. So sind manche Beschreibungen mit mustergültiger Ausführlichkeit notiert (z. B. Bl. 37r: Nr. 34), andere sind nur begonnen, bis hin zu einer bloßen Notierung des Namens (z. B. Bl. 37v: Nrn. 24 und 25) oder umgekehrt, dessen Fehlen (z. B. Bl. 38v: Nrn. 43–46). Diese Pflanzenbeschreibungen könnten somit als eine Art Baustein verstanden werden, die nur durch ihr Pendant in dem von Aimé Bonpland geführten Feldtagebuch, auf das Humboldt auch jeweils verweist, vollständig werden (vgl. hierzu den Abschnitt III).[46] Vgl. Lack 2004, 496. Vgl. Anm. 109.

2. Die Vergleiche mit bekannten Gattungen oder Arten

25Zur Gattungs- und Artbestimmung gehören immer auch die Vergleiche einzelner Merkmale mit denen bei anderen, aus Europa vertrauten Arten. Diese Vergleiche sind teils allgemeiner Art, wie im oben zitierten Beispiel der Vergleich der grünen Farbe mit jenen von Weinblättern („foliis vitis viniferae“ = „wie die Blätter der Weinrebe“) oder die Übereinstimmung des Verlaufs der „Blattnerven“ mit demjenigen bei „adianthis od[er] dem Gincgo biloba“.[47] [47] In Humboldt 1814–1825, I, 85, lautet es an der Korrespondenzstelle: Adiantes; Linné/Gmelin 1788–1793, II.2, 1283, 1314–1317: Adiantum. Es handelt sich um die Gattung Frauenhaarfarne.

26Teils geschehen diese Vergleiche aber auch unter Referenz auf die grundlegenden zoologischen und botanischen Nachschlagewerke. Schon die erste Klassifizierung als „fucus“ enthält implizit eine solche Vergleichsperspektive. Gerade hier darf eine große Expertise unterstellt werden, denn zwar gehört diese Gattung (Fucus) nicht zu jenen, die Humboldt in den unterirdischen Lebensräumen der Freiberger Stollen fand, gleichwohl gehört sie zu der Familie der „Algae“, deren Gattungen und Arten ihn in seinem botanischen Erstlingswerk in besonderer Weise beschäftigten und deren Beschreibung in der Fachliteratur er in vergleichender Perspektive zur Bestimmung der in Freiberg gefundenen Arten herangezogen und intensiv studiert haben wird.[48][48] Vgl. Linné/Gmelin 1788–1793, II.2, 1380–1390 (= 1205. Fucus).

27Explizit wird diese Vergleichsperspektive im Zusammenhang mit dem Versuch, den vermeintlichen Zoophyten zu identifizieren, wenn es in Humboldts Tagebuch heißt: „Wohin dieses Wesen classificiren? Ich habe alle Beschreibungen der Zoophythen durchblättert u[nd] keinen Schatten von Aehnlichkeit gefunden.“ (Bl. 9r) Mit großer Sicherheit nimmt er hier Bezug auf den zoologischen Teil des Systema naturae, dessen 13. Auflage sie auf der Reise mitführten, wo im 6. Teil des ersten Bandes, und zwar auf den Seiten 3753 bis 3871, die der VI. Klasse der Würmer (Vermes) zugeordneten Zoophyten beschrieben sind.[49][49] Vgl. Linné/Gmelin 1788–1793, I.6. Vgl. auch die Definition von „Zoophyta“ auf Seite 3022.

28Detailgenauer zeigt sich der Vergleich mit der botanischen Bezugsliteratur im Zusammenhang vereinzelter Beschreibungen der spärlichen, von großer Trockenheit geprägten Vegetation auf der Insel Graciosa:

Wir erkannten nur 2 kleine Sträucher, der größere Atriplex portulacoides etwa 3 F[uß] hoch (aber fol[ia] ouata nicht obouata, wegen der südl[ichen] Lage würde ich geglaubt haben A[triplex] glauca, aber ich sah nicht die fol[ia] inferiora subdentata) u[nd] eine der Salsola muricata sehr nahe Pflanze ramuli villosi, die calyc[es] spinosi sahen wir nicht. (Bl. 11v)[50] [50] Im IX. Tagebuch findet sich unter der Rubrik „Auszüge aus den nach Europa gesandten Papieren“ eine Kurzfassung dieser Passage: „[Das] Meer wirft Quarzsand mit Feldspat aus und in diesen Inseln von Quarzsand, worin Atriplex portulacoides 3 Fuß hoch, aber fol[ia] ovata, nicht obovata. Atriplex glauca, und Salsola der muricata nahe, ramulis villosis; […]“ (Bl. 3v; zit. nach Humboldt 2000, 426).

29Humboldt vergleicht hier die Artbeschreibungen aus Linné/Gmelin mit dem vor Ort Beobachteten: „Atriplex portulacoides“ ist im ersten Teil des zweiten Bandes beschrieben mit dem Merkmal „foliis obovatis“.[51] Die auf Graciosa gesehene Pflanze hat dagegen „fol. ouata“ (folia ovata). Die Blätter sind also nicht umgekehrt eiförmig, sondern eiförmig. Die Blätter der Species „Atriplex glauca“ haben gemäß Linné/Gmelin das Merkmal „inferioribus subdentatis“ (die unteren [Blätter] meistens gezähnt); dieses Merkmal aber hat die ihr sehr ähnliche, auf Graciosa entdeckte Art nicht. Analog verhält es sich mit „Salsola muricata“, der Linné/Gmelin die Merkmale „ramulis hirsutis, calicibus spinosis“[52] zusprechen, während die im Feld beobachtete Art gemäß Humboldt „ramuli villosi[53] hatte und keine „calyc[es] spinosi“.[51] Linné/Gmelin 1788–1793, II.1, 450. [52] „mit struppigen Ästchen, dornenbesetzten Kelchen“. Linné/Gmelin 1788–1793, II.1, 453. [53] zottige Ästchen“. Hervorhebung CG.

30Immer dann, wenn solche Abweichungen vorliegen, darf vorsichtig an eine neue Art (nova species, ggf. auch eine Varietät[54]) gedacht werden, in jedem Fall an eine, die bislang in Linné/Gmelin nicht oder nicht richtig bzw. vollständig verzeichnet ist. Zufrieden war Humboldt mit diesem Referenzwerk wohl nicht, denn in der Liste jener Werke, die ihn auf der Reise begleiteten, erscheint es als „Gmelins elende Species“.[55][54] Varietäten verfügen über dieselben Merkmale, diese sind jedoch unterschiedlich ausgeprägt. Vgl. auch Linné 1751, 239: „Varietatis sunt plantae ejusdem speciei, mutatae a caussa quacunque occasionali.“ [55] Brief Humboldts an Willdenow, Havanna, 21. Februar 1801 (ehp: Humboldt 2020, 117; https://edition-humboldt.de/H0001181/2v). Diese Abwertung ist allerdings wohl auch dem gewünschten Kontrast zu dem an derselben Briefstelle gelobten Werk Willdenows (Linné/Willdenow/Link 1797–1830) geschuldet. Somit steht die Herabwürdigung Gmelins im Dienste der Würdigung Willdenows.

31Die Begrenztheit des Systema naturae mag ihn zu der skeptischen Äußerung veranlasst haben: „Ich glaube mit Bonpland sehr sehr genaue diagnosen niedergeschrieben zu haben, aber ich wage es nicht zu sagen, wie viele neue genera wir besizen“. Im selben Brief an Willdenow führt er erklärend aus:

[…] aber wie viele andere nova genera bleiben uns zweifelhaft, da uns der Hortus Schönbrunnensis, Swartz Flora Indica occidentalis … fehlen. Ich bin daher fest entschlossen, während der 5–6 Jahre die meine Reise dauern wird der Versuchung zu widerstehen[,] irgend etwas zu publicieren, ich bin gewiß daß ⅔ unser neuen genera und Species nach Europa zurükkehrend als uralt erkannt werden, aber man gewinnt immer in so entlegenen Ländern durch Aufzeichnung neuer nach der Natur gemachten Beschreibungen.[56] [56] Brief Humboldts an Willdenow, Havanna, 21. Februar 1801 (ehp: Humboldt 2020, 117, 3r; https://edition-humboldt.de/H0001181). Vgl. auch ebd., 121–122, die Erwähnung der bereits publizierten Reiseberichte wie auch der aktuell vor Ort arbeitenden Botaniker. Bei den erwähnten fehlenden Werken handelt es sich um Jacquin 1797–1804, von dem die ersten drei von insgesamt vier Bänden vor der Amerikareise erschienen waren (400 Pflanzenarten), und Swartz 1797–1806, von welchem der erste von drei Bänden vor Beginn der Reise publiziert war.

32Es bleibt zudem immer die Möglichkeit, dass andere Forscher und Forschungsreisende etwa zur selben Zeit dieselben neuen Gattungen oder Arten beschreiben und ihnen ggf. andere Namen geben. Die eigentliche Arbeit der sicheren Identifizierung neuer Gattungen und Arten hat erst Carl Sigismund Kunth geleistet (vgl. hierzu den Abschnitt II.5.3).[57][57] Einen kurzen, aber sehr eindrücklichen Einblick in die zu leistende Arbeit gibt Lack 2018, 136. Vgl. zudem Stearn 1968, 5–6.

3. Der Abgleich mit und die Korrektur von bisherigen Forschungsergebnissen

33Liest man das erste Amerikanische Reisetagebuch Humboldts, so fällt vor allem das beständige Messen etwa von Höhen oder zum Zwecke genauer Ortsbestimmungen auf und der Vergleich der Resultate mit den bisherigen Messergebnissen anderer Forscher, Reisender oder Seefahrer. Diese Vergleiche – mit, wenn man so will, dem bisherigen Forschungsstand – finden sich aber auch auf anderen Gebieten der Naturforschung. Ein Beispiel hierfür ist die Widerlegung der Beschreibung des „Fucus natans“[58], wie Ruiz sie gegeben hat. Die Episode ereignete sich am 15. Juli 1799 vor der Nordküste des heutigen Venezuela, einen Tag vor der Ankunft in Cumaná, wo Humboldt erstmals den amerikanischen Kontinent betrat:[58] Vgl. Linné/Gmelin 1788–1793, II.2, 1380.

Wir fischten viel fucus natans mit den wunderbaren federartigen u[nd] becherförmigen Anhängseln gerade | wie sie Ruiz in seiner dissertation als die fructificationstheile beschrieben. Seine Beschreibung sehr richtig, die Adern aus denen die Theile entspringen, sind auf den Blättern aufgeheftet meist von gleicher brauner Farbe u[nd] scheinen! zur Pflanze zugehören. Aber mit dem Messer konnte ich sie so ablösen daß keine Spur im parenchyma des fucus zurükblieb d. h. ohne die organisation des lezteren zu verlezen. Also wohl parasitica, wie Epheu; etwa Sertularien womit die Pistillen große Aehnlichkeit haben. (Bl. 28v–29r)

34Humboldt nimmt hier Bezug auf das Werk von Hipólito Ruiz López De vera Fuci natantis fructificatione commentarius, erschienen in Madrid im Jahre 1798.[59] Es war also eine Neuerscheinung, als Humboldt und Bonpland sich vom 23. Februar bis zum 13. Mai 1799 in Madrid aufhielten, wo sie ihre Abreise in die Neue Welt organisierten und vorbereiteten.[60] Da auch die grundlegende botanische Referenzliteratur in Spanien – vermutlich in Madrid – beschafft wurde[61] und zuvor andere Reiseziele ins Auge gefasst waren, ist davon auszugehen, dass erst jetzt und genau dort eine intensive Vorbereitung auf die Reise in die spanischen Kolonien Mittel- und Südamerikas stattfand.[62][59] „Kommentar vom wahren Fruchtstand des Fucus natans“; Ruiz 1798. Die dreibändige Flora peruviana et chilensis von Ruiz und Joseph Pavon gehörte zur Handbibliothek der Amerikareise (Ruiz/Pavon 1798–1802). [60] Vgl. Schwarz, Ingo (Hg.): Alexander von Humboldt-Chronologie (23. Februar 1799; 13. Mai 1799). In: edition humboldt digital, hg. v. Ottmar Ette. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. Version 2 vom 14.09.2017. URL: https://edition-humboldt.de/H0006070 und https://edition-humboldt.de/H0006078 (im Folgenden zitiert als „Alexander von Humboldt-Chronologie“). [61] Der Brief an Willdenow aus Havanna vom 21. Februar 1801 enthält hier ganz entscheidende Hinweise: „Gmelins elende Species, Schrebers Genera wo von wir den 1. Theil in einem Schifbruch auf dem Orinoco (Palmsontag 1800) eingebüßt, Deine herrliche Ausgabe der Species bis Pentandria Polygonia, die Flora Peruana Tomus II, Ortega’s Decades, Reichards Species, Jussieu Genera, Aiton Hortus Kewensis und Murray ist alles, alles was ich von Spanien abreisend erzielen konnte.“ (ehp: Humboldt 2020, 117, 2v; https://edition-humboldt.de/H0001181). [62] Am 15. März 1799 erhielt Humboldt die Nachricht, dass er die Erlaubnis zum Studium der Bergwerke und zu anderen Forschungen in den spanischen Kolonien erhalten werde; der wichtige Pass, der vom Spanischen König ausgestellte Passierschein, trägt das Datum vom 7. Mai. Vgl. Alexander von Humboldt-Chronologie, 15. März 1799, URL: https://edition-humboldt.de/H0006074 und 7. Mai 1799, URL: https://edition-humboldt.de/H0006077. – Vgl. zu den sich immer wieder zerschlagenden Reiseplänen, die eine sehr kurze Vorbereitung für die Amerikareise bedingte: Leitner 2016.

4. Die Zeichnung als Teil der botanischen Pflanzenbeschreibung

35Gemäß Linnés Philosophia botanica gehören zu einer korrekten botanischen Pflanzenbeschreibung ebenfalls Zeichnungen der Pflanze. Welchen Normen diese zu folgen haben, legt er in seinen Erfassungs- und Darstellungsregeln fest. So heißt es in Abschnitt 332 der oben bereits mehrfach angeführten „Adumbrationes“: „Icones magnitudine & situ naturali depingendae sunt.“[63] Und der nächste Abschnitt (333) führt aus: „Icones optimae omnes plantae partes, licet minimas etiam fructificationis, exhibeant.“[64][63] „Bilder von natürlicher Größe und Lage sind abzumalen.“ Linné 1751, 263. – Vgl. Linné/Freer 2003, 283: „Pictures should be drawn in the natural size and position.“ [64] „Die besten Bilder sollen alle Teile der Pflanze darstellen, mögen die des Fruchtstandes auch sehr klein sein.“ Linné 1751, 263. – Vgl. Linné/Freer 2003, 277: „The best pictures should show all the parts of the plants, even the smallest parts of the fruit-body.“

36Folgerichtig enthalten die Amerikanischen Reisetagebücher immer wieder kleine Skizzen von Pflanzen oder Pflanzenteilen.[65] Neben diesen hat Humboldt weitere Zeichnungen von Pflanzen angefertigt. Auch die in Abschnitt III untersuchten Pflanzenbeschreibungen enthalten oftmals Hinweise auf separate Zeichnungen.[66] Zum großen Teil gingen diese verloren[67] oder wurden nach der Erstellung der Kupferstiche vernichtet.[68] Und natürlich sind die in den Publikationen enthaltenen Kupferstiche überliefert.[65] Siehe hierzu: Ette/Maier 2018, 496–509. [66] Vgl. z. B. Bl. 37r: Nr. 28; Bl. 40r: Nr. 27 und 62; Bl. 40v: Nr. 48; Bl. 41r: Nr. 31. [67] Vgl. Lack 2004, 494: „Eine Quelle ging hingegen weitgehend verloren – die von Humboldt im Gelände angefertigten Pflanzenzeichnungen.“ Vgl. zum Umfang Lack 2003, 115–116. – Vgl. allerdings der im unten zitierten Brief Humboldts an Johannes Schulze vom 30. Juli 1850 erwähnte „Vorzug so vieler Zeichnungen von Blüthen und Fruchtzergliederungen (Analysen), die [der Kunthschen Sammlung meiner Species] beiliegen“ (vgl. Anm. 80). Demnach wären sie Teil des Kunthschen Herbars gewesen, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. [68] Vgl. Werner 2013, 44–46. – Vgl. dazu auch Lack 2003, 116: „Auch diese Zeichnungen müssen nach Paris gekommen sein, denn einige wurden von den Illustratoren benutzt, die in den folgenden Jahren im Auftrag von Humboldt bzw. Kunth in der französischen Hauptstadt Abbildungen herstellen, die als Kupferstiche zur Erläuterung der partie 6 ‚Botanique‘ dienen sollten.“ Vgl. zu dieser Abteilung des Amerikanischen Reisewerks Lack 2018, 135-137.

37Im Falle unseres Beispiels – des aus großer Meerestiefe heraufgezogenen „Zoophyten“ resp. „fucus“ – geht im Tagebuch der lateinischen Pflanzenbeschreibung der Verweis auf die Zeichnung voraus.

5. Die Wege der Pflanzenbeschreibungen in die Publikationen[69]

[69] Vgl. zu dem gesamten Komplex der „Veröffentlichung der Ergebnisse“ der „botanischen Erforschung Amerikas“ durch eine Vielzahl von Personen an verschiedenen Orten besonders Lack 2009. Die botanischen Sammlungen von Humboldt und Bonpland in den Jahren 1799 bis 1804 wurden von Rogers McVaugh als „the most important botanical collections ever made in tropical America“ bezeichnet und zwar, weil sie nach der Reise innerhalb relativ kurzer Zeit durch angemessene und sogar prächtige Publikationen bekannt gemacht wurden (McVaugh 1968, 32).

5.1. Das amerikanische Reisewerk I: Plantes equinoxiales

38In der Auserzählung dieser Tagebuchpassage im ersten Band der Relation historique, den ersten Bänden seines vielbändigen Reisewerks,[70] verweist Humboldt dann auf die von ihm vor Ort angefertigte Zeichnung und auf den in den Tafelbänden enthaltenen Kupferstich: „Le dessin que j’en ai fait sur les lieux est gravé dans le second volume de nos ‚Plantes équinoxiales.‘“ Die zugehörige Fußnote lautet: „Pl. équin., T. II, p. 8, pl. LXIX.“[71][70] Der Gesamttitel des Reisewerks lautet: Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent, fait en 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 et 1804, kurz: Voyage de Humboldt et Bonpland, und erschien in 6 Partien und 29 Bänden, 1805–1839. [71] Humboldt 1814–1825, I, 85. – Vgl. Humboldt/Bonpland 1808–1813, II, 8, pl. LXIX: fig. A.

39An dieser Stelle nun findet sich nicht nur die Abbildung der Pflanze (siehe die Abbildung oben) – interessanterweise unter dem vor Ort gewählten Namen „Fucus vitifolius“ (weinstockblättriger Fucus) –, sondern in der begleitenden Erläuterung Bonplands werden die bereits aus dem Tagebuch bekannten Umstände ihrer Entdeckung, ihr Lebensraum und ihre Besonderheit – die starke grüne Farbe so weit unter dem Meeresspiegel, d. h. weit entfernt von Lichtquellen – genannt und mit Forschungen Humboldts zur Pflanzenphysiologie verknüpft:

Le fucus vitifolius a été rapporté du fond de l’Осéan раr le plomb de notre sonde, auquel il s’attacha à trente-deux brasses dе profondeur, entre les deux petites îles des Canaries connues sous le nom de Allegranza et Isola Clara. Sa tige, longue d’à-peu-près six pouces (16 centimètres), est cylindrique, brune, gélatineuse par dehors, et divisée en deux au sommet. Les feuilles alternes, planes, courtement pétiolées d’un beau vert et d’une texture membraneuse, ont une forme orbiculaire de deux pouces (8 centimètres) à-peu-près de diamètre; couvertes sur l’un et l’autre côté de nombreux petits poils blanchâtres, elles offrent des nervures peu sensibles qui vont en divergeant de la base à la circonférence, et sont inégalement déchirées à leur limbe: les jeunes feuilles, entières, d’un vert moins vif, sont concaves en dessus et convexes en dessous. M. de Humboldt a dessiné ce végétal sur les lieux. Ses feuilles striées ressemblent à celles du Ginkgo et des Adiantes. Le Fucus ophioglossum de Weber et de Mohr, auquel appartient le Fucus prolifer de Forskæl, présente la même analogie dans les nervures de son parenchyme.

Le fucus vitifolius offre un phénomène très curieux pour la physiologie végétale. Les expériences faites par les plongeurs rendent probable que la lumière ne pénètre pas beaucoup au-delà de douze à quinze brasses de profondeur; cependant le Fucus que je viens de décrire, loin d’être étiolé, est d’un vert aussi frais que les jeunes feuilles de vigne et nos graminées. Ce fait se lie à d’autres que M. de Humboldt a exposés dans sa Physiologie chimique des végétaux, et qui tous tendent à prouver que ce n’est pas uniquement sous l’influence du rayon solaire que se dépose, dans le parenchyme, cette hydrure de carbone qui paroît être la cause principale de la couleur verte des végétaux.[72] [72] Humboldt/Bonpland 1808–1813, II, 8.

40An dieser ersten Publikationsstelle wird der aus dem Tagebucheintrag bekannte Befund ergänzt durch einige Größenangaben und Beschreibungselemente, die im Tagebuch fehlen und eventuell der Zeichnung beigefügt waren. Zudem ist die Beschreibung zweifach vernetzt mit Forschungsergebnissen: Zum Ersten wird auf verschiedene Beschreibungen von Fucus-Arten (ophioglossum und prolifer) vergleichend Bezug genommen, die von einigen Wissenschaftlern (Weber, Mohr, Forsskål) beschrieben wurden. Diese Bezüge können teils bereits vor Ort vorgenommen worden sein, weil Forschung und Literatur bekannt war, teils mögen sie erst nach der Rückkehr und bei der Abfassung der Publikationen hinzugezogen worden sein. Zum Zweiten wird auf die wissenschaftlichen Forschungen Humboldts referiert, in diesem Fall solche zur ‚chemischen Physiologie der Pflanzen‘, wonach die grüne Farbe der Pflanzen – bzw. das Kohlenhydrat als deren Voraussetzung – eine andere Ursache haben kann als die des Sonnenlichts. Diesem Phänomen hatte Humboldt bereits im Jahre 1792 eine Publikation gewidmet.[73] Auch in den „Aphorismi“[74] seines botanischen Erstlingswerks, der Florae Fribergensis specimen, die ein Jahr nach Erscheinen in der deutschen Übersetzung von Gotthelf Fischer in Leipzig unter dem Titel Aphorismen aus der chemischen Physiologie der Pflanzen erschienen waren, behandelte er dieses Phänomen ausführlich.[75][73] Vgl. Humboldt 1792a und Humboldt 1792b. – Vgl. hierzu im Brief an Carl Freiesleben, Wien, 2. November 1792: „Sie glauben nicht, was der Aufsaz in Gren [d. i. Humboldt 1792a, erschienen im Journal der Physik, hrsg. von Friedrich Albrecht Carl Gren u. a.] über die Farbe der Pflanzen für Lerm macht. Man nennt es eine Entdekkung. Ich habe seitdem die Sache noch weiter getrieben […]“ (Humboldt 1973, 222). Willdenow bezieht sich in seinem Grundriss der Kräuterkunde positiv auf diese Forschungsergebnisse Humboldts (vgl. Willdenow 1792, 312). [74] Humboldt 1793, 133–182. [75] Humboldt 1794. (Fischer wurde später mit dem Beinamen „von Waldheim“ in den Adelsstand erhoben.) – Vgl. schließlich auch Humboldt 1797.

41Schon hier, in dem Tafelband mit den Kupferstichen der auf der Amerikareise gesammelten Pflanzen, wird deutlich, wie die Pflanzenbeschreibungen der Tagebücher in die Publikationen eingehen und wie sie dort angereichert werden. In weit stärkerem Maße findet dies in den epischen Teilen des Reisewerks statt.

5.2. Das amerikanische Reisewerk II: Relation historique

42Erwartbar ausführlicher ist diese Episode im amerikanischen Reisewerk selber erzählt, genauer: im ersten Band der Relation historique.[76] Hier seien nur jene Passagen erwähnt, die weder im Tagebuch noch in den Plantes equinoxiales Erwähnung fanden: Zum Ersten werden vor Ort unternommene Analysen nachgetragen und mit weiterführenden Überlegungen verknüpft. Hierzu gehört der Bericht über Testverfahren, die klären helfen, ob es sich um ein Tier oder eine Pflanze handelt, so zum Beispiel solche zur Irritabilität und zur tierischen Elektrizität. Andere mögliche Testverfahren werden verworfen, weil sie kein sicheres Unterscheidungsmerkmal bieten.[77] Zur Analyse gehören auch weitere Vergleiche von Merkmalen mit anderen Pflanzen und Begründungen für die systematische Zuordnung, die auf weitere botanische Forschung, z. B. von Jean Vincent Félix Lamouroux und von Peter Forsskål, einem Schüler Linnés, referiert. Auch die möglichen Einwände, beispielsweise das Fehlen bestimmter, der Gattung Fucus eigentlich eigentümlicher Merkmale, werden gedanklich durchgespielt und pariert:[76] Vgl. Humboldt 1814–1825, I, 85–87. [77] Vgl. Humboldt 1814–1825, I, 85: „Nous n’y observâmes aucun vestige de movement spontané, aucun signe d’irritabilité, pas même en appliquant l’électricité galvanique. […] L’azote et le phosphore ayant été trouvés abondamment dans plusieurs plantes cryptogames, il auroit été inutile d’en appeler à la chimie pour décider si ce corps organisé appartient au règne végétal ou au règne animal.“

La feuille, examinée au microscope à l’instant où l’on venoit de la retirer de l’Océan, ne présentoit pas, il est vrai, ces glandes conglobées ou ces points opaques qui renferment les parties de la fructification dans les genres Ulva et Fucus; mais combien des fois ne trouve-t-on pas des dans les varechs dans un état tel qu’on ne distingue encore aucune trace de grains dans leur parenchyme transparent?

43Zum Zweiten nimmt auch hier wiederum das Phänomen der grünen Pflanzenfarbe trotz sonnenfernen Ortes großen Raum ein, so dass Humboldt ein allgemeines Thema der Pflanzenphysiologie, das ihn im Zusammenhang der unterirdischen Lebensräume von Pflanzen in den Freiberger Stollen beschäftigte, hier angesichts des unterseeischen Lebensraums wieder aufgreift, um es erneut zu analysieren, zu modifizieren, zu erweitern. Vor allem mit der Aufzählung all jener Beispiele im Pflanzenreich, wo ein Grünwerden beobachtet werden kann, ohne dass eine Beteiligung des Sonnenlichts festzustellen ist, geht er noch über die Ausführungen Bonplands in den Plantes equinoxiales hinaus:

Le varech de l’Alegranza présente par conséquent un nouvel exemple de plantes qui végètent dans une grande obscurité sans être étiolées. Plusieurs germes, encore enveloppés dans les bulbes des Liliacées, l’embryon des Malvacées, des Rhamnoïdes, du Pistacia, du Viscum et du Citrus, les branches de quelques plantes souterraines; enfin des végétaux, transportés dans des mines où l’air ambiant contient de l’hydrogène [Wasserstoff] ou une grande quantité d’azote [Stickstoff], verdissent sans lumière.[78] [78] Humboldt 1814–1825, I, 86.

5.3. Das amerikanische Reisewerk III: Nova Genera et Species Plantarum

44Selbstverständlich fanden die im ersten der Amerikanischen Reisetagebücher beschriebenen Pflanzen auch Eingang in die botanischen Teile des amerikanischen Reisewerks, insbesondere in die sieben Bände Nova Genera et Species Plantarum (vgl. Abschnitt III). Dieses umfangreiche Werk wurde von Carl Sigismund Kunth in Paris auf der Grundlage vor allem der Pflanzenbeschreibungen im Feldtagebuch Bonplands (Journal Botanique), der Herbarbelege von Humboldt und Bonpland, der Pflanzenzeichnungen und der Naturselbstdrucke verfasst.[79] Die ungeheure Arbeitsleistung Kunths hebt Humboldt in seinem Nachruf aus dem Jahre 1851 hervor: „Um von seiner grenzenlosen Thätigkeit einen Begriff zu geben, genügt es hier anzufügen, dass er vom Jahre 1815 bis 1825 die Beschreibungen der von Bonpland und mir gesammelten Pflanzenarten, über 4500 an der Zahl, unter denen 3600 neue, in 7 Foliobänden herausgab“.[80] Besonders auch an dieser Stelle wird die Bedeutung von Herbarbelegen deutlich. Im Zusammenhang der Regelung des Nachlasses von Kunth nach dessen Tod am 22. März 1850 und der Frage des Ankaufs seines Herbars von staatlicher Seite hebt Humboldt den Wert und die Einzigartigkeit des Kunthschen Herbars in seinem Brief vom 30. Juli 1850 an Johannes Schulze, leitender Beamter im preußischen Kultusministerium, hervor:[79] Vgl. Lack 2003, 122–123 und Stearn 1968, 10-21. – Die Quellen zeugen von dieser Arbeit, so z. B. im Journal Botanique, wo sich häufig der Vermerk von Kunths Hand befindet „N. G. & Sp.“ für Nova Genera et Species [Plantarum]. Vgl. Abschnitt III sowie die Abbildung in Stauffer/Stauffer/Dorr 2012, 86 (Fig. 6). [80] Humboldt 1851. – Vgl. zu den weitergehenden Leistungen Kunths im Rahmen der botanischen Teile des Reisewerks (= Partie 6) auch Lack 2003, 123–124 und Stearn 1968. Gemäß Rankin Rodríguez/Greuter 2001, 1232, arbeitete Kunth mit Bonplands Pflanzensammlung: „Bonpland's almost complete [...] set served as the main basis for Kunth when he wrote the accounts for the Nova genera et species plantarum“ (Humboldt/Bonpland/Kunth 1815–1825). Lack verweist dagegen auf das vergebliche Bemühen Kunths und Humboldts im November 1816, die bereits an Bord des Schiffes, mit dem Bonpland von Le Havre nach Buenos Aires reisen wollte, befindlichen Herbarbelege für die Arbeit in Paris zurückzuerhalten (vgl. Lack 2003, 122–123.); diese sandte Bonpland erst 1832 nach Paris (vgl. ebd., 125). Auch die Herbarbelege, die Humboldt an Willdenow gesandt hatte, scheinen ihm nicht zugänglich gewesen zu sein (vgl. McVaugh 1968, 34).

Die Kunthsche Sammlung meiner Species hat auch den Vorzug so vieler Zeichnungen von Blüthen und Fruchtzergliederungen (Analysen), die beiliegen. Dazu tritt noch ein wissenschaftlich sehr wichtiger Umstand ein. Unsere 7 folio-Bände Pflanzenbeschreibungen ‚Nova Genera et Species Plantarum aequinoctialium‘ sind nach den von Kunth besessenen Exemplaren entworfen und also, bei dem so oft unter den Botanikern erhobenen Zweifeln, welche Species wirklich gemeint sei, allein als Autorität entscheidend. Viele Beschreibungen und Abbildungen sind in den Nova Genera enthalten, die sich in dem Willdenowschen Herbarium gar nicht finden.[81] [81] Humboldt an Johannes Schulze, Potsdam, 30. Juli 1850 (Humboldt 1985, 138).

6. Die Wege der Materialien in Sammlungen und Gärten

45Die Wege der Pflanzenbeschreibungen in die Publikationen sind somit untrennbar verknüpft mit den Wegen der Pflanzenbelege – aber auch der Beschreibungen selbst – zunächst nach Europa, dann in unterschiedliche Herbarien, Sammlungen und Sammlungsinstitutionen. Die Ankündigung einer sehr umfangreichen Versendung von Pflanzenbeschreibungen und -material ist Gegenstand des Briefes von Humboldt an Willdenow aus Havanna vom 21. Februar 1801:

Um das [den Verlust der Früchte jahrelanger Arbeit] zu vermeiden haben wir von unseren Pflanzenbeschreibungen (2 Bände enthaltend heute 1400 Species bloß seltene und neue) Abschrift genommen. Ein Manuscript behalten wir bei uns, die Copie senden wir theilweise durch die Französischen Vice-Consuls nach Frankreich, an Bonplands Bruder nach la Rochelle. Die Pflanzen haben wir in 3 Samlungen vertheilt, da wir doubletten und tripletten von allem haben. Ein Herbarium im kleineren Format schleppen wir mit uns um die Welt, um zu vergleichen. Ein zweites (Bonpland gehörig mit dem ich natürlich alles theile) ist bereits nach Frankreich abgegangen und das dritte (in 2 Kisten mit Cryptogamisten und Gräsern 1600 verschiedene Species enthaltend, meist aus dem unbekannten Theile der Parime und Guayana zwischen dem Río Negro und Bresil wo wir voriges Frühjahr waren) sende ich heute durch Mister John Fraser über Charleston nach London. Durch Vervielfältigung vermindern wir die Gefahr.[82] [82] Humboldt an Willdenow, Havanna, 21. Februar 1801 (ehp: Humboldt 2020, 115, 1r–1v; https://edition-humboldt.de/H0001181) – Vgl. den Brief Humboldts an Willdenow, Havanna, 4. März 1801 (ebd., 123–124; https://edition-humboldt.de/H0006053).

46Versandt wurden sowohl getrocknete (also tote) Pflanzen in Form von Herbarbelegen als auch lebendes Material in Form von Samen und Früchten. 1801 wurde Willdenow Direktor des Königlichen Botanischen Gartens in Schöneberg und sorgte für die Aussaat der aus Amerika eintreffenden Sämereien.[83] Bemerkenswert ist, dass auch hier wieder die Kryptogamen eine besondere Rolle spielten. In seinem Brief an Wilhelm Karl von Haidinger vom 8. Mai 1857 schrieb Humboldt rückblickend: „Bei meiner Vorliebe für Cryptogamen, die mich unter Willdenow so viele Jahre ausschließlich beschäftigt haben, musste die Wichtigkeit, die man mit Recht auf diese Pflanzen legt, mich besonders erfreuen. Ich will mich rühmen, […] dass ich vor einem halben Jahrhundert die erste reiche Sammlung tropischer Crytogamen nach Europa mitgebracht habe“.[84][83] Vgl. Lack 2003, 112 und Lack 2004, 502 sowie den Brief Humboldts an Willdenow, Havanna, 21. Februar 1801 (ehp: Humboldt 2020, 123; https://edition-humboldt.de/H0001181/6v) und die Bestätigung der Ankunft in Willdenows Brief vom 1. Oktober 1802, wie aus Humboldts Brief an Willdenow aus Mexiko vom 29. April 1803 zu erschließen ist (https://edition-humboldt.de/H0006056). Vgl. auch Rankin Rodríguez/Greuter 2001, 1231: „a full set of the plant collections from Venezuela was sent to Willdenow from Havana early in 1801 and had been received in Berlin by September 1802“. In dieser Publikation wird auch am Beispiel der Gattung „Polygala“ der Frage nachgegangen, inwieweit das von Humboldt übersandte Material für Willdenows weitere Bände seiner Species plantarum (Linné/Willdenow/Link 1797–1830) verwendet wurde. [84] Zit. nach Werner 2013, 320. Vgl. hierzu auch im ersten Tagebuchband unter Verweis auf die Erfahrungen seiner Reise nach Caripe: „Cryptogamisten aller Art, Moose und fungi und Lichenes überaus häufig in der Tropenwelt“ (ART I, Bl. 54v).

47Den verschlungenen Wegen dieser Materialien ist bereits von berufener Seite vielfach nachgegangen worden, so von Paul Hiepko, 1974 bis 1997 Direktor des Herbariums im Botanischen Garten und Botanischen Museum Berlin-Dahlem, von Hans Walter Lack, seit 1990 Direktor an dieser Institution sowie von Werner Greuter, Leitender Direktor ebendort von 1978 bis 2008, gemeinsam mit Rosa Rankin Rodríguez vom Jardín Botánico Nacional in La Habana.[85] Ausgehend von deren Forschungsarbeiten hat schließlich eine Forschergruppe aus der Schweiz und den USA, Fred W.und Johann Stauffer gemeinsam mit Laurence J. Dorr, durch umfangreiche Recherchen in fünf europäischen Herbarien und in systematischer Weise die Spur einer von Humboldt und Bonpland auf dem Gebiet des heutigen Venezuela gesammelten Pflanzengruppe, nämlich den Monokotyledonen (einkeimblättrige Pflanzen, wozu auch Palmen gehören), verfolgt.[86][85] Vgl. Hiepko 1990, Hiepko 2006, Lack 2003, Lack 2004 und Lack 2009 sowie Rankin Rodríguez/Greuter 2001. Lack hat auch die Liste der an Willdenow gemäß Brief vom 21. Februar 1801 aus Havanna gesandten „Sammlung auserlesener Pflanzen“ in Bonplands Journal Botanique nachgewiesen (vgl. Lack 2003, 110–111). Die an Willdenow im Februar 1801 abgesandten Pflanzenarten hatte Bonpland auf der Rückseite des Vorderdeckels seines Feldbuchs in Form einer Liste von Nummern notiert, die auf die entsprechenden Pflanzenbeschreibungen in demselben referieren. [86] Vgl. Stauffer/ Stauffer/Dorr 2012, 75: „The monocotyledon collections emanating from Humboldt and Bonpland’s expedition are used to trace the complicated ways in which botanical specimens collected by the expedition were returned to Europe, to describe the present location and to explore the relationship between specimens, field notes, and descriptions published in the multi-volume ‚Nova Genera et Species Plantarum‘ (1816–1825).“

48Das Forschungsinteresse dieses Projekts war ein zweifaches: 1. die Rekonstruktion der Wege der Herbarbelege nach Europa und in die Sammlungen; 2. das Verhältnis der Feldnotizen zur Veröffentlichung der Nova Genera et Species Plantarum und damit auch die Frage der eigentlichen Autorschaft der Taxa. In einer Graphik veranschaulichen die Autoren dieser Studie die Wege der in Amerika gesammelten Pflanzen nach Europa und in unterschiedliche Institutionen.[87] In Form mehrerer Tabellen, die teils von den Herbarbelegen, teils von den Beschreibungen in den Nova Genera ausgehen, werden die Bezüge zwischen Material und publizierter Pflanzenbeschreibung je für einzelne Arten hergestellt, wobei die Länge der zweiten Tabelle „Monocotyledon species cited in Humboldt & al. (1816–1825) for which corresponding specimens were not found in P.-Bonpl.“ sich auch dem Umstand verdanken dürfte, dass der Verfasser der Nova Genera, Carl Sigismund Kunth, ein eigenes Herbar mit den in Amerika gesammelten Pflanzen Humboldts und Bonplands nutzte, das nach seinem Tod in das Generalherbar in Berlin-Dahlem integriert und im Zweiten Weltkrieg, in der Nacht vom 1. zum 2. März 1943, bei einem Bombenangriff vernichtet wurde; „das Herbar Willdenow hingegen entging im Keller einer Bank der Zerstörung“.[88] Zudem befanden sich wichtige Herbarbelege von Bonpland zu der Zeit der Arbeit Kunths an den Nova Genera wohl bei Bonpland in Argentinien (vgl. Anm. 79).[87] Vgl. Stauffer/Stauffer/Dorr 2012, 87, Fig. 7. Zu den im Folgenden erwähnten Tabellen vgl. die Seiten 92–105, 110–119. [88] Lack 2003, 130–131. Vgl. allerdings die Rekonstruktion auf der Grundlage von Fotografien (Stauffer/Stauffer/Dorr 2012, 84).

III. Beschreibung und Bestimmung neuer Arten und die Verweise auf das Journal Botanique von Bonpland

49Nach Auskunft Humboldts in seinem bereits zitierten Brief an Willdenow vom 21. Februar 1801 aus Havanna, in welchem die kurz bevorstehende Absendung von 1400 Pflanzenbeschreibungen und drei Sammlungen mit Herbarbelegen nach Europa ankündigt wird, werden von den Forschern auf der Reise mehrere Pflanzensammlungen parallel geführt. Die Rede ist von drei Sammlungen, „da wir doubletten und tripletten von allem haben“: ein Herbar im kleinen Format für die Reise, eines, das Bonpland gehört, und ein drittes mit „Cryptogamisten und Gräsern 1600 verschiedene Species enthaltend“.

50Daneben wurden, wie schon gesehen, separate Pflanzenzeichnungen angefertigt sowie Naturselbstdrucke, um dem Verfall der Herbarbelege durch Feuchtigkeit und Insektenbefall etwas Dauerhaftes an die Seite zu stellen.[89] Naturselbstdrucke sind ein bereits in der Frühen Neuzeit, beispielsweise von Paolo Boccone (1633–1704) und Johann Hieronymus Kniphof (1704–1763),[90] praktiziertes Verfahren, in welchem der Abdruck direkt von der mit Farbe bestrichenen Pflanze genommen wurde. Die Verwendung von Naturselbstdrucken wurde als Besonderheit dieser Expedition angesehen. Allerdings wurde dieses Verfahren ebenfalls bei den botanischen Expeditionen in Neu Granada (1783–1816) unter der Leitung von Jose Celestino Mutis verwendet.[91][89] Die Naturselbstdrucke („Impressions des Plantes du Voyage de MM. Humboldt et Bonpland“) sind überliefert in Paris, Institut de France, Bibliothèque, MS 998. Vgl. Lack 2003, 116 und 125 sowie Lack 2004, 494 und 498. Lack erwähnt im Kontext seiner Ausführungen zu den Naturselbstdrucken die Zusätze „imprimé“ von Humboldts Hand im Journal Botanique (Lack 2003, 117 und Lack 2004, 498). – Vgl. auch Lack 2001. [90] Vgl. zu Boccone: Giallombardo/van Andel [2018]. [91] Vgl. Lack 2004, 498: „Soweit bekannt, wurde auf keiner Expedition davor oder danach der Naturselbstdruck als Verfahren zur Dokumentation von Pflanzen verwendet.“ Vgl. dagegen Bleichmar 2017, 135. Diesen Hinweis verdanke ich Julia Böttcher (Erlangen, ZiWiS).

51Für die Pflanzenbeschreibungen sind die amerikanischen Tagebücher Humboldts, die mit ihrer Komplexität sowohl im Hinblick auf die Verschiedenheit der Inhalte, als auch im Hinblick auf ihre Verwendungs- und Überlieferungsgeschichte eine besondere Herausforderung darstellen,[92] nicht die einzige und in diesem Fall nicht einmal die bedeutendste Quelle. Das eigentliche Feldtagebuch, das Journal Botanique, nämlich wurde von Aimé Bonpland geführt und ist im Muséum National d’Histoire Naturelle (Paris), jener Institution, der es im Juli 1851 von Humboldt übergeben wurde, vollständig und in seinem ursprünglichen Entstehungszusammenhang überliefert.[93] „Es handelt sich um ein siebenteiliges Feldbuch, das Beschreibungen von 4528 im Gelände beobachteten bzw. gesammelten Pflanzen und von 33 Tieren sowie vorläufige Bestimmungen und Funddaten enthält.“[94] In diesem Feldbuch sind unter fortlaufenden Nummern (Numerus currens) die Pflanzennamen und ihre Beschreibungen eingetragen. Hans Walter Lack sieht in der „konsequente[n] Nummerierung der Beschreibungen und ihre[r] chronologische[n] Anordnung“ eine Besonderheit dieses Feldtagebuchs.[95] Dadurch, dass Ort, Jahr und Monat der Pflanzenaufnahme in der Regel notiert sind, zeigt sich hier – zumindest in grober Datierung – auch der ursprüngliche Reiseverlauf, der durch die Zerstörung des Entstehungszusammenhangs im Falle der Humboldt’schen Tagebücher nicht mit dem aktuellen Überlieferungszustand – der Nummerierung von Heften, Blättern und Seiten – übereinstimmt.[92] Vgl. hierzu auch den Beitrag von Ulrike Leitner. [93] Vgl. Paris, Muséum National d’Histoire Naturelle, MS 1332–1334, MS 2534 und MS 53–54; MS 211 enthält Eintragungen aus der Zeit vor der Amerikareise. – Vgl. Lack 2003, 114 und 126–127. Lack bezieht sich auf den Brief an die Direktion des Muséum („Professeurs-Administrateurs“) vom 12. Juli 1851 (Schulz 1960, 629–630.) sowie auf den Brief an Bonpland vom 1. September 1853 (Hamy 1906, 235), in dem es eindringlich heißt: „Tes importants manuscrits botaniques, écrits pendant notre voyage, se trouvent déposés avec beaucoup de soin et très complets au Musée d’histoire naturelle du Jardin des Plantes, comme ta propriété de laquelle tu peux disposer. Je te prie à genoux, cher Bonpland, de les laisser à Paris, au Jardin des Plantes, où ton nom est vénéré.“ [94] Lack 2003, 114. Vgl. auch Lack 2004, 495–496. [95] Vgl. Lack 2004, 496.

52Im Brief an Willdenow aus Havanna vom 21. Februar 1801 schreibt Humboldt, dass jede Pflanze in der Regel zweifach beschrieben wurde – von ihm und von Bonpland: „Die Pflanzen mit doubletten […] hat er [Bonpland] allein getroknet, die Beschreibungen sind etwa zur Hälfte sein Werk. Oft haben wir jeder besonders dieselben Pflanzen beschrieben, um gewisser zu sein“.[96] Humboldt hat das Szenarium der Feldforschung in seinem amerikanischen Tagebuch für jenen sehnsuchtsvoll erwarteten Moment beschrieben, als sie zum ersten Mal außereuropäischen Boden betraten: „Mit welcher Lust wir uns 3 St[unden] vorher beschäftigten unsere Pflanzenbüchsen, Thermometer, Salpetersäure u[nd] Fäustel zusamenzupakken. Der erste, der zweite[,] der dritte Schritt den wir ans Land thun würden, daß der eine rechts der andere links gehen müsse, um mehr zu finden, alles war im voraus calculirt.“ (Bl. 10r) Überträgt man dieses – fraglos stilisierte – Szenarium auf die botanische Feldforschung, so lässt sich ein zwar abgesprochenes, aber auch autonomes Arbeiten beider im Feld denken – und ein Vergleich der Ergebnisse zu einem späteren Zeitpunkt, sehr wahrscheinlich nach der Rückkehr ins Feldlager oder auch in die städtische Unterkunft. Spuren einer solchen Vorgehensweise enthalten sowohl das erste Amerikanische Reisetagebuch Humboldts als auch das Journal Botanique von Bonpland. Dies soll an einem in vielfacher Hinsicht besonderen – und hier erstmals edierten – Tagebucheintrag gezeigt werden.[96] ehp: Humboldt 2020, 120; https://edition-humboldt.de/H0001181/5r.

53Anders als in den bisher dargestellten Erwähnungen, Analysen und Beschreibungen von Pflanzen finden sich in ART I auf den Seiten 37r bis 41v Pflanzenbeschreibungen, die durch mindestens zweierlei gleich auf den ersten Blick aus dem Restkorpus herausfallen oder doch aus diesem hervorstechen: 1. durch die listenartige Nummerierung sowie 2. durch ihren beachtlichen Umfang: auf 10 Seiten allein 51 mit Nummern versehene Arten, sowie weitere nicht bezifferte, insgesamt ca. 70. Diese Nummerierung folgt auf wenigen Seiten (z. B. 38v) strikt dem Numerus currens und hat somit den Anschein einer an dieser Stelle neu angelegten, durchgehenden Liste. Doch auf den meisten anderen Seiten finden sich teils Nummerierungen mit Lücken (z. B. Bl. 38r: Nrn. 30, 34), teils solche, die gar nicht dem Numerus currens folgen, sondern einen Wechsel von höheren und niedrigen Zahlen zeigen (z. B. Bl. 37r: Nrn. 34, 18, 32). Zudem sind einige Zahlen mehrfach notiert – zum Teil unter Bezugnahme auf dieselbe Spezies, zum Teil eine andere Art anführend. Umgekehrt findet man auch dieselbe Art unter zwei verschiedenen Ziffern beschrieben (Achras sapota: Bl. 38v: Nr. 36; Bl. 40r: Nr. 27). Die Form der Beschreibungen ist regelmäßig: Auf die vorangestellte Ordnungsnummer folgt der Gattungsname, dann das Artepitheton, sowie der Hinweis, dass bzw. ob diese Art oder Variante eine neue ist (z. B. Bl. 37v: Nrn. 57, 33; Bl. 39v: Nr. 53; Bl. 40r: Nr. 42). Im Falle von „Glochicarpus“ (Bl. 40r) ist sogar ein „Nov[um] Gen[us]“ am Ende vermerkt. Die Pflanzenbeschreibung schließt häufig mit der Angabe der beschreibenden Person oder Personen, etwa „B. et H.“ für „Bonpland et Humboldt“ oder „Descr. B.“ für „Descripsit Bonpland“ oder auch ein einfaches „B.“ für „Bonpland“ und „H.“ für „Humboldt“. Die Reihenfolge „H. et B.“ findet sich nicht.

54 Große Ansicht (Digilib)Beispiel für die Verweise auf das Journal Botanique, hier: „n[umero] 31 B[onpland].“ (ART I, Bl. 37r) Neben diesen, in Form einer Liste immer zu Beginn eines neuen Absatzes notierten Nummern, haben insgesamt 21 der 51 bezifferten Pflanzenbeschreibungen zusätzliche, mit einem „B.“ versehene Nummern. Sie wurden offenbar später, meist am Rand, eingefügt und haben die Form „n 31 B.“ (vgl. die zu Bl. 37r gehörende Abbildung). Da die Abkürzung „B.“ auch an anderen Stellen des Tagebuchs für „Bonpland“ steht, war es naheliegend, davon auszugehen, dass dieser Verweis für „numéro 31 Bonpland“ steht und somit auf eine Nummer in Bonplands Aufzeichnungen referiert, auch Verweise auf Herbarien oder Zeichnungen waren denkbar.

55Tatsächlich handelt es sich durchgehend um Verweise auf das Journal Botanique. Unter den angegebenen Nummern ist dort jeweils dieselbe Pflanze beschrieben, so dass sich folgende Konkordanz ergibt:

Tabelle aufklappen   Tabelle einklappenTabelle: Explizite Verweise von ART I auf das Journal Botanique (JB)
Nr. ART I Nr. JB I Name(n) der Pflanzen Bl. Nr.
ART I
Mehrfachvergabe
derselben Nrn.
Bemerkungen
15 22 Tribulus cistoides. Abroha 38r eigentl. „n. 22 H.“
Schreibfehler!
16 29 Psidium pyriferum Guajana 38r
17 37 Chyaragouaja 38r nur „n. 37“, ohne Namenskürzel
18 23 Varronia bullata 37r
22 19 Asclepias curassauica 38r
24 17 Capraria biflora 37v 24 auf Bl. 37v:
Bombax heptaphyllum
Zweitvergabe ohne Verweis auf JB;
Ziffer = Handschr. Bonpland
25 18 Scoparia dulcis 37v
26 21 Tamarindus indica 38r
27 35 Fuente
[JB I, linke Spalte:
Cyssus Sicyoides]
38r 27 auf Bl. 40r:
Achras sapota
Zweitvergabe ohne Verweis auf JB;
beides Handschr. Humboldt; vgl. Nr. 36
28 31 Bouo 37r
30 34 Calea sausa
[JB I, linke Sp.:
Calea jamaicensis]
38r
31 26 [Tutuma] Crescentia Cujete 37v 31 auf Bl. 41r:
Crescentia Cujete
32 30 Guama 37r
33 32 Loranthus quadrangularis
[JB I: Loranthus tetragonus]
37v
34 36 Anauco arbor
[JB I, linke Sp.:
Scythrina? glauca]
37v 34 auf Bl. 37v und 38r:
Anauco bzw. Anaoucho arbor

34 auf Bl. 37r, erster
Eintrag der Liste: Mahaujo
Bl. 38r: „n 36“, ohne Namenskürzel

ohne Verweis auf JB;
Ziffer = Handschr. Bonpland
35 33 Solanum diphyllum 38v
36 27 Achras sapota. Nispero 38v
37 24 Hierba de Savana [...]
oder Nama jamaicensis?
[JB I, linke Sp.: Nama jamaicensis
mehrere Streichungen]
38v
38 25 Ruellia tuberosa. Juquilla 38v
39 38 Olivo …
[JB I, linke Sp.:
Capparis bryenia]
38v
41 28 Bixa orellana 38v

56Humboldts Zahlenreihe umfasst die Nummern 15 bis 41, wobei die Ziffern 21, 23 und 29 fehlen, während die Ziffern 19, 20 und 40 nicht mit einer Referenz auf „B[onpland]“ versehen, also ohne Bezugnahmen auf das Journal Botanique verwendet sind. Analog finden sich in Bonplands Journal Botanique Verweise auf Humboldt. Die Einträge haben dort die Form: „H. no 24.“. Auch diese führen korrekt zur Beschreibung derselben Pflanze. Zusätzlich zu diesen Referenzierungen ist ab und an im Journal Botanique der Hinweis notiert: „H. descripsit.“ (also: „Humboldt hat [sie] beschrieben.“) Die ersten beiden Beispiele dieser Art seien nun näher dargestellt.

57Auf den Seiten 3 bis 4 des Journal Botanique ist unter der Nr. 30 die Pflanze „Guama“ beschrieben, die — gemäß einer Randbemerkung — in Humboldts Aufzeichnungen die Nr. 32 trägt und tatsächlich unter dieser Nummer in ART I enthalten ist (Bl. 37r). Vergleicht man beide Einträge, so zeigt sich eine – von Schreibvarianten abgesehen – nahezu exakte Übereinstimmung. Auch die Randbemerkung „Mimosa Inga“ (bzw. „Ynga“) befindet sich in beiden Aufzeichnungen; bei Bonpland ist die Pflanze zudem unter diesem Namen angeführt. Eine kleinere, unwesentliche Abweichung findet sich zu Beginn, indem es bei Humboldt heißt „Cal[yx] et Cor[olla] virides subvillosi“, bei Bonpland hingegen „Calix et Corol[la] subvirid[es] subvillosi“. Eine weitere Differenz bildet in ART I die Einfügung am linken Rand „et articulate“ („foliis abrupte et articulate pinnatis“), die bei Bonpland nicht erscheint; vermutlich ein Beleg dafür, dass diese Ergänzung später von Humboldt eingefügt wurde. Umgekehrt enthält auch Bonplands Journal an dieser Stelle Streichungen, Ersetzungen und Zusätze, die wohl Zeichen einer späteren Bearbeitung sind. In beiden Heften folgt auf die lateinische Beschreibung der Hinweis: „Nous pensons que c’est le bel arbre que Cavanilles a publié d’après le MSS [manuscrits] de Mutis, qui est entre les mains de Mr. Alonza prem[ier] Offic[ier] du Secrét[ariat] des Indes.“ Diese Bemerkung ist sowohl im Journal Botanique als auch in ART I mit senkrechten Linien gestrichen. In Humboldts Tagebuch folgt noch der Zusatz: „B[onpland] et H[umboldt]“. Als mögliches Szenarium dieser Verschriftlichung wäre auch ein Diktat Humboldts denkbar. Interessant sind unter diesem Aspekt die kleineren Korrekturen durch Streichungen, die somit möglicherweise auch für mündliche Selbstkorrekturen Humboldts während des Diktats stehen könnten. Selbstverständlich sind in anderen Fällen auch Diktate oder Abschriften von Bonpland anzunehmen, zumal dort, wo in ART I lediglich ein „B.“ für „Bonpland“ vermerkt ist.

58Dieselbe – von Schreibweisen abgesehen – genaue Übereinstimmung lässt sich auch für das im Journal Botanique nachfolgende Beispiel feststellen, der Nr. 31 (JB I, 4–5), bei Humboldt Nr. 28 (Bl. 37r), die ebenfalls den Zusatz „H[umboldt] descripsit“ enthält. Es handelt sich um die Pflanze „Bouo“ resp. „Bovo“, bei Bonpland mit dem Zusatz „beauveau“. Auch in diesem Fall könnte Bonplands Aufzeichnung ein Diktat Humboldts zugrundeliegen. Humboldts Eintragung ist allerdings etwas umfangreicher: Auf die in beiden Tagebüchern identische Beschreibung folgt in ART I der Zusatz: „B[onpland] et H[umboldt] […] 1 flos, 2. calix 3. Corolla caliculata 4. Pistillum 5 siliqua non matura 6. semen maturum 7 glandula petiolaris. fig[urae] 1–4 et 7 lente auctae. Odor Robiniae pseudoacaciae.“[97] Hierbei handelt es sich um die Legende zu einer Zeichnung: Die einzelnen Ziffern verweisen also auf solche in der Zeichnung und geben jeweils an, um welchen Pflanzenteil es sich handelt. Zudem ist vermerkt, dass die Darstellungen 1 bis 4 und 7 unter Verwendung einer Lupe angefertigt wurden. Der der Zeichnung nicht entnehmbare Geruch ist zusätzlich notiert: Er entspricht dem der Gewöhnlichen Robinie. ART I enthält am rechten Blattrand eine Skizze, die Blattstiele und Blätter zeigt, einen Stengel mit zwei binaten Blättern. Die Bildunterschrift lautet: „Legum[inosa] matura contorta“ (vgl. die zu Bl. 37r gehörende Abbildung). Verweise auf Zeichnungen – bzw. auf Teile von Zeichnungen, die beziffert sind –, finden sich bei zahlreichen anderen Pflanzenbeschreibungen in dieser Pflanzenliste.[97] „1 Blüte, 2. Kelch, 3. gefaltetes Kränzchen 4. Stempel 5 unreife Schote 6. reifer Samen 7 Stiel-Drüse, Figuren 1–4 und 7 mit Linse vergrößert. Geruch der Robinia pseudoacacia.“ (Übers. von Simon Rebohm.) – Vgl. auch die Legende zu „Moutabaea glandulosa“ (ART I, Bl. 38r).

59Interessanterweise gehen Bonplands Verweise auf die korrespondierende Nummer bei Humboldt auch über dessen Nr. 41 hinaus. So etwa ist im Journal Botanique unter der Nr. 43 auf die Nr. 42 bei Humboldt verwiesen. Diese nun hat in ART I zwei Einträge und gewährt einen besonders aufschlussreichen Einblick in den Arbeitsprozess beider Wissenschaftler: Der erste Eintrag (Bl. 38v) beginnt ohne die übliche Art- oder wenigstens Gattungsbezeichnung und endet mit: „descr[ipsit] B[onpland]. Est Cordiae Spec[ies] vid[e] infra.“ Der zweite Eintrag (40r) beginnt sogleich mit dem Artnamen „Cordia dentata“ und ist mit dem Kürzel „(B & H.)“ für „(Bonpland & Humboldt)“ versehen. Im Journal Botanique (JB I, 8) trägt die Pflanzenbeschreibung ebenfalls den Artnamen „Cordia dentata“. Auf die mit dem ersten Eintrag Humboldts identische Beschreibung folgen hier Streichungen und Zusätze, die aber nicht mit Humboldts zweitem Eintrag übereinstimmen. Die Pflanzenbestimmung als ein zugleich gemeinsames und getrenntes Werk, das sich über einen gewissen Zeitraum entwickelt, wird hieran deutlich.

60Einen ebenfalls in ART I nicht vorhandenen Verweis trägt die Nummer 45 im Journal Botanique: „h. 48. / H. Descripsit.“ In beiden Fällen ist die Pflanze mit dem Vernakularnamen „Chiuchihuc“ bezeichnet; in beiden Fällen ist notiert, dass es sich vermutlich um eine Bromelienart handelt (JB I, 8–9; ART I, Bl. 39r). [98][98] Vgl. des Weiteren die Verweise im Journal Botanique: von 55 auf 58; Nr. 48 mit dem Verweis: „H. Descrips. et pinxit“, ebenso Nr. 66.

61Die einzelnen Einträge im ersten Band des Journal Botanique sind so angelegt, dass sich in der linken Hälfte des Blattes die Pflanzennamen, mit fortlaufender Nummer, befinden, in der rechten Hälfte die Pflanzenbeschreibungen. Der Raum zwischen den Pflanzennamen ist also zunächst leer, weist aber oftmals zahlreiche zusätzliche Notizen auf. Die Verweise auf die korrespondierende Nummer bei Humboldt sind hier ebenso eingefügt wie weitere Vermerke.[99] Im Falle der Bromelia Chiuchihuc handelt es sich um eine extrem lange, sehr klein geschriebene Notiz Humboldts, die allerdings zum nachfolgenden Eintrag gehört, „46. Carica papaya“, deren Beschreibung von der Hand Bonplands fehlt. Diese von Humboldt außergewöhnlich ausführlich beschriebene Pflanze wurde, wie ein weiterer Vermerk von Kunth zeigt („N. G. & Sp.“), in die Ausgabe der Nova Genera et Species Plantarum aufgenommen.[100][99] Vgl. hierzu auch Lack 2003, 114: „Dabei fügte er [Bonpland] Ergänzungen in den Journal Botanique ein, vor allem die von ihm veröffentlichten wissenschaftlichen Namen und die Nummern der Tafeln, auf denen die betreffenden Arten als Kupferstiche abgebildet wurden. Diese Zusätze sind allerdings oft nicht leicht als solche zu erkennen, da die Masse der im Gelände getätigten Eintragungen ebenfalls von Bonplands Hand sind, […].“ [100] Vgl. die Abbildung der Seite bei Stauffer/Stauffer/Dorr 2012, 86 (Fig. 6) sowie Humboldt/Bonpland/Kunth 1815–1825, II, 124–125. – Vgl. aber auch schon Linné/Gmelin 1788–1793, II.1, 701: Carica Papaya.

62Finden sich somit Notizen von Humboldt in Bonplands Journal Botanique so auch umgekehrt solche von Bonpland in den Amerikanischen Reisetagebüchern. Beispielsweise sind einige Ziffern in der hier behandelten Pflanzenliste in ART I eindeutig der Hand Bonplands zuzuordnen.[101] Worauf also verweisen nun die Ziffern der Pflanzenliste in ART I? Fakt ist, dass sie nicht eine eigene Reihe bilden, da sie hierfür zu lückenhaft sind und zudem in der Zahlenfolge vor- und zurückspringen (z. B. Bl. 37r: Nr. 34, 18, 32). Es muss also davon ausgegangen werden, dass sie auf etwas Externes, das dann dort dem Numerus currens folgt, verweisen.[102] Die Ziffern im Journal Botanique sind es nicht, denn diese sind ja separat am Rande vermerkt und stimmen nicht mit den Ziffern in ART I überein. Es verbleiben als Referenzpunkte im Prinzip drei Möglichkeiten: Herbarbelege, Zeichnungen und die Naturselbstdrucke. Letztere sind nach Hans Walter Lack mit den Ziffern des Journal Botanique korreliert. Da die Zeichnungen zum großen Teil nicht überliefert sind, ist hier eine Prüfung schwierig. Möglich ist – angesichts des im oben zitierten Brief an Willdenow vom 21. Februar 1801 aus Havanna ausdrücklich erwähnten Sammelns von „doubletten und tripletten“ –, dass es sich um Verweise auf andere Herbarbelege handelt, möglicherweise sogar jene, die in die oben (vgl. Abschnitt 5.3) von Humboldt erwähnte „Kunthsche Sammlung meiner Species“ eingegangen sind, zumal der genannte „Vorzug so vieler Zeichnungen von Blüthen und Fruchtzergliederungen (Analysen), die beiliegen“ auch zu der Liste „Plantes de Cumaná“ passt, in welcher so häufig auf Zeichnungen verwiesen ist. Zu dieser Fragestellung sind weitere Recherchen erforderlich.[103][101] So etwa die Nummern 34 (Bl. 37r), 24 (Bl. 37v) und 48 (40v), wobei es zu diesen Nummern Zweitvergaben derselben Ziffer gibt (zu 34: Bl. 37v; zu 24: Bl. 37v; zu 48: 39r). [102] Rankin Rodríguez/Greuter 2001, 1233, vermuten dagegen, dass die Nummern der Pflanzenbeschreibungen lediglich als beliebig referenzierbare Bezugspunkte genutzt wurden: „Rather, they served to number a large series of mostly descriptive data on the collected plants and cross-reference these observations“. In diesem Sinne sind wohl auch die Nummern zu deuten, die Humboldt der „250 Species“ umfassenden „Samlung auserlesener Pflanzen“ beifügte, welche er am 4. März 1801 von Havanna aus an Willdenow sandte; vgl. Humboldt an Willdenow, Havanna, 4. März 1801 (ehp: Humboldt 2020, 123; https://edition-humboldt.de/H0006053/1r) [103] Zwei Aussagen von Hans Walter Lack müsste hierbei besonders nachgegangen werden: 1. „Ein nennenswerter Teil der Herbarexemplare bekam nämlich offensichtlich gar keine Nummern und wurde auch nicht in das Journal Botanique eingetragen.“ (Lack 2003, 114.) 2. „Durch die konsequente Anwendung der im Journal Botanique verwendeten Nummern auf alle Serien […] war […] der innere Zusammenhang […] sichergestellt“ worden (Lack 2003, 131). Vgl. auch Lack 2004, 493, wonach die Nummern des Journal Botanique sich auch auf den Feldetiketten, den Naturselbstdrucken und „der einzigen erhaltenen Zeichnung, die getrennt vom Feldbuch aufbewahrt wird“, befinden. Dazu auch Lack 2018, 135 sowie Rankin Rodríguez/Greuter 2001, 1232f.– Schließlich müssten Varianten und Techniken des Tagebuchschreibens erwogen werden; vgl. z. B. Bourguet 2010.

IV. Fazit

63Folgt man den Spuren der Pflanzenbeschreibungen im ersten der Amerikanischen Reisetagebücher Alexander von Humboldts, so zeigen sich diese als in einem dreifachen Sinne intertextuell vernetzt: Die erste Vernetzung ist jene zwischen Feldnotiz und Publikation sowie zwischen unterschiedlichen Publikationen derselben Tagebuchpassagen. Die zweite Vernetzung ist die zwischen verschiedenen Feldtagebüchern, betrifft also diejenige im Forschungsprozess selbst. Dies gilt auch für die dritte Vernetzung, jene nämlich zwischen der Grundlagenliteratur, wie etwa das Systema Naturae von Linné/Gmelin, und den Beobachtungen und Aufzeichnungen vor Ort.

64Der Vergleich zwischen beiden Tagebüchern und den sich hieran zeigenden Arbeitsprozessen lässt sich im Rahmen dieser Einführung nur erst beginnen und damit ein Weg für weitergehende Forschung andeuten. Schon jetzt aber kann zweierlei festgehalten werden:

65Zum Ersten erlauben die hier erstmals edierten Passagen mit den Pflanzenbeschreibungen Humboldts und deren Vergleich mit jenen im Journal Botanique Bonplands einen neuen und anderen Blick auf das Miteinander der beiden Wissenschaftler bei der Feldforschung. Humboldt selbst hatte an Willdenow geschrieben: „Die Pflanzen mit doubletten […] hat er [Bonpland] allein getrocknet, die Beschreibungen sind etwa zur Hälfte sein Werk. Oft haben wir jeder besonders dieselbe Pflanze beschrieben, um gewisser zu sein“. Hans Walter Lack, der keinen Zugriff auf die Handschrift der Amerikanischen Reisetagebücher hatte[104] und somit die Pflanzenbeschreibungen in ART I nicht kannte, hat die Angaben in diesem Brief als „glaubwürdig“ einstuft, meldet aber hinsichtlich der Aussage Humboldts starke Zweifel an: „Humboldts Anteil an den Pflanzenbeschreibungen im Journal Botanique war wesentlich geringer als von ihm behauptet […], und nur sehr wenige Pflanzen wurden von beiden Reisenden beschrieben (z. B. MS 53: No. 3665). Vielleicht hat auch Humboldt einzelne Beschreibungen Bonpland zur Niederschrift ins Journal botanique diktiert (P. Hiepko, per. Mitt.).“[105] Der letztere Punkt ließ sich bereits aufgrund der – von Schreibvarianten abgesehen – exakt übereinstimmenden Pflanzenbeschreibungen und aufgrund der Vermerke von Bonpland („H. descripsit.“) plausibilisieren.[104] Vgl. die Hinweise auf entsprechende mündliche Mitteilungen von Margot Faak, z. B. Lack 2003, 115 und 132. [105] Lack 2004, 499–500.

66Doch muss man hier noch weitergehen: Die Aussage Humboldts darf nicht auf das Journal Botanique allein bezogen und an diesem geprüft werden.[106] Dies setzte implizit voraus, dass sämtliche Pflanzenbeschreibungen nur in diesem niedergeschrieben wurden und dass die von Bonpland eingetragenen Beschreibungen ausschließlich von ihm selbst stammen. Beides darf man hinterfragen. Tatsächlich lässt sich aus dem oben erwähnten, im Zusammenhang des ersten Schritts auf außereuropäischem Boden dargestellten Szenarium der Feldforschung einerseits und aufgrund von Humboldts Behauptung einer je unabhängigen Beschreibung derselben Pflanzen andererseits bereits eine weitere Niederschrift und ggf. Überlieferung vermuten — und sei es auch nur eine 'Feldnotiz' vor der Zusammenführung beider Beschreibungen im Journal Botanique. Durch die hier erstmals edierte Pflanzenliste in ART I scheint eine solche nun belegt zu sein,[107] und es darf angenommen werden, dass sie sich nicht vollständig erhalten hat. Angesichts der Kompetenz Humboldts auf dem Gebiet der Kryptogamen muss zudem aufmerken lassen, dass gerade deren Beschreibungen in Bonplands Feldbuch, dem Journal Botanique, auffällig lückenhaft sind.[108] [106] Vgl. hierzu das Fazit von Lack nach Sichtung des Journal Botanique, dass „nur sehr wenige Pflanzenbeschreibungen und eingestreute Notizen von Humboldt stammen“ (Lack 2003, 114). [107] Und auch sogleich die ersten beiden Einträge im Journal Botanique (MS 1332), die die Nummern 1 und 2 tragen, scheinen dies zu belegen. Die mit „1“ paginierte Seite ist überschrieben: „isla la gracieuse prairial an 7“ (also zwischen dem 20. Mai und dem 18. Juni 1799; gemäß ART I am 17. Juni) die Eintragung mit der Nr. 1 lautet: „atriplex portulacoides“, die zweite „Salsola vermiculata“. Damit sind hier die beiden Pflanzen festgehalten, die oben bereits als wissenschaftliche Objekte in ART I thematisiert wurden – allerdings mit der Abweichung, dass Humboldt unter Bezugnahme auf die Beschreibungen in Linné/Gmelin mit „Salsola muricata“ (Bl. 11v) vergleicht und die Abweichungen festhält. [108] Vgl. Lack 2004, 496: „Wie bei einem Feldbuch nicht anders zu erwarten, schwanken Ausführlichkeit und Genauigkeit der Beschreibungen in weiten Grenzen, aber nur selten – etwa bei mehreren Krytogamen – fehlen sie völlig.“

67Allerdings bleibt auch zu bedenken, dass sich die Verweise auf korrespondierende Nummern nur unter den ersten etwa 70 Nummern des Journal Botanique finden. Lack hält es daher für wahrscheinlich, dass Humboldt und Bonpland nur „in den ersten Tagen in Cumaná […] getrennt gesammelt und beschrieben“ haben.[109] Es wäre allerdings ebenso denkbar – insbesondere angesichts der mehrfach vergebenen Nummern in ART I –, dass dieses Verfahren – verschiedene Ziffern für dieselbe Spezies zu verwenden und nachträglich auf den jeweils korrelierenden Eintrag im anderen Feldbuch zu verweisen – sich als unpraktikabel erwiesen hat und zudem die Pflanzenbeschreibungen Humboldts nach der Verwendung durch Kunth vernichtet wurden oder andere Überlieferungswege beschritten. Denkbar wäre, wie schon angedeutet, schließlich auch, dass die je im Gelände oder auch im Feldlager erstellten Pflanzenbeschreibungen verglichen wurden und in kompilierter Form Eingang ins Journal Botanique fanden, wobei diese Eintragungen dann in der Regel von Bonpland vorgenommen wurden.[110] Hierfür spricht etwa, dass bestimmte Notate sofort zu geschehen hatten, da Farbe und andere Merkmale – insbesondere unter extremen klimatischen Bedingungen wie Hitze oder hohe Luftfeuchtigkeit – sich rasch verändern oder verlieren konnten. Hierfür spricht aber auch, dass beispielsweise die auf der Reise nach Caripe gesammelten Pflanzenbelege erst nach der Reise, am Standort Cumaná, in das Journal Botanique eingetragen wurden[111] sowie Humboldts Aussage, daß er keine Berechnungen habe anstellen können, da er so sehr mit der großen Anzahl von Pflanzen beschäftigt war, die sie von dieser Reise mitgebracht hatten (Bl. 88r).[109] Lack 2004, 508. [110] Im Feld erstellte Notizen waren häufig als zeitlich befristete Vorstufen konzipiert; vgl. Bourguet 2010, 388. Vgl. auch Rankin Rodríguez/Greuter 2001, 1233: „Obviously the 'field notes' [im Journal Botanique] were not taken on the spot but later on, when an opportunity for studying the plants arose“. [111] Vgl. Journal Botanique (MNHN, MS 1332), 36 (Nr. 134) bis 134 (Nr. 571).

68Auch Stauffer/Stauffer/Dorr kommen in ihrer Arbeit, die sich dem Verbleib der Herbarbelege in den Sammlungen und dem jeweiligen Arbeitsanteil der beteiligten Forscher widmet, zu dem Schluss: „We believe that evidence contained in the field books favors describing the botanical collections as being made by ‚Bonpland and Humboldt‘ and not ‚Humboldt and Bonpland‘, as is commonly done.“ Abgesehen davon, dass Humboldt selbst nie etwas anderes behauptet hat, ja sogar dort die Reihenfolge „B. et H.“ wählte, wo er gemäß Bonplands Journal Botanique derjenige war, der die Pflanzenbeschreibung verfasste,[112] müssen die Arbeitsanteile auf der Grundlage der hier analysierten Pflanzenliste aus dem ersten der Amerikanischen Reisetagebücher neu erwogen werden, auch wenn hier keineswegs ein größerer Anteil Humboldts reklamiert werden soll. Dazu besteht kein Anlass. Auch Humboldt selbst hat immer wieder neu auf die maßgebliche Arbeit Bonplands verwiesen und offenbar keine andere als die alphabetische Reihenfolge in seinen eigenen Aufzeichnungen gewählt.[112] Vgl. das oben dargestellte Beispiel „Guama“ bzw. „Mimosa Inga“.

69Doch noch etwas Zweites zeigt der Vergleich mit Bonplands Journal Botanique, denn erst an diesem wird deutlich, dass die Liste in ART I die ersten Pflanzen enthält, die von Humboldt und Bonpland auf dem Boden des amerikanischem Kontinents gesammelt und beschrieben wurden. Zwar gibt auch Humboldt seiner Liste die Überschrift „Plantes de Cumaná“. Doch erst die Position in Bonplands strikt chronologisch geordnetem und mit Ort, Jahr- und Monatsdatum versehenem Feldtagebuch lässt deutlich werden, dass dies die ersten Einträge nach den Kanarischen Inseln und der Überfahrt sind, gesammelt und beschrieben „Cumana. therm. an 7.“, also zwischen dem 19. Juli und ca. dem 17. August 1799.[113][113] Vgl. die Abbildung in Stauffer/Stauffer/Dorr 2012, 85 (Fig. 5).

Anmerkungen

Die Erstellung der Datenbestände der edition humboldt digital ist ein fortlaufender Prozess. Umfang und Genauigkeit der Daten wachsen mit dem Voranschreiten des Vorhabens. Ergänzungen, Berichtigungen und Fehlermeldungen werden dankbar entgegengenommen. Bitte schreiben Sie an edition-humboldt@bbaw.de.

Zitierhinweis

Götz, Carmen: Linnés Normen, Willdenows Lehren und Bonplands Feldtagebuch . Die Pflanzenbeschreibungen in Alexander von Humboldts erstem Amerikanischen Reisetagebuch. In: edition humboldt digital, hg. v. Ottmar Ette. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. Version 9 vom 04.07.2023. URL: https://edition-humboldt.de/v9/H0016429


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Über die Autorin

 

Carmen Götz

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

goetz@bbaw.de

Carmen Götz hat Deutsch und Philosophie an der Universität Düsseldorf studiert; Abschluss: Erstes Staatsexamen, 2004 Promotion. Langjährige Mitarbeit am dortigen Institut für Geschichte der Medizin. 2015-2018 Mitarbeit an der Online-Registerdatenbank zur Leopoldina-Ausgabe „Goethe. Die Schriften zur Naturwissenschaft“. Seit 2018 Mitarbeiterin im Akademienvorhaben „Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung“.