Insel-Texte und Insel-Bilder

1Ohne jeden Zweifel ist Alexander von Humboldt ein kubanischer Schriftsteller. Oder lässt sich doch zumindest als solcher lesen. Sein Schreiben eröffnet ein langes und überaus fruchtbares Jahrhundert einer kubanischen Literatur, die sich im Zeichen des Exils und einer intensivierten transarealen Bewegung als eine Literatur ohne festen Wohnsitz konstituieren und in den Werken von Julián del Casal, José Martí und Juana Borrero am Ausgang des 19. Jahrhunderts kulminieren wird.[1][1] Vgl. hierzu das fünfte Kapitel „Inkubationen: Eine Nationalliteratur ohne festen Wohnsitz?“, in Ette 2005, 157–180.

2So verwundert es nicht, dass der kubanische Romancier, Essayist und poeta doctus Alejo Carpentier für seine literarische Liebeserklärung[2] an die kubanische Hauptstadt La Habana als incipit jene Schilderung der Einfahrt in den Hafen von Havanna auswählte, die Alexander von Humboldt im 28. Kapitel des berühmten Reiseberichts seiner Relation historique einrücken ließ. Dieses Kapitel seines Fragment gebliebenen und zwischen November 1814 und April 1831 in Paris auf Französisch publizierten Berichts von der amerikanischen Forschungsreise erschien im dritten und letzten Band der Relation historique und wurde parallel zum Reisebericht als Separatdruck unter dem Titel Essai politique sur l’île de Cuba 1826 veröffentlicht. Die Einfahrt in den Hafen von Havanna, die Humboldt ein erstes Mal am 19. Dezember 1800 genießen konnte, wird vom preußischen Schriftsteller wahrlich spektakulär und wie in einem kinematographischen travelling in Szene gesetzt:[2] Vgl. Carpentier 1982.

L’aspect de la Havane, à l’entrée du port, est un des plus rians et des plus pittoresques dont on puisse jouir sur le littoral de l’Amérique équinoxiale, au nord de l’équateur. Ce site, célébré par les voyageurs de toutes les nations, n’a pas le luxe de végétation qui orne les bords de la rivière de Guayaquil, ni la sauvage majesté des côtes rocheuses de Rio Janeiro [sic!], deux ports de l’hémisphère austral: mais la grâce qui, dans nos climats, embellit les scènes de la nature cultivée, se mêle ici à la majesté des formes végétales, à la vigueur organique qui caractérise la zone torride. Dans un mélange d’impressions si douce, l’Européen oublie le danger qui le menace, au sein des cités populeuses des Antilles; il cherche à saisir les éléments divers d’un vaste paysage, à contempler ces châteaux forts qui couronnent les rochers à l’est du port, ce bassin intérieur, entouré de villages et de fermes, ces palmiers qui s’élèvent à une hauteur prodigieuse, cette ville à demi cachée par une forêt de mâts et la voilure des vaisseaux [3].[3] Humboldt 1814–1825, III, 348

3Wie aus der Perspektive eines erstmals in den Hafen von Havanna einfahrenden Reisenden, der aus der Bewegung diesen globalen Bewegungsort portraitiert, entsteht hier mit großer erzähltechnischer Geschicklichkeit eine Landschaft der Theorie,[4] in der sich Natur und Kultur, die Insel und die Welt, die hemisphärischen und die transozeanischen Dimensionen miteinander verbinden. Eine Wissenschaft aus der Bewegung, die transdisziplinäre Humboldt‘sche Wissenschaft, inszeniert und entfaltet sich in immer neuen Perspektiven. Immer neue Relationen, immer neue globale Wechselwirkungen zeichnen sich ab: zwischen Europa und Amerika, zwischen heißen und gemäßigten Klimaten, zwischen Nordhalbkugel und Südhalbkugel, zwischen Land und Meer, zwischen Europäern und Antillanern, zwischen Stadt und Land, zwischen Bäumen und Schiffsmasten, ja bereits erahnbar (wenn auch noch halb verborgen) zwischen freien Menschen und Sklaven auf den Antillen. Alejo Carpentier wusste, warum er dieses ebenso poetisch wie poetologisch gelungene incipit als literarisch-wissenschaftlichen Entwurf seiner „Stadt der Säulen“ voranstellte.[4] Zum Begriff einer Landschaft der Theorie vgl. Ette 2014.

4Dass Kuba eine transarchipelisch mit den Kanaren, den Kapverden wie den Philippinen vernetzte globale Insel war, verstand Alexander von Humboldt, der wohl erste Globalisierungstheoretiker, wie kein zweiter unter seinen Zeitgenossen. Diese weltumspannende Relationalität der Insel unter kolonialen Bedingungen und die Problematik der daraus resultierenden extremsten Spannungszustände begriff der kubanische Dichter und Essayist José Martí als einer der profiliertesten Denker der dritten Phase beschleunigter Globalisierung als einen Auftrag, daraus die kulturtheoretischen, politischen und sozialen Konsequenzen zu ziehen. Denn Kuba kam ebenso in der ersten wie in der zweiten und dritten Phase beschleunigter Globalisierung[5] die Rolle eines global player zu, der freilich stets ein Spielball zwischen den Führungsmächten der jeweiligen Globalisierungen blieb. Ab 1492 bildete die Insel einen Bewegungsraum verdichtetster Globalisierung.[5] Zu diesen Phasen vgl. Ette 2016.

5All dies zeigte sich bereits im Kartenbild der Insel Kuba im Kontext der frühen Kartographien der Karibik. Die erste separate Einzeldarstellung der größten der Antillen-Inseln ist dabei nichts anderes als eine freie italienische Erfindung aus dem Jahre 1528. In seinem berühmten Insel-Buch[6] imaginierte der aus Padua stammende Venezianer Benedetto Bordone eine große Insel in den Umrissen eines Krokodils, die mit den naturräumlichen Gegebenheiten ebenso wenig etwas zu tun haben wie die eher an italienische Landschaften erinnernde zeichnerische Ausgestaltungen des Landesinneren. Doch gelang es dem Miniaturisten und Kartographen hervorragend, die Insel Kuba in ihren weltweiten Beziehungsnetzen im globalen Maßstab als einen Bewegungsort zu charakterisieren, der schon bald nicht nur im Kreuzungspunkt transatlantischer, sondern auch transpazifischer Schiffsrouten liegen sollte. Im Libro di Benedetto Bordone nel qual si ragiona de tutte l’Isole del mondo gerät das Insularium zum Imaginarium, zur Projektionsfläche von Mächten, für welche die Insel von höchster politischer, militärischer und nicht zuletzt ökonomischer Wichtigkeit wurde. Dies zeigt auch und gerade der Vergleich zwischen der monographischen Kartendarstellung und dem Bild der Insel, das Benedetto Bordone in seine Weltkarte[7] eintrug: Kubas Insel-Bild war von Beginn an weltweit vernetzt.[6] Benedetto 1528[7] Benedetto Bordone Weltkarte (1528), in: Humboldt 2009c, II, Abb. 28

6Die herausragende geostrategische Lage Kubas hatte sich bereits im Jahre 1500 in der heute berühmten, aber lange Zeit geheim gehaltenen Weltkarte[8] des Juan de la Cosa abgezeichnet. Keine Insel der Antillen ist in ihren Umrissen mit höherer (und bis heute faszinierender) Präzision wiedergegeben als Kuba, dessen Schlüsselposition am Ausgang des Golfs von Mexiko sich bereits erkennen ließ. Die Carta des berühmten spanischen Seemanns und Kartographen konfrontiert uns mit jener spezifischen Situierung Kubas in dem von Europa aus über die Welt geworfenen Kartennetz, eine geopolitische Lage, welche das Schicksal der Insel im Verbund der Antillen in den verschiedenen Phasen beschleunigter Globalisierung bestimmen sollte. Juan de la Cosas Bild der Insel Kuba ist bereits ein Bewegungs-Bild im transatlantischen Spannungsfeld zwischen Europa, Afrika und einer sich abzeichnenden „Neuen Welt“.[8] Juan de la Cosa: Mapamundi (1500), in: Humboldt 2009c, II, Abb. 20 a-b

7Dreihundert Jahre nach Juan de la Cosas Weltkarte lief Alexander von Humboldt gemeinsam mit Aimé Bonpland in jenen Hafen von Havanna ein, dem er auf seinen kartographischen Darstellungen der Insel stets eine Sonderrolle zubilligen sollte. Die beiden Karten[9] der Insel Kuba, die Alexander von Humboldt seinem Kartenwerk des Atlas géographique et physique des régions équinoxiales du Nouveau Continent und damit seinem amerikanischen Reisewerk beigab, präsentieren uns den rechteckigen Ausschnitt einer Insel, die auf den ersten Blick als separate Darstellung gleichsam aus dem Zusammenhang der karibischen Inseln und Festlandsäume herausgeschnitten zu sein scheint. Sie ordnen sich dem bereits erwähnten 1826 separat in zwei Bänden zu Paris erschienenen Essai politique sur l’île de Cuba[10] zu. Die separate Kartendarstellung legt wie die separate Publikation des Essai politique (parallel zu Humboldts Essai politique über das entstehende Mexiko) nahe, dass der preußische Schriftsteller und Gelehrte die Insel bereits als protonationale Einheit verstand und angesichts ihrer globalen Bedeutung auch verstanden wissen wollte. Insel-Text und Insel-Bild stehen bei ihm in engster wechselseitiger Beziehung –und zugleich auf dem damals avanciertesten wissenschaftlichen Reflexionsniveau.[9] Alexander von Humboldt: Carte de l’ile de Cuba (1820, 1826) in: Humboldt 2009c, II, Tafel 23 a und 23 b[10] Humboldt 1826. Vgl. zu diesem Werk und dem ihm beigegebenen Karten auch die kritische Edition der englischsprachigen Übersetzung Humboldt 2011.

8Vergleicht man die beiden Cuba-Karten des Atlas géographique et physique mit kartographischen Darstellungen, wie sie etwa Guillaume-Thomas Raynals Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes –der großen Kolonialenzyklopädie, die nach ihrer Erstausgabe von 1770 zu einem Bestseller der Lumières geworden war –noch beigegeben wurden, so wird der gewaltige Sprung augenfällig, den Humboldts Karten von 1820 und 1826 hinsichtlich ihrer Darstellungstechniken, der Präzision ihrer astronomischen Messungen und Ortsangaben sowie der Detailtreue ihrer kartographischen Visualisierung aufweisen. Die Karte von 1826 stellte dabei eine revidierte und an vielen Stellen deutlich verbesserte Arbeit dar, in welche in Humboldts work in progress neuere und neueste Daten Eingang gefunden hatten. So sind hier auch die Orte wichtiger auf Sklavenarbeit basierender Plantagen eingetragen, mit welcher die ortsansässige Oligarchie eine gerade nach der Revolution im benachbarten Saint-Domingue bzw. Haiti eine stetig wachsende Rolle auf dem Weltmarkt zu spielen begann.

9Es ging Humboldt folglich nicht allein um die deutlichen Verbesserungen bezüglich des Verlaufs der dargestellten Gebirge, die Hinzufügungen zuvor fehlender oder fehlerhafter Einträge oder die leichten Korrekturen der astronomischen Berechnungen, die Humboldt dank zusätzlicher Hinweise sowie fremder Messungen und Berichtigungen einarbeiten konnte, sondern um eine möglichst komplexe Repräsentation einer Insel, die über ihren Haupthafen Havanna ebenso transarchipelisch wie transareal sich in einer ökonomischen, sozialen und politischen Vielverbundenheit entwickelte. Das Insel-Bild musste seinem Insel-Text entsprechen.

10All diese Dimensionen aber finden sich bereits in nuce in einem Manuskript, das von Ulrike Leitner im Nachlass Alexander von Humboldts in der Jagiellonen-Bibliothek zu Krakau gefunden und im September 2016 erstmals als Pionieredition in einer digitalen Ausgabe des Akademienvorhabens der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter dem Titel Isle de Cube. Antilles en général in der Reihe edition humboldt digital vorgelegt wurde.[11] Bereits der selbstverständlich von Humboldt stammende Titel dieses insgesamt 37 Manuskriptseiten umfassenden Textes signalisiert, dass die Insel ohne den Kontext des Archipels und damit letztlich ohne die weltweiten Bezüge für Humboldt nicht zu denken war.[11] Handschrift: Humboldt 1804b Isle de Cube. Antilles en général.. Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922. Im fortlaufenden Text zitiert unter der Sigle IC.

Text-Archipel und Text-Fraktal

11Die besondere Bedeutung der Insel Kuba für die Forschungsreise in die Amerikanischen Tropen (1799 bis 1804) ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass sich Humboldt und Bonpland zweimal auf der größten der Antilleninsel aufhielten. Die eingangs angeführte Einfahrt in den Hafen von Havanna eröffnete den ersten Aufenthalt, der mit dem 19. Dezember 1800 begann und ein knappes Vierteljahr später am 15. März 1801 endete. Schloss sich diese erste Kuba-Erfahrung an den Aufenthalt an der Nordküste Südamerikas, in Caracas und insbesondere die große Reise auf den Flusssystemen des Orinoco und des Amazonas an, so bildete der zweite Aufenthalt auf der Insel vom 19. März bis zum 29. April 1804 den Abschluss der gesamten Forschungsreise. Diesem sechswöchigen Aufenthalt folgten nur noch eine kurze Reise nach Philadelphia und Washington, die es Humboldt nicht zuletzt erlaubte, seine Materialien und Dokumente vor jedwedem spanischen Zugriff zu schützen, sowie die Rückreise nach Europa.

12Das im Folgenden im Fokus stehende Manuskript Isle de Cube. Antilles en général entstand zunächst im Verlauf dieses kurzen zweiten Aufenthaltes zu einem Zeitpunkt, als Humboldt freilich den Gesamtüberblick über seine Reise in die Äquinoktial-Gegenden bereits besaß, seine Sammlungen ordnete und auf wenigen Seiten gedrängt und zugleich verdichtet all jenes notierte, was für ihn mit Blick auf künftige Veröffentlichungen über Kuba und die Antillen von Wichtigkeit sein könnte. Eine genauere Prüfung von Humboldts Einträgen in diesen Teil seiner Amerikanischen Reisetagebücher belegt zweifelsfrei, dass der preußische Kultur- und Naturforscher wie stets auch Jahrzehnte später noch weitere Zusätze, Anmerkungen, Aktualisierungen oder Korrekturen in sein Manuskript eintrug, so dass sich eine offene Strukturierung dieser Seiten ergibt, die weit mehr sind als ein eigentliches Reisetagebuch und überdies über den kurzen Zeitraum des Jahres 1804 hinausreichen.

13Die unterschiedliche Kontextualisierung der beiden Kubaaufenthalte des deutsch-französischen Forscherteams, auf die Humboldt selbst bereits aufmerksam machte,[12] führten dazu, dass sich die (an anderer Stelle in den Amerikanischen Reisetagebüchern festgehaltenen) Eindrücke des ersten von den Impressionen des zweiten Aufenthalts auf der Insel stark voneinander unterschieden. War den beiden Forschern nach den Strapazen der Orinoco-Reise Havanna als höchst angenehmer urbaner Raum mit allen Möglichkeiten geistreicher Betätigung erschienen, so wirkte vor dem Hintergrund des langen Aufenthalts in Mexiko-Stadt, der Hauptstadt Neuspaniens, Havanna beim zweiten Mal provinziell und aufgrund des Fehlens großer wissenschaftlicher Einrichtungen doch eher kleingeistig. Nicht ohne Abscheu vermerkte Humboldt, dass hier alle Gespräche im Zeichen der Sklaverei stünden: „A la Havane toutes les conversations roulent autour du grand problème de faire avec moins de Nègres le plus de pains de sucre en un jour“ (ART IX, 142r.). Dies aber bedeutete keineswegs, dass Humboldts großes Interesse an der Insel in den amerikanischen Tropen nachgelassen hätte: Das genaue Gegenteil war der Fall.[12] Vgl. hierzu auch Leitner 2017.

14Analysiert man Schreibweise und Strukturierung von Isle de Cube. Antilles en général genauer, so zeigt sich deutlich, auf welche Weise sich dieser Text in die großen Linien der Amerikanischen Reisetagebücher einschreibt. Durchgängig lässt sich wie in anderen Teilen seiner Reisemanuskripte weder eine chronologische noch eine historische, weder eine wissenschaftliche noch disziplinäre, weder eine thematische noch inhaltliche Anordnung der einzelnen Textteile feststellen. Andererseits lässt sich die auf den ersten Blick oft so frappierende scheinbar chaotische Zusammenstellung der Materialien ebenso wenig bestätigen, zeigen sich doch durchaus Ordnungssystematiken, an die sich Alexander von Humboldt selbst freilich niemals kontinuierlich hielt. Gattungsspezifisch haben wir es folglich weder mit einem persönlichen Tagebuch noch mit einem literarischen Reisebericht, weder mit einer historischen Darstellung etwa der Insel Kuba noch mit einer nach jeweiligen Disziplinen getrennt vorgehenden Abhandlung, weder mit einem wissenschaftlichen Traktat noch mit einer einfachen Stoff- und Materialiensammlung zu tun. Vielmehr ist Isle de Cube all dieses und zugleich – wie zu zeigen sein wird – weit mehr. Der Text lässt sich nicht auf eine einzelne dieser Funktionen reduzieren und fasziniert durch seine radikal offene Strukturierung.

15Alexander von Humboldt analysiert in diesem Text nicht nur Inseln, er schreibt auch in Inseln. Dies bedeutet, dass er – wie auch in allen anderen Teilen der Amerikanischen Reisetagebücher – einzelne Textbereiche schafft, die sich diskontinuierlich aufreihen und in keiner alles umfassenden Kontinuität stehen. Vielmehr geht Humboldts Schreiben diskontinuierlich vor, insofern die einzelnen voneinander getrennten, »gebrochenen« Textteile relational wie die Inseln eines Archipels miteinander verbunden sind. Diese Relationalität oder Vielverbundenheit stellt ein Charakteristikum des nicht-linearen und diskontinuierlichen Humboldtian Writing dar. Wie anderen Text-Inseln aus seiner Feder gab Humboldt Isle de Cube einen Titel, der sich angesichts der Länge des in viele verschiedene Teile sich aufgliedernden Textes als Titel für ein ganzes Text-Archipel begreifen lässt.

16Dieser Text bildet kein Fragment oder eine Ansammlung von Fragmenten, insofern Isle de Cube kein Bruchstück, keinen Teil eines größeren Werkes bildet, sondern vielmehr in sich selbst ein stets ausweitbares Schreibmodell darstellt, das auf Ähnlichkeitsbeziehungen basiert. Isle de Cube. Antilles en général ist folglich kein Fragment einer größeren Einheit, sondern ein Fraktal: Es bildet auf der Basis von Multirelationalität und Selbstähnlichkeit ein Modell ab, das uns zugleich eine Vorstellung vom Schreibmodell wie vielleicht mehr noch vom Denkmodell Alexander von Humboldts liefert. Dabei ist dieses Denkmodell von zutiefst relationaler Natur und richtet sich nicht nach einfachen Kausalketten aus, sondern an viellogischen Faktorenfeldern, die wechselseitig interagieren und ganz dem Humboldt‘schen Grundaxiom entsprechen: „Alles ist Wechselwirkung“ (ART IX, 27r). Nichts in diesem Werk wie auch in diesem Denken bleibt unverbunden und steht für sich allein: Was immer Humboldt gerade analytisch auseinander-setzen mag: Es wird sogleich wieder zusammen-gedacht.

17Das Humboldt‘sche Schreibmodell bildet kotextuell (also mit Blick auf die unterschiedlichen Bestandteile von Isle de Cube selbst) ein archipelisches Textgeflecht, welches kontextuell mit den historischen, politischen oder ökonomischen Entwicklungen der Zeit verflochten ist. Diese dynamische Anlage betrifft ebenso die intratextuellen Bezüge, die also die Relationen zu anderen Texten Humboldts innerhalb wie außerhalb der Amerikanischen Reisetagebücher betreffen, wie intertextuelle Beziehungen, die Humboldts Schreiben explizit oder implizit mit Werken, Daten und Erkenntnissen anderer Autoren verknüpfen. So setzt sich dieses im Jahre 1804 begonnene Stück Humboldt‘scher Reiseliteratur selbstverständlich in ein Verhältnis etwa zu jenen Textteilen, die im Rahmen des ersten Kuba-Aufenthaltes verfasst wurden, bezieht aber auch all jene Text-Inseln mit ein, die Humboldt in anderen Teilen seiner Reisemanuskripte entwickelt hat. Folglich stehen, um nur ein Beispiel herauszugreifen, einzelne Betrachtungen über Sklaven und die Sklaverei in einem evidenten Verweisungszusammenhang mit Text-Inseln, die Humboldt in allen neun Bänden seiner Reisetagebücher oftmals mit Überschriften wie „Esclaves“, „Sklaven“ oder „Esclavos“ versehen hat.

18Auch wenn sich im Titel – bis in die französische Benennung der Insel hinein – eine Einsprachigkeit auszudrücken scheint und die weit überwiegenden Teile von Isle de Cube in französischer Sprache abgefasst sind: Zusätzlich zum Französischen werden – wie in anderen Teilen der Humboldt‘schen Reisetagebücher auch – weitere Sprachen miteinbezogen, so dass die für Alexander von Humboldt so charakteristische Mehrsprachigkeit und das diskontinuierliche Hüpfen von einer Sprache zur anderen entsteht, welches mit seiner eigenen wie Wilhelm von Humboldts Überzeugung verknüpft ist, dass sich die Welt nicht aus einer einzigen Perspektive, nicht aus einer einzigen Sprache analysieren und verstehen lässt. Wissen ist sprachlich vermittelt und sprachlich verankert – und folglich nicht etwa sprachenneutral. Das archipelische Schreiben Alexander von Humboldts bedient sich daher ganz selbstverständlich einer Mehrsprachigkeit, die wir in unserer heutigen Wissenschaftsentwicklung im Zeichen der aktuellen Dominanz des Englischen – mit zweifellos erheblichen negativen Konsequenzen einschließlich des Verlusts ganzer nicht-englischsprachiger Bibliotheken – zu verlieren drohen.[13] Humboldts écriture basiert im selben Maße wie sein Weltbewusstsein auf einem ständigen Sprachenwechsel, der auch in diesem Manuskript mit seinen deutsch-, spanisch- oder englischsprachigen Passagen deutlich zum Ausdruck kommt.[13] Vgl. hierzu Mittelstraß / Trabant / Fröhlicher 2016.

19Mit guten Gründen hat Michael Zeuske in seinem Begleittext zur erstmaligen Edition von Isle de Cube. Antilles en général auf die enorme Bedeutung der Sklavereiwirtschaft und des Sklavenhandels in diesem so komplexen Text aus Humboldts Hand aufmerksam gemacht.[14] Bereits seit seiner Ankunft in der »Neuen Welt« hatte sich Humboldt in Cumaná im heutigen Venezuela intensiv mit den unterschiedlichsten Formen der Sklaverei beschäftigt: ebenso mit jenen Formen indigener Versklavung und von Razziensklaverei wie mit jenen einer Massensklaverei, wie sie in der millionenfachen Versklavung, Verbringung, Vergewaltigung und brutalen Verwendung von Afrikanern in den Amerikas zum Ausdruck kam.[15] Entlang der gesamten Reise durch die Tropen Amerikas weist eine Vielzahl von Text-Inseln auf die hohe Beobachtungsgabe und Reflexionsfähigkeit, aber auch auf die unablässigen Informationsflüsse zur »ersten« wie zur »zweiten Sklaverei« hin, die in den Amerikanischen Reisetagebüchern archipelisch verarbeitet wurden. Humboldts Manuskript liefert ein höchst aussagekräftiges Bild der transatlantischen Barbarei aus ebenso hemisphärischer wie gesamtkaribischer Perspektive.[14] Vgl. Zeuske 2017.[15] Ibidem. Zur Frage der Sklaverei vgl. auch Mikolajczyk 2017.

20Zu Beginn des zweiten Aufenthalts von Aimé Bonpland und Alexander von Humboldt auf Kuba war eine grundlegende Veränderung globalgeschichtlichen Ausmaßes zu den bisherigen Rahmenbedingungen des Sklavereisystems hinzugetreten. Denn zu der von Humboldt erwähnten industriellen Revolution in England und der von ihm bewunderten politischen Revolution in Frankreich war nach der antikolonialen Revolution mit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten nun der Erfolg der Haitianischen Revolution hinzugekommen, die 1791 begonnen und mit der Erklärung der Unabhängigkeit Haitis am 1. Januar 1804 abgeschlossen worden war. Humboldts Niederschrift beginnt im Jahre 1804, also wenige Wochen vor seiner kurzen Reise in die USA, gewiss stärker im Zeichen der amerikanischen als der europäischen Doppel-Revolution und siedelt sich damit zwischen der Revolution gegen den kolonialen Status in den Vereinigten Staaten und gegen den versklavten Zustand im bis vor kurzem noch französischen Saint-Domingue an. Wie sehr ihn zeitlebens die fortgesetzte Massensklaverei in den USA zu vielen kritischen Kommentaren herausforderte, wissen wir nicht allein aus seinen vehementen Protesten gegen den lange Zeit und bis in unsere Gegenwart hinein so erfolgreichen Versuch, ihn in den Vereinigten Staaten als Sklavereibefürworter darzustellen. Erst vor wenigen Jahren konnte eine kritisch edierte englischsprachige Neuübersetzung seines Essai politique sur l’île de Cuba vorgelegt werden, in der die verleumderischen Übersetzungen von Thrasher, der alle sklavereikritischen Ausführungen Humboldts in sklavereibefürwortende Äußerungen „übersetzte“, signalisiert und hoffentlich dauerhaft aus der Welt geschafft wurden.[16] Auch dies ist ein Beispiel dafür, wie gefährlich und kurzsichtig eine Wissenschaft agiert, die nicht mehr auf fremdsprachige Texte, sondern nur mehr auf deren Übersetzungen ins Englische zurückgreift. Alexander von Humboldts translinguale Wissenschaft bildet hiergegen ein ideales Antidotum.[16] Vgl. hierzu auch Kutzinski / Ette 2011.

21Inmitten einer rasch um sich greifenden Hysterie, in die angesichts der erfolgreichen Sklavenrevolution auf Haiti alle an Sklavenwirtschaft, Sklavenhandel und Sklavenschmuggel Beteiligten verfallen waren, entwickelte Alexander von Humboldt seine über lange Jahre bereits angestellten Beobachtungen auch und gerade zur Second Slavery fort und analysierte aufmerksam ebenso das von ihm gesammelte beziehungsweise ihm zur Verfügung gestellte Zahlenmaterial wie auch die Rechtfertigungsdiskurse und das praktische Handeln der lokalen wie internationalen Oligarchien. Sein diplomatisches Geschick eröffnete ihm den Zugang nicht nur zu den höchsten, sondern auch den am besten informierten Kreisen der spanischen Kolonialgesellschaft.

22Der Freund der Französischen Revolution ging zweifellos auf Distanz zur Haitianischen Revolution, blieb aber seiner ethisch fundierten Auffassung treu, der zufolge die Sklaverei in all ihren Formen – auch etwa im Bereich der indigen Völker Amerikas – verabscheuenswürdig sei und beendet werden müsse. In Isle de Cube. Antilles en général analysierte er – wie dies schon im Titel zum Ausdruck kommt – keineswegs nur die sich rapide verändernden historischen und ökonomischen Kontexte der Massensklaverei auf Kuba, sondern bezog aus einer vergleichenden und mehr noch die Vielverbundenheit der Sklaverei untersuchenden Perspektive die Antillen und den gesamten transatlantischen Bewegungsraum mit in sein Denken ein. Aufgrund der revolutionären Verhältnisse auf Saint-Domingue kam den französischen Antillen eine besondere Bedeutung zu. Gleichwohl beschäftigte er sich ebenso ausführlich mit der Sklavereigesetzgebung im Imperium der Katholischen Monarchie oder im britischen Empire mit seinen oftmals verharmlosenden Regelungen wie mit den gesetzlichen Grundlagen der Versklavung im französischen Kolonialreich.

23Sein Ansatz war dabei zweifellos kein revolutionärer, sondern ein die Sklaverei Stück für Stück reformierender auf dem Weg zu einer mittelfristigen realen Abschaffung der Sklaverei. Immer wieder rücken dabei nicht nur die von der Massensklaverei ungeheuer(lich) profitierenden Mächte und Institutionen sowie die Handlungsmöglichkeiten der Sklaven in den Blick, sondern auch die konkreten Lebensbedingungen aller Versklavten in Kuba wie auf den Antillen insgesamt. Seine Forschungen beziehen sich ebenso auf die unmenschlichen Unterbringungsformen oder auf die jeweiligen Kleidungen der versklavten Afrikaner wie auf die Lebensgewohnheiten und Lebensmittel in den sich ständig „modernisierenden“, an höchstmöglicher Rentabilität ausgerichteten Ingenios:

On donne à un Nègre 1/2 arrobe de Tasajo de Buenos ayres, en outre les Viandes c. à. d. les Calabasses, Boniatos (Convolvulus) forme de Mays, 1 ar[roba] de Tasajo de Buenos ayres= 10–12 r[eales]. Enfin, [s’il] manque, on leur donne du Bacalao (salé) que l’on regarde comme malsain (IC, Bl. 130v).

24Anhand derartiger Passagen wird deutlich, in welchem Maße er sich nicht nur für die menschenverachtenden Praktiken der Massensklaverei im weltwirtschaftlichen Zusammenhang und nicht allein für die damals längst umstrittene Frage der Rentabilität der Sklaverei (die für Humboldt angesichts der enormen Gewinnspannen freilich außer Frage stand) interessierte, sondern auch für die konkreten Lebensbedingungen der Sklaven auf jenen Ingenios, die Humboldt aufgrund seiner Beziehungen zur kubanischen Zuckeroligarchie persönlich hatte besichtigen können. So entsteht bereits in Isle de Cube. Antilles en général ein anschauliches Bild jener Massensklaverei, die Humboldt zugleich analysierte und verabscheute. Doch wusste er sehr realistisch einzuschätzen, dass die Abschaffung der Sklaverei, die in Teilen der Amerikas bis ins Jahr 1888 andauerte und letztlich in verschiedensten anderen Formen erneuerter Sklaverei fortlebte und weiter fortlebt, nicht die Sache weniger Jahre sein würde:

S’il est dangereux qu’auqu’un [sic!] Gouvernement s’occupe en ce moment de la liberté des Nègres [,] on pourrait du moins s’occuper d’améliorer leur sort, de les rendre moins malheureux. C’est un Crime de ne pas le faire (IC, Bl. 141v).

25Untätigkeit in der Frage der Sklaverei war für Humboldt ein Verbrechen.

Miniatur – Modell – Fraktal

26Isle de Cube. Antilles en général ist weit mehr als eine Material- und Stoffsammlung für Alexander von Humboldts später separat erschienenen Essai politique sur l’île de Cuba; dieser Text-Archipel entfaltet vielmehr eine spezifische Art der Miniaturisierung komplexer Zusammenhänge, die als écriture courte die Relationalität von Humboldts Annäherung an die Inselwelt der Karibik diskontinuierlich vor Augen führen. Die hier praktizierte Kurzschreibweise besteht keineswegs – wie die Textauszüge zeigen – aus einer stichpunktartigen Auflistung nebst beigefügter Erläuterungen (wie dies bei einer Materialsammlung der Fall gewesen wäre), sondern aus oft sehr pointiert formulierten sprachlichen Elementen, die dem gesamten Text im Rahmen der Amerikanischen Reisetagebücher einen hohen Erkenntniswert verschaffen. Alexander von Humboldt ist ein Schriftsteller: auch dort, wo er Miniaturen verfasst.

27Die Zahlenangaben und Statistiken bilden ihrerseits Bezugspunkte für ein Analyse- und Denksystem, das stets nach einer internen wie einer externen Relationalität verlangt. Fraglos wird die Insel Kuba in ihrer internen Relationalität erfasst; Humboldt ist sich aber in seinem vernetzenden Denken der Tatsache gewiss, dass ein wirkliches Verständnis für die spezifische Situation der Insel nicht möglich ist, solange nicht deren Beziehungen innerantillanisch wie transarchipelisch miteinbezogen werden.

28Wenn sich folglich unter der Überschrift „Esclaves“ (IC, 134r) die französischsprachigen Überlegungen Humboldts zur Revolution in Saint-Domingue mit spanischen Zitaten des für ihn wichtigen Sklavereispezialisten Francisco de Arango y Parreño zur Gesetzgebung im spanischen Weltreich oder mit englischsprachigen Zitaten zur Sklavengesetzgebung auf Barbados oder den Bermudas vermischen, dann führt dies im Sinne Humboldts die Einheit des karibischen Raumes gerade aus dessen sprachlicher, kultureller, juristischer, sozialer oder politischer Verschiedenartigkeit vor Augen. Wie in einer Doppelbewegung von Systole und Diastole werden Auseinander-Setzen und Zusammen-Denken so überzeugend auf eine jeweils interne und externe Relationalität bezogen, in der die relative Eigen-Logik und Eigen-Gesetzlichkeit von Inseln nicht zu einer getrennten Behandlung, sondern einer komplexen Reflexion des Verschiedenartigen (beispielsweise innerhalb einer auf Sklaverei gegründeten Plantagengesellschaft) führt. Humboldt trennt gerade nicht nach den einzelnen Kolonialreichen, den unterschiedlichen Rechtssystemen, divergierend verlaufenen Geschichtsprozessen oder verschiedenen Sprachbereichen. Sein Diskursuniversum wie sein archipelisches Schreiben erfassen die Komplexität relational und viellogisch.

29Die mit Hilfe einer Kurzschreibweise erzielte Miniaturisierung erlaubt die Entwicklung einer Modellbildung, die nicht auf Vereinfachung, sondern auf ein Höchstmaß an Komplexifizierung abzielt. Zugleich werden immer wieder die Lebens- und Erlebenskontexte deutlich. Wie hätte man die barbarische Repression des weißen Terrors auf Saint-Domingue besser zum Ausdruck bringen können als in dieser Einlassung:

J’ai entendu dire: Mr, Vous êtes un Jean-foutre ─ ─un Philantrope! On donnait 200–300 coups de fouets aux Nègres avant de les fusiller; on fusilloit tous les Prisonniers, 50–80 à la fois. Le Terrorisme régnait en 1803 aux Colonies. Le Général Rochambeau fit fusiller un Habitant parce que il ne lui paya pas la Contribution de 6000 pesos (IC, Bl. 141v).

30Auf diese Weise bildet Isle de Cube. Antilles en général nicht nur ein Schreib-, sondern weit mehr noch ein Denkmodell der Insel Kuba und mehr noch der Inselwelt der Antillen im Allgemeinen. In dieses Modell fließen ebenso geologische und pflanzengeographische, historiographische und kulturtheoretische, klimatologische und wirtschaftsgeographische, globalgeschichtliche und ökonomische, soziologische und politologische, sklavereispezifische und militärstrategische Aspekte ein, die sich immer wieder inselartig in den Text eingefügt finden und sogleich in eine Dimension der Vielverbundenheit übersetzen: Alles ist Wechselwirkung. Die politische Dimension dieses Essai politique en miniature umfasst ebenso die Politik wie das Politische in ihrer Vielverbundenheit.

31Die Humboldt’sche Vernetzungswissenschaft entwirft das Modell[17] für ein wissenschaftliches Verständnis der Karibik, innerhalb dessen gilt: Wer die Insel Kuba verstehen will, darf sich nicht nur auf Kuba konzentrieren, sondern muss möglichst viele Erkenntnisse über Saint-Domingue beziehungsweise Haiti oder Jamaica, Martinique oder Barbados, Puerto Rico oder Guadeloupe, die Bermudas, Antigua oder Curaçao einbeziehen. Ein Kuba-Spezialist ist daher gerade nicht, wer sich allein auf Kuba konzentriert. In der für Humboldt so charakteristischen verdichtenden Schreibweise bringt dies bereits der Titel Isle de Cube. Antilles en général hervorragend zum Ausdruck.[17] Zu den Zusammenhängen zwischen Miniaturisierung und Modellierung im Spannungsfeld von Wissenschaft, Kunst und Bricolage vgl. Lévi-Strauss 1962.

32Innerhalb eines derartigen relationalen Verständnisses der Karibik, das auf der Einsicht in eine offene Strukturierung aller Elemente, die miteinander in Wechselwirkung stehen, beruht, kann die Grundlage für eine polylogische Herangehensweise keine statische Raumgeschichte sein. Vielmehr ist in diesem Text, der sich am Ende der Amerikanischen Reise Alexander von Humboldts ansiedelt, die Humboldt’sche Wissenschaft in ihren Umrissen unverkennbar konstituiert. Keine Raumgeschichte, sondern eine Bewegungsgeschichte verbindet dynamisch die Elemente einer Welt, in der alles in Bewegung ist: von der prekären geologischen und vulkanologischen Situation über die Migration der Pflanzen bis hin zur (erzwungenen) Migration der Menschen, die Machtfaktoren unterliegen, welche sie im Zeichen eines transatlantisch zentrierten Weltwirtschaftssystems in versklavte Objekten weltumspannender Interessen verwandeln. Doch als prekär erscheinen in Humboldts Amerikanischen Reisetagebüchern nicht nur die Geologie oder die Ökologie, sondern gerade auch eine Ökonomie, die sich im Zeichen der erfolgreichen Revolution von Saint-Domingue spätestens seit 1804, dem Zeitpunkt des zweiten Aufenthaltes von Humboldt und Bonpland auf Kuba, der imminenten Gefahr radikaler Veränderungen ausgesetzt sieht. Humboldt bezog dies selbstverständlich ebenso auf den gesamten karibischen Raum wie auf die zirkumkaribischen Festlandssäume einschließlich der Vereinigten Staaten von Amerika, deren Bevölkerungs- und Sklavenentwicklung er kurz vor seiner Abreise in die USA einzufügen nicht vergaß. Die französischen Antillen standen im Fokus eines transatlantischen Handels, dessen sklavereiwirtschaftliche Grundlagen erschüttert waren.

33So bietet Isle de Cube. Antilles en général nicht nur ein archipelisches Schreiben, dessen Miniaturisierung im Kontext einer viellogischen Vielverbundenheit das Modell der hier behandelten Area der Karibik transareal entfaltet. Dieses Modell konfiguriert vielmehr zugleich das Fraktal eines Wissenschaftsverständnisses, das Alexander von Humboldt in den folgenden Jahrzehnten noch weiter ausarbeiten sollte. Als Fraktal der Humboldt’schen Wissenschaft steht es für eine Epistemologie und für ein ebenso scientifisches wie literarisches Schreiben ein, welche nichts von ihrer Relevanz für die heutigen Herausforderungen verloren haben.

Anmerkungen

Die Erstellung der Datenbestände der edition humboldt digital ist ein fortlaufender Prozess. Umfang und Genauigkeit der Daten wachsen mit dem Voranschreiten des Vorhabens. Ergänzungen, Berichtigungen und Fehlermeldungen werden dankbar entgegengenommen. Bitte schreiben Sie an edition-humboldt@bbaw.de.

Zitierhinweis

Ette, Ottmar: Insel-Text und archipelisches Schreiben . Alexander von Humboldts „Isle de Cube, Antilles en général“. In: edition humboldt digital, hg. v. Ottmar Ette. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. Version 9 vom 04.07.2023. URL: https://edition-humboldt.de/v9/H0016213


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Über den Autor

 

Ottmar Ette

Universität Potsdam

ette@uni-potsdam.de

1956 im Schwarzwald geboren. Seit Oktober 1995 Lehrstuhl für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam (venia legendi: Romanische Literaturen und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft). 1990 Promotion an der Universität Freiburg i.Br. 1995 Habilitation an der Katholischen Universität Eichstätt. Mehrfach Gastdozenturen in verschiedenene Ländern Lateinamerikas sowie in den USA. Er ist Leiter des Akademienvorhabens "Alexander von Humboldt auf Reisen - Wissenschaft aus der Bewegung sowie des BMBF-Forschungsprojektes zu Alexander von Humboldt "Amerikanische Reisetagebücher: Genealogie, Chronologie und Epistemologie".