[Der] Orinoco ist [der] eigentliche Schlüssel von Süd-Amerika.[1][1] Humboldt, Alexander von, „Kapitel 11. Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná (7.5.–26.8.1800)“, in: Humboldt 2000, 311–389, hier 330.

pero la insurrección de los negros del Guarico ha agrandado el horizonte de mis ideas.[2] [2] Arango y Parreño, Francisco, „Comisión de Arango en Santo Domingo [1803]“, in: Arango y Parreño 1952, Bd. I, 114–162, hier 149.

Einleitung

1Endlich ist es da, Humboldts lost diary von 1804. Es gab Zeiten, da habe ich selbst nicht daran geglaubt, dass es existierten könnte.[3][3] Vgl. meine Arbeiten zu „Humboldt und Sklaverei“ („Arbeiten von Michael Zeuske über Bolívar, Humboldt, Miranda und die Independencia“, in: Zeuske 2011, 131–138); um 2000 gibt es einen fundamentalen Wandel, mit der Nachricht von Ulrike Leitner über den Fund des Humboldt-Textes „Isle de Cube. Antilles en général“ von 1804 in Kraków (und der Texte zu Mexiko); den Stand des Wissens über Humboldt und seine Schriften über Humboldts zwei Kuba-Aufenthalte bis ca. 2000 fasst Margot Faak zusammen in: Humboldt, „Kapitel 9: Von Veracruz bis Philadelphia“, in: Humboldt 2003, 393–402, hier 394; vgl. auch: Faak 1996; Naranjo Orovio 2000, 183–201; Rebok 2001, 117–144. Den Stand des Wissens über die Humboldt-Texte und Manukripte nach 2000 fasst zusammen: Leitner 2002; Leitner, Ulrike, „Die Tagebücher Alexander von Humboldts“, in: Humboldt 2005, 7–10; zur Interpretation historischer Zusammenhänge unter Hinzuziehung der neuen Humboldt-Texte vgl.: Zeuske 2000, 67–100 (noch ohne Wissen um das Tagebuch von 1804 aus Kraków); Zeuske 2004b, 381–416 (mit einer Beschreibung der ersten Reaktion, als ich von Ulrike Leitner die Information über das Tagebuch 1804 erhalten hatte); vgl. auch: Zeuske 2009, 245–260 (den Artikel habe ich nach einem Aufenthalt in Krákow geschrieben); Zeuske 2008, 257–277.

2 Alexander von Humboldt hat weder für seine Zeit in Europa noch auf seiner Reise durch Spanien vor dem Beginn der Amerika-Reise (1799-1804) Aufzeichnungen oder Texte hinterlassen, die darauf schließen lassen, dass er sich mit Sklaverei oder Sklaven beschäftigt hätte (obwohl Humboldt in Spanien Kontakte hatte, die Sklaverei und Sklavenhandel in Spanisch-Amerika gut kannten bzw. aktiv an den Abolitionsdebatten teilnahmen).[4][4] Unter den Kontakten Humboldts in Spanien fanden sich viele Menschen mit Erfahrungen über Sklaverei und Sklavenhandel: Luis de las Casas, 1790–1796 Generalkapitän Kubas, der Kontakt mit Wilhelm von Humboldt hatte; Gonzalo O’Farrill y Herrera aus der kubanischen O’Farrill-Familie (große Sklavenbesitzer: Kuethe/Serrano Álvarez 2005), zu dieser Zeit Minister in Madrid, der einer der Verantwortlichen für die Erlaubnisschreiben war, die es Humboldt und Bonpland gestatteten, durch das Spanische Amerika zu reisen; Francisco de Saavedra war zwar zur Zeit Humboldts in Madrid krank, aber Ministerpräsident Mariano Luis de Urquijo, der andere Verantwortliche für die Erlaubnisschreiben, stand ihm nahe; Saavedra war Intendant in Venezuela gewesen und gehörte zu den Befürwortern von mehr Sklavenhandel, er hatte auch auf Kuba gelebt. Dazu kam noch der Kaufmann und Bankier Francisco de Cabarrús. Insgesamt scheint es keine Aufzeichnungen von Humboldt über Sklaven und Sklaverei vor 1799 zu geben, vgl.: Puig-Samper Mulero, Miguel Ángel; Rebok, Sandra, „Contactos científicos y preparación de viaje americano“, in: Puig-Samper Mulero 2007, 89–114. Zu Sklaven und Sklaverei in Kontinentaleuropa (auch in Preußen) vgl.: Brahm/Rosenhaft 2016. Zu Sklaven und Sklaverei in Spanien und Spanisch-Amerika: Andrés-Gallego 2005; Piqueras Arenas 2012. Ich danke José Antonio Piqueras für Informationen.

3Für diesen Essay zur Sklaverei in den Amerikas zu Humboldts Zeiten, die zugleich eine kritische Einschätzung von Humboldts Aussagen zur Sklaverei sowie eine Einleitung in die kommentierte Textausgabe des kubanischen Tagebuchefragments Isle de Cube von 1804 (in der Folge zumeist „Tagebuch Havanna 1804“) sein soll, bietet es sich an, die Chronologie der Reiseabschnitte (und -routen) Humboldts sowie große Sklaverei-Räume[5], die diese Routen durchquerten, einerseits zu unterscheiden; andererseits deren Repräsentation im Werk allgemein sowie speziell im „Tagebuch Havanna 1804“ nachzuzeichnen. Der Schwerpunkt liegt auf den Sklavereien in der Generalkapitanie de Caracas (heute: Venezuela) und auf Kuba, speziell auf dem in Havanna/Kuba geschriebenen „Tagebuch Havanna 1804“. [5] Die Chronologie basiert auf: Humboldt 1983 (online: http://edition-humboldt.de/X0000001. August 2016).

4Zunächst allgemein zur Sklaverei. Sklaverei oder besser Sklavereien in den Amerikas hatten zwei große sozial-ethnische Komponenten: erstens die Sklavereien und Sklaverei ähnlichen Formen von „Indios“ und zweitens die Sklaverei von aus Afrika in die Amerikas verschleppten Menschen. Die Übergangsformen der „zeitweiligen Sklaverei“ (indenture) von Menschen aus Europa in den Frühzeiten der Kolonisierung (im Kolonialjargon „Weiße“), die es auch gab, vernachlässige ich hier weitgehend.[6] In Bezug auf Sklavereien indigener Völker und Stämme war das Spanische Imperium ein „Empire of Slaves“.[7] Diese Sklavereien könnte man auch als first slaveries in den Amerikas bezeichnen. Jede Sklaverei braucht Sklavenhandel bzw. „Sklaven-Produktion“ und/oder Sklavenfanggebiete. Das waren im Spanischen Amerika erstens frontier-Regionen vor allem zwischen Gebieten unter Kontrolle von kolonialspanischen Städten/Verwaltungen sowie noch nicht erschlossenen Interiors der Kolonialgebiete, Kriegszonen indigenen Widerstands und Missionsregionen (mit sehr flexiblen Formen der captivity/Sklaverei).[8] In den kolonial erschlossenen Territorien wurden Sklaverei ähnliche kollektive Zwangsarbeitsformen entwickelt, die die direkte Kontrolle meist indigenen Eliten/Kaziken ließ. Sklaverei von Indigenen, obwohl formal verboten, wurde im Spanischen Imperium, vor allem an Grenzen und Peripherien, durch Razziensklavereien (entradas) und Handel mit versklavten Kindern und Frauen aufrechterhalten. Die Provinzen des heutigen Venezuelas waren eindeutig Grenz- und Peripherieterritorien des spanischen Kolonialgebietes.[9] Darüber oder daneben – mit Ausnahme der großen und mittleren Kolonialstädte, wo es seit Beginn der Kolonialzeit Luxussklaven und urbane Sklaven aus Afrika gab – bildeten sich in Gebieten, in denen die Indigenen durch die Conquista vernichtet oder ausgestorben waren oder aus denen sie sich im Widerstand zurückgezogen hatten, Formen von Sklavereien afrikanischer Menschen. Diese Sklaverei war der Teil der globalen Atlantic slavery und wurde durch transatlantischen Sklavenhandel sowie Schmuggel zwischen Inseln der Karibik oder aus den Gebieten der nichtspanischen Kolonien in den Guayanas und den spanischen Kolonialgebieten, in denen sich Plantagenzonen entwickelt hatten, aufrechterhalten.[10] Städte, vor allem Küsten- und Hafenstädte sowie Städte an großen Flusssystemen, spielten dabei eine extrem wichtige Rolle.[11] Zwischen 1791 und 1820 bildeten sich in den Amerikas, auch im Spanischen Amerika, moderne und intensive Formen der Massensklaverei heraus, vor allem mit Versklavten aus Afrika. Diese „moderne“ zeitgenössische Sklaverei wird seit einiger Zeit als Second Slavery konzeptualisiert.[12] Humboldt und Bonpland haben, vor allem in Venezuela und, wie wir sehen werden, auf Kuba, empirisch diese „zweite Sklaverei“ beschrieben und analysiert.[6] Emmer 1986; Palmer 1998; Drescher 2004, 31–69. [7] Reséndez 2016, 131–135; Karte „Major Slaving Grounds of the Spanish Empire in the Seventeenth Century“. 133.[8] Prado 2012, 318–333.[9] Zeuske 2008a, passim.[10] Borucki/Eltis/Wheat 2015, 433–461.[11] Bernand 2001; Farias 2006; Adelman Jeremy, „Capitalism and Slavery on Imperial Hinterlands“, in: Adelman 2006, 56–100; Cañizares-Esguerra 2013; Zeuske 2015, 280–391.[12] Tomich 1988, 103–117; Tomich 2003, 4–28; Tomich/Zeuske 2008; Laviña/Zeuske 2014.

A) Cumaná und Hinterland 1799 und 1800

5In Bezug auf die Sklavereien war die erste Stadt der Reise durch Spanisch-Amerika, die Humboldt und Bonpland sehr intensiv kennenlernten, Cumaná, ein Volltreffer. Auf den ersten Blick ein marginales Provinznest, hatte sich Cumaná im Laufe des 18. Jahrhunderts als Stadt unterschiedlicher Sklavereien konsolidiert. Cumaná war um 1800 ein puerto negrero, ein Sklavenhafen für negros de mala entrada, d.h. für Sklaven aus dem karibischen Menschenschmuggel. Nur deshalb gab es in Cumaná einige wenige extrem reiche und einflussreiche Familien, die sich für Wissen und Fremde interessierten und Humboldt und Bonpland Unterkunft gewährten. Cumaná war Zentrum eines entstehenden Plantagenhinterlandes im direkten Umfeld der Stadt und auf der Paria-Halbinsel, bei Cumanacoa und bei Carúpano („dort viele neue Cacaopflanzungen“[13]), sowie bei Cariaco – für Humboldt das „grüne Thal von Cariaco“[14]. In diesem entstehenden Plantagengebiet wurden vor allem aus Afrika in die Karibik verschleppte und nach Cumaná geschmuggelte schwarze Sklaven eingesetzt.[15] Humboldt hat die Anlage einer Kakao-Plantage beschrieben:[13] Humboldt, „Cumaná, Nachtrag“, in: Humboldt 2000, 432–433, hier 433.[14] Humboldt, „Exkursion nach Caripe und in die Guácharohöhle (4.–24.9. 1799)“, in: Humboldt 2000, 138–164, hier 159; vgl. auch: Humboldt, „Cumaná, Nachtrag“)“, in: Humboldt 2000, 432–433.[15] Harwich 2005, 17–30 (Themenheft: Grandes plantations d’Amérique latine. Entre rêve et commerce); allgemein zum Problem des Sklaven-Hinterlandes in Spanisch-Amerika vgl.: Adelman, „The Slave Hinterlands of South America“, in: Adelman 2006, 58–64; Hunt 2011, 105–127.

„Verständige Hausväter leben dort 10-12 Jahre kümmerlich, bis die Stämme [der Kakaobäume – MZ] heranwachsen (sie dismontiren [Span.: desmonte – MZ], rotten Wald mit einem Sklaven aus) und nach 10 J[ahren] haben sie reichliches Auskommen für 1 ½ Generation. Eine Familie bedarf zum guten Auskommen ein 30000 Stämme“.[16][16] Humboldt, „Exkursion nach Caripe und in die Guácharohöhle (4.–24.9. 1799)“, in: Humboldt 2000, 138–164, hier 433.

6In Cariaco hält Humboldt politische Stimmungen der Plantagenbesitzer fest (die er dann später, im Plantagengebiet um Caracas zu Aussagen über eine „weiße Republik“ als politisches Ziel der Sklavenhalter-Oligarchie von Venezuela zusammenfasst, darstellt und kritisiert.

„In Cariaco im Hause des Josef Francisco Mexias, ein Amerikaner (der Name Amerikaner hier schon sehr beliebt [d.h., ein Mann, der sich als americano bezeichnete; im Grunde eine antispanische Mentalität – MZ]), Feind der Spanier, lange Bewohner der Trinité [Trinidad; heute Trinidad and Tobago – MZ] und dort durch Zusammenwohnen mit Franzosen und Engländern sehr erleuchtet und unspanisch – eine Menschenrace, die mehr als das Gouv[ernement] [d.h., eine autonome Regierung statt der Kolonialverwaltung – MZ] wünscht“.[17][17] Ebd., hier S. 160.

7Seit langem ist es eine feste Größe der Independencia-Forschung, dass es im östlichen Venezuela und speziell in und um Cumaná zu englischen und französischen Einflüssen in Bezug auf eine antispanische Einstellung der Menschen der Region kam; das ist seit Jahrzehnten Teil der Debatte um die Ursachen der Independencia.[18] [18] Callahan Jr. 1967, 177–205; Zeuske, „The French Revolution in Spanish America“, in: Forrest/Middell 2016, 77–96.

8Cumaná war auch eine Stadt indigener Sklavereien, vor allem von Menschen (oft Kindern/Mädchen), die über die Missionen sowohl im Osten[19] als auch im Süden [20] in die Stadt verschleppt worden waren. In den Missionen wurden offensichtlich auch die positiven Begründungen für Sklaverei und Sklavenhandel durch Missionare ziemlich aggressiv verbreitet (man kann davon ausgehen, dass diese Begründungen zur Mentalität aller Sklaverei-Eliten Spanisch-Amerikas gehörten). Humboldt sagt über die Gespräche auf dem Weg nach Cariaco, die sich u.a. um die so genannte Conspiración de Gual y España von 1797 (Humboldt: „Unabhängigkeitsbestrebungen“[21]) drehten und „über die Notwendigkeit des Sklavenhandels, über die angeborene Bösartigkeit der Schwarzen und über die Segnungen, welche dieser Rasse daraus erwachsen, daß sie als Sklaven unter Christen leben!“.[22] [19] Carrocera 1968.[20] Im Süden lagen die berühmten Missionen der katalanischen Kapuziner am Caroní mit Zentrum bei Santo Tomé/Angostura am Orinoco (Humboldt: „ein eigenes, unabhängiges Jesuitenreich“). Vgl.: Sanoja, Mario; Vargas Arenas, Iraida, „Las misiones capuchinas catalanas“, in: Sanoja 2005, 235–307; Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná (7.5.–26.8.1800)“, in: Humboldt 2000, 311–389, hier 378.[21] Aizpurúa Aguirre, Ramón, „La Conspiración por dentro: un análisis de las declaraciones de la conspiración de La Guaira de 1797“, in: Rey 2008, 213–344; Michelena 2011; Gómez, Alejandro E., „La caribeanidad revolucionaria de la ‚costa de Caracas.‘ Una visión prospectiva (1793–1815)“, in: Hébrard 2013, 35–48.[22] Humboldt, „Achtes Kapitel“, in: Humboldt 1991, 364–390, hier 378.

9Darüber hinaus war Cumaná ein Zentrum der Razziensklaverei verschiedener indigener Völker (wie der Kariben). In Cumaná und anderen ostvenezolanischen Häfen, wie etwa Barcelona, wurden die geschmuggelten Menschen gegen Maultiere, Häute, Talg und lebendes Vieh (Pferde, Esel, Rinder und Ochsen) aus den Llanos orientales [23]) sowie Kakao, Salzfleisch, Trockenfleisch und -fisch sowie Fette, Öle und andere Naturprodukte getauscht.[24] [23] Ihnen setzt Humboldt in globalgeschichtlicher Perspektive in seinem kleinen Meisterwerk Ansichten der Natur ein Denkmal, vgl.: Humboldt, „Über die Steppen und Wüsten“, in: Humboldt 2004, 37–168.[24] Brito Figueroa 1990, 263–289, hier 272.

10Humboldt und Bonpland blieben immerhin, von Reisen nach Araya und durch die Missionsgebiete unterbrochen, bei ihrem ersten Aufenthalt fast vier Monate in Cumaná (bis November 1799). Deshalb schreibt Humboldt in einem Fragment des Tagebuches auch: „Cumaná. In keinem Orte Südamerikas haben wir so lange verweilt als hier, und keines Andenken ist uns so lieb geblieben“.[25] Von dem „lieb“ einmal abgesehen - kein Wunder, dass viele Notizen in den Tagebüchern Humboldts zu unterschiedlichen Aspekten der Sklaverei in Cumaná aufgeschrieben wurden.[26] Und erstaunlicherweise hat Humboldt seinen Tagebuchnotizen über Cumaná in der publizierten Fassung der Relation historique die Miniatur über einen Sklavenmarkt hinzugefügt (die in den Tagebüchern nicht vorkommt). [25] Humboldt, „Aphorismen zur amerikanischen Reise. Fragment“, in: Humboldt 2000, 441.[26] Eine nützliche erste Übersicht zu den Tagebuchnotizen über Versklavte und Sklaverei bietet: „Die afroamerikanischen Sklaven“, in: Humboldt 1982, 244–264; insbesondere: Humboldt „Sklaven“, Cumaná, Herbst 1800, in: Humboldt 1982, 244–247 (Dok. 164); Humboldt „Sklaven“, Cumaná, Herbst 1800, in: Humboldt 1982, 256–257 (Dok. 172); vgl. auch: „Humboldt, „Cumaná, Nachtrag“, in: Humboldt 2000,432–433, hier 432.

„Der große Platz [in Cumaná – MZ] ist zum Teil mit Bogengängen umgeben, über denen eine lange hölzerne Galerie hinläuft, wie man sie in allen heißen Ländern sieht. Hier wurden die Schwarzen verkauft, die von den afrikanischen Küsten herübergebracht werden. Die zum Verkauf ausgesetzten Sklaven waren junge Leute von fünfzehn bis zwanzig Jahren. Man gab ihnen jeden Morgen Kokosöl, um sich die Körper damit einzureiben und die Haut glänzend schwarz zu machen. Jeden Augenblick erscheinen Käufer und schätzten nach der Beschaffenheit der Zähne Alter und Gesundheitszustand der Sklaven; sie rissen ihnen den Mund gewaltsam auf, ganz wie es dem Pferdemarkt geschieht … Man stöhnt auf bei dem Gedanken, daß es noch heutigen Tags auf den Antillen europäische Kolonisten gibt, die ihre Sklaven mit dem Glüheisen zeichnen, um sie wieder zu erkennen, wenn sie entlaufen“.[27][27] Humboldt, „Fünftes Kapitel“, in: Humboldt 1991, 257–290, hier 260f.

11So stellen wir uns einen Sklavenmarkt vor.

12Cumaná war für die beiden Reisenden noch in anderer Hinsicht wichtig: „Wir lernten nun erst [in Cumaná – MZ], besonders Bonpland, spanisch, denn in Spanien selbst sprachen wir ewig Französisch“.[28] [28] Humboldt, „Von Nueva Barcelona nach Havanna 24.11.–19.12.1800“, in: Humboldt 2000, 391–422, hier 392.

13In Cumaná sind Humboldt und Bonpland zum ersten Mal auf fast alle Dimensionen der Sklaverei von Menschen aus Afrika getroffen: Sklavenhandel und Menschenschmuggel, aber auch Phänomene der Rebellion/Flucht/Unterdrückung, der Freilassung und des Selbstfreikaufes von Sklavinnen und Sklaven (coartación). Über Freilassung und Selbstfreikauf schreibt Humboldt in Cumaná, seine Erfahrungen aus Caracas einflechtend:

„Es ist ein Herkommen in Caracas unter der feineren Welt [d.h., den sehr vermögenden mantuanos], im Testament ein drei bis fünf Sklaven freizugeben. Jetzt starb eine Dame, die im Testament 30 Sklaven auf einmal freiläßt. Für 300 Piaster muß ein Herr den Sklaven losgeben.[29] Dies auch laufender Preis, ja in Caracas noch niedriger, dagegen in Cumaná 500 Piaster“.[30][29] Ein sehr umstrittener Punkt; die Herrn erhöhten oft den Preis, wenn eine Sklavin oder ein Sklave mit dieser Summe kam. Zur Freilassung und zum Selbstfreikauf vgl.: Zeuske; García Martínez, Orlando, „Notarios y esclavos en Cuba, siglo XIX“, in: Fuente 2004, 127–170; sowie: Fuente 2007, 659–692 (wiederabgedruckt in: Fradera/Schmidt-Nowara 2013, 101–134).[30] Humboldt, „Cumaná, Nachtrag“, in: Humboldt 2000, 432–433, hier 432.

14 Über die Seltenheit der Rache von Versklavten an ihren Herren reflektiert Humboldt auch in Cumaná und lässt sich zugleich über das koloniale Rechtswesen aus:

„[Es ist] unbegreiflich, daß Herrenmord so selten [in Venezuela und Spanisch-Amerika – MZ], und doch unter einem Dache mit Menschen, die vor wenigen Monathen Menschenfleisch aßen, denen faule, aufgedunsene Kazen eine süße Speise, der Tod eine Wohlthat ist, die große Hoffnung auf das Entrinnen sezen, weil die in Unkenntniß des Landes von gastfreien Wilden in der Nähe träumen“.[31][31] Humboldt „Sklaven“, Cumaná, Herbst 1800, in: Humboldt 1982, 256–257 (Dok. 172), hier 256.

15 Humboldt meint Versklavte aus Afrika.

16Über das Gerichtswesen und die Prügelstrafen für Sklavinnen und Sklaven heißt es:

„Überhaupt ist dadurch, daß man von Gerichts wegen züchtigt, Sache der Sklaven fast noch schlimmer geworden. Ein Herr führt seinen Sklaven dem Richter zu und giebt ihm Schuld was er will, er habe den Herrn geschimpft, Meuterei gemacht p. Der Richter, ohne zu untersuchen, schlägt, schlägt so lange als der Herr seine Rache kühlen will. Schlägt man ihn tot, so ist der Herr ganz unverantwortlich. In Cumaná 1800 habe ich einem Sklaven von Gerichtswegen 120 cueros [Peitschenhiebe] geben sehen, weil der Herr log, er habe gestohlen; man fand ihn unschuldig“.[32][32] Ebd.

17

18 Über den transatlantischen Sklavenhandel schreibt Humboldt:

„Sklaven auf Schiffen, die sie bringen, am ärgsten durch Diätätsregeln gequält. Nach dem Essen begießt man die Neger mit Meerwasser, statt des Bades. Wegen des Salzgehalts erregt dies der delikaten Negerhaut Schmerz. Man giebt jedem darauf Cocosöl, um sich die Haut zu salben. Der Neger hat dann Lust, nach dem Essen zu schlafen, aber nein, man geißelt sie zum Tanze mit vollem Magen und schlägt jeden, der nicht tanzt. Jeder Kapitän quält nach seiner eigenen Diätätstheorie!!“.[33][33] Ebd.; vgl. auch: Zeuske, „Mobilität, Diäten, Terror und translokale Infrastrukturen der Gewalt“, in: Zeuske 2013, 430–450.

19 Das Wissen über den transatlantischen Sklavenhandel hat Humboldt vorwiegend durch Lektüre erworben (z.B. William Snelgrave sowie Carl Bernhard Wadström[34]); er übernimmt dabei auch die spatio-kulturellen und pseudoethnographischen Bezeichnungen für unterschiedliche Gruppen von Versklavten aus Afrika (als „Negerrace“[35]: „Congo“, „Calabari’s“, „Cormartinos“[36]). Ich halte diese Bezeichnungen – aus dem Munde von Sklavenhaltern, Mayorales und Sklavenhändlern sowie ihres Hilfspersonals – für „Waren“-Qualitätsaussagen, die, wie alles in der Marktwirtschaft, eine starke psychologische Dimension haben. Das Problem ist, dass diese Bezeichnungen nicht nur von Versklavern gebraucht wurden, sondern auch von Versklavten bei ihren Identitätskonstruktionen als naciones (Herkunftsgruppen). Im 19. Jahrhundert waren die anderen großen Gruppen jolofes, mandinga, gangá, arará/mina, lucumí/anago (später zu yoruba umgedeutet), carabalí, angolas, monzolo und makuá (oder macuá – aus Moçambique), um nur die wichtigsten zu erwähnen.[37] Es gab auch Sklaven, die heimlich, zum Teil auch offen, dem Islam anhingen, in Brasilien malê und in Venezuela möglicherweise mandinga genannt.[38] Humboldt hat nur die oben zitierten naciones erwähnt, eventuell weil sich die anderen Identitäten erst im Laufe des nachfolgenden 19. Jahrhunderts herausbildeten bzw. verfestigten.[34] Snelgrave 1734; Wadström 1794; vgl. auch: Law 1990.[35] Humboldt „Sklaven“, Cumaná, Herbst 1800, in: Humboldt 1982, 256–257 (Dok. 172), hier 256; die Textstelle findet sich nicht in: Humboldt 2003, passim. [36] Ebd., hier 256f; vgl. auch: Childs, „Pathways to African Ethnicity in the Americas: African National Associations in Cuba during Slavery“, in: Falola 2003, 118–143 sowie: Zeuske, „Versklavte, Sklavereien und Menschenhandel auf dem afrikanisch-iberischen Atlantik“, in: Zeuske 2015a, 296–364.[37] López Valdés 1998, 311–347; López Valdés 2004; López Valdés 2007.[38] Lovejoy, Paul E., „Scarification and the Loss of History in the African Diaspora“, in: Apter 2010, 99–138; Reis, João José; Mamigonian, Beatriz Gallotti, „Nagô and Mina: The Yoruba Diaspora in Brazil“, in: Falola 2004, 77–110; Reis 2003; Gomes 2011; La Rosa Corzo 2011; Barcia 2013; Barcia 2014.

B) Caracas/La Guaira und die Anfänge der Second Slavery 1799-1800

20Die nächste große Etappe der Reise durch Sklaverei-Räume, die zugleich als Sklaverei-Typen aufgefasst werden können, begann in La Guaira-Caracas. Als beide Reisende Ende November 1799 im Hafen von Caracas, La Guaira, landeten, betraten sie auch eine der weit entwickelten Sklaverei-Plattformen der entstehenden Second Slavery in den Amerikas. Das Gebiet und die Städte liegen vor (La Guaira) bzw. in (Caracas) einer Andendoppelkette, die diesen Teil Venezuelas wie Festungsmauern zur Karibik hin abschirmen. Es war ein Gebiet der haciendas (meist Zucker, Kakao und Kaffee, aber auch Baumwolle und Indigo sowie Tabak, u.a.) sowohl auf der Küstenseite, meist an den Mündungen kleinerer Flüsse gelegen (wie Guarenas und Guatire) als auch auf großen, für ihre Zeit sehr modernen Haciendas in den Innentälern der Doppelkette.[39] Die Innentäler mit Massen von Haciendas bildeten zwei Plattformen der damals modernsten Sklaverei: von Caracas aus gesehen, welches das Zentrum der Plantagensklavereiregion bildete, der Valle del Tuy/Barlovento Richtung Osten und die Valles de Aragua Richtung Westen, wo sie über die Ufer des Sees von Valencia und die Stadt Valencia bis Puerto Cabello reichten. Humboldt nennt diese Region auch poetisch „die Bergthäler von Caracas“.[40] Haciendas waren im Sprachgebrauch der aristokratischen Familien von Caracas Plantagen/„Pflanzungen“, d.h., Sklavenplantagen mit Massen versklavten Menschen aus Afrika. Die reichsten Vertreter der Oligarchie von Caracas wurden auch mantuanos genannt. Sie nahmen Humboldt und Bonpland gastfreundlich auf, vor allem die hohe Nobilität der títulos de España (spanische Hochadelstitel): Marqués Rodríguez del Toro, der Conde de Tovar und der Marqués de Ustáriz y Tovar.[41] Die genannten Marqueses (Marquis, in etwa Markgraf) und Condes (Grafen) waren Sklavenhalter und Plantagenbesitzer. Sie profitierten vom Sklavenschmuggel. Humboldt und Bonpland lernten auch ärmere „Weiße“ aus der kleinen Bildungsschicht kennen, wie den damals noch sehr jungen Andrés Bello; Humboldt nennt ihn Bellito.[42] Der junge Andrés Bello wünschte sich nichts sehnlicher als selbst eine Hacienda zu besitzen (mit Sklaven).[43] Caracas und La Guaira selbst waren Sklaverei-Städte mit großen Massen von urbanen Sklaven. Als Haussklaverei in den Palästen der Mantuanos war das eine Art Luxus-Sklaverei (je mehr versklavte „Diener“ desto höher der Status). Aber es gab auch in den Haushalten der nicht ganz so reichen „weißen“ und farbigen Bürger (im Kolonialjargon – pardos) Sklavinnen und Sklaven und es gab Dienstleistungssklaverei, Transportsklaverei, staatliche Sklaverei (vor allem zum Bau von Festungen, Hafenanlagen sowie Infrastrukturen) und Sklaverei im Hafen von La Guaira. Von Caracas aus starteten Humboldt und Bonpland in die Plantagengebiete; die Besitzer der Plantagen und Sklaven lebten meist in Caracas, in La Guaira oder in Valencia am See von Valencia.[39] Humboldt beschreibt die Regionen und Orte genau in derRelation historique: Humboldt, „Sechzehntes Kapitel“, Humboldt 1991, 629–701, hier 687ff[40] Humboldt, „Über die Steppen und Wüsten“, in Humboldt 2004, 13–168, hier 15.[41] Nieto Cortadellas 1977; Quintero 2005; Quintero 2007.[42] Humboldt, „Aufenthalt in Caracas (22. 11. 1799–7. 2.1800)“, in: Humboldt 2000, 173–184, hier 177.[43] „At Petare, some miles east from Caracas [heute ein Barrio von Caracas -MZ], the Bello family adquired in 1806 a small coffee farm called „El Helechal“, vgl.: Jaksić, Iván, „Bolívar and Humboldt“, in: Jaksić 2001, 8–10, hier 9.

21Vom 9. Februar bis zum 9./10. März 1800 durchreisten Humboldt und Bonpland diese modernste Plantagenregion der Provinz Caracas, möglicherweise damals die am meisten entwickelte Plattform der Second Slavery in den Amerikas. Ich zitiere Besuche auf Haciendas aus der Humboldt-Chronologie (auch zu Ehren von Margot Faak): „Hacienda des José de Manterola im Tal des Río Tuy (9.–11.2.), Victoria am See von Valencia (11.–12.2.), La Concepción, Hacienda der Familie Ustáriz (13.2.), Maracay (13./14.2.), Tapatapa am Vorgebirge EI Portachuelo (14.2.), Hacienda de Cura, Besitz des Grafen Domingo Tovar (1762-1807), (14.–21.2., am 18.2. Besuch der heißen Quellen von Mariara), Punta Zamora, Guacara (21.2.), Mocundo (22.2.), Nueva Valencia (22.–26.2.), Trinchera (heiße Quellen, 27.2.), Puerto Cabello (27.2.–1.3.), Barbula (l.3.), Guacara (Familie des Marqués del Toro, 4.–6.3.), zurück nach Nueva Valencia (6.–8.3.), Guige (8.3.), Villa de Cura (9./10.3.)“.[44] Das publizierte Kapitel des Reisetagebuches im Band „Reise durch Venezuela“ ist wahrscheinlich die dichteste und mit modernsten, im Grunde heute noch gültigen, von Humboldt benutzten Methoden (trotz einer Reihe von Detailfehlern) erarbeitete Beschreibung einer „modernen“ Plantagenregion in den Amerikas. Es ist, obwohl publiziert, ähnlich unbekannt wie die Beschreibung der Sklaverei und der Haciendas auf Kuba im Tagebuch von 1804. Nach dem Besuch auf der Hacienda Mocundo (wer wäre nicht an Macondo erinnert?) am 22. Februar 1800 am Vormittag, – „größte hacienda der Provinz“ – [45], schreibt Humboldt über den Besuch des Hauses der Peñalvers in Valencia (wo sie Fastnacht feierten): [44] Humboldt 1983; vgl. auch: Humboldt, „Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello (8.2..–5.3.1800)“, in: Humboldt 2000, 185–222.[45] Ebd., 207.

„Die Gesellschaft in Valencia fast gebildeter als in Caracas [Valencia war eine Art Sommerresidenz der reichen Sklavenhalter – MZ] und der Ton ungezwungener. D[on] Fernando Peñalver, gebildet wie sein Bruder, ebenso hundemager, aber größer und sich ein Adonis dünkend, elend eitel, die ersten Tage immer von Raynal, Encyclopédie, Menschenfreiheit … sprechend. Aber nachher brach die gemeine Menschennatur durch. Der Portugiese [die Familie Peñalvers stammten aus einer portugiesisch/brasilianischen (?) Familie von Kaufleuten, wahrscheinlich auch Sklavenhändlern – MZ] meinte, man solle eine weiße Republik stiften, zu einer Zeit, wo die franz[ösische] Republik, wie nicht zu zweifeln, die Sklaverei wieder erlaubt hat [hatte Humboldt bereits 1800 Informationen über die Wiedereinführung der Sklaverei in Frankreich und seinen Kolonien, also zu Napoleons Dekret von 1802?[46] – MZ], und wenn Frankreich mit Spanien im Krieg ist; in der weißen Republik giebt man selbst den freien Mulatten keine Rechte, die Sklaven bedienen ihre Herren knieend, jene verkaufen die Kinder der letzteren … Das ist die Frucht amerikan[ischer] Aufklärung! Verbannt Eure Encyclop[ädie] und Euren Raynal, ihr schändlichen Menschen“.[47][46] Archivo Nacional de Cuba, La Habana (ANC): ANC 1794/1804. Es handelt sich um zeitgenössische Drucke des Dekrets zur Abolition der Sklaverei von 1794 und des Dekrets von Napoleon zur Restauration der Sklaverei von 1802; vgl. auch: Bénot 2003; Belaubre 2010.[47] Humboldt, „Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello (8.2..–5.3.1800)“, in: Humboldt 2000, 185–222, hier 208.

22 Die massive Kritik an einer Gruppe der Sklavenhalter-Oligarchie von Venezuela lässt erkennen, dass sich im Grunde die lokalen Gruppen der Oligarchie und der jüngeren Mantuanos durch eine Klassenideologie auszeichneten, deren politische Ziele darauf hinausliefen, die Eliten des Imperiums („Spanier“) davon zu jagen und die Sklaverei weiter in Richtung Modernität sowie Second Slavery auszubauen. Ich nenne dieses Klassensegment in ihrem Ambiente der Haciendas und deren Luxus-Produkten (für Europäer[48]) „Bolívar-Gruppe“.[49] Humboldt hat diese Kritik nach der Reise durch die Plantagenregion und durch die Orinoquía, bei seiner Rückkehr nach Cumaná im Herbst 1800, nochmals verschärft: [48] Humboldt hält zu den (möglichen) Profiten der Plantagenwirtschaft fest: „So reich kann man sich hier durch die Kultur der kostbaren Produkte machen, welche die Natur hier willig hervorbringt“, vgl.: Humboldt, „Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello (8.2..–5.3.1800)“, in: Humboldt 2000, 185–222, hier 203. [49] Zeuske 2011a; Zeuske, „La Independencia: Unvollendete Revolution mit Sklaverei und Bolívar“, in: Rinke 2011, 147–182; Gómez 2005.

„In Nordamerika haben die weißen Menschen für sich eine weiße Republik gestiftet und die schändlichsten Sklavengesetze bestehen lassen … So möchten vornehme [Süd-]Amerikaner auch gern eine Republik stiften. Sie lenken ein, so bald man vom Elend der gefärbten Racen spricht. Andrés Ibarra [in dessen Haus auf seiner Kaffee-Plantage im Tal von Caracas Humboldt und Bonpland mehrere Tage zugebracht hatten – MZ] will den freien Mulatten gar die Ausübung eines Handwerks verbieten; sie soll das Gouv[ernement] zwingen, zerstreut in dem Innern der Provinz (um Gefahr zu vermindern) den Weißen den Akker zu bauen […], und arme Weiße soll das Gouv[ernement] zwingen, Schuh und Stiefel zu machen … Das ist der Plan der hiesigen Philantropen“.[50][50] Humboldt „Sklaven“, Cumaná, Herbst 1800, in: Humboldt 1982, 244–247 (Dok. 164), hier 245 (das Dokument erscheint nicht in „Reise durch Venezuela“).

23 Auch Ibarra gehörte in der Independencia zur „Bolívar-Gruppe“. Auf dem Weg von La Guaira nach Caracas über die Berge der Küstenkordilleren (heute gibt es dort Tunnel) beschreibt Humboldt in seinem publizierten Reisebericht Relation historique eine größere Gruppe von Menschen, die nicht aus der Elite stammten; man kann also vermuten, dass die „Bolívar-Gruppe“ für Humboldt eine breitere soziale Basis hatte:

„auf dem Wege zur Hauptstadt von Venezuela … traf ich vor der kleinen Herberge von Guayavo viele Reisende, die ihre Maultiere ausruhen ließen. Es waren Einwohner von Caracas; sie stritten über die Bewegung zur Unabhängigkeit ihres Landes und einen Aufstand, der kurz zuvor stattgefunden [Conspiración de Gual y España – MZ) … Die Erregung der Gemüter, die Bitterkeit, mit der man über Fragen stritt, über die Landsleute nie verschiedener Meinung sein sollten, fielen mir unangenehm auf … man [verhandelte] ein Langes und Breites über den Haß der Mulatten auf die freien Neger und die Weißen, über den Reichtum der Mönche und die Mühe, die man habe, die Sklaven in der Zucht zu halten“.[51][51] Humboldt, „Elftes Kapitel“, in: Humboldt 1991, 458–494, hier 492f.

24

25Nimmt man die historische Entwicklung der Hacienda-Gebiete an der Tierra firme, vorwiegend auf dem Territorium des heutigen Venezuelas zwischen dem 16. Jahrhundert und 1800 in den Blick, ergibt sich für Humboldt-Zeit folgendes Bild: Die erste, relativ kleine Plantagen-Plattform der Tierra firme (Kakao- und Zuckerplantagen mit indianischen Arbeitskräften, Encomendados, freien Arbeitern und schwarzen Sklaven) existierte seit ca. 1580 am Südufer des Maracaibosees im Hinterland des Hafens San Antonio de Gibraltar, auf einer Ebene zwischen Estanques, der Mündung des Río Escalante, Santa Bárbara und Río Poco, in der Jurisdiktion von Mérida. In den 1670er Jahren kam es zu schweren Erdbeben sowie schon vorher zu massiven Plünderungen durch Piraten, etwa durch Jean-David Nau alias El Olonés (1667 – es wurden auch über 1000 Sklaven verschleppt) und Henry Morgan (1669).[52] [52] Ramírez Méndez 2009; Ramírez Méndez 2011; Ramírez Méndez 2011a, passim; Ramírez Méndez 2014.

26Humboldt hat dieses Plantagengebiet Venezuelas nicht gesehen. In Bezug auf die Entwicklung der Second Slavery für den gesamten Raum der Amerikas und der Karibik ist eine andere Genealogie in Anschlag zu bringen, vor allem deshalb, weil diese intensiven Sklavereiformen sich zunächst auf kleinen Inseln und Off-Shore-Gebieten besser durchsetzen und kontrollieren ließen. Pionierinseln der Second Slavery waren Barbados und Martinique sowie Küstenebenen von Jamaika sowie Saint-Domingue. Das waren alles räumlich noch relativ kleine Gebiete – je größer die Gebiete wurden, wie etwa die Plaine du Nord auf Saint-Domingue, desto schwerer zu kontrollieren waren sie und desto mehr stieg die Gefahr von Aufständen (wie der Revolution von Saint-Domingue/Haiti 1791–1803). Von den Insel-Enklaven griffen Anfänge der Second Slavery auf (sehr viel) größere Inseln, wie Kuba, über oder eben in die Täler-Enklaven, wie die genannten Valles in Venezuela.

27Humboldt analysierte auch sehr klar die Elemente der „Modernität“ der Sklaven-Haciendas vor allem in den Valles de Aragua (das erlaubt es eindeutig, von Anfängen der Second Slavery zu sprechen – auch wenn Humboldt den Begriff nicht benutzt hat):

„Nachts in [der] Hacienda des D[on] Fernando Key Muñoz … Haus ein großes Viereck, worin 80 Neger wohnen, ein Art Caserne [es handelt sich um ein barracón – der im 19. Jahrhundert auf Kuba weit verbreiteten Sklavenkasernen auf den Plantagen – MZ]; über 12 Feuer im Hof, woran jeder seine Speise selbst zubereitet. Vier Neger unverheiratet in einem Zimmer wie Hunde auf der Erde (blos auf Ochsenfellen) schlafend. Unbegreifliche Lustigkeit der schwarzen Menschen bis tief in die Nacht [die Barracones wurden von außen nachts abgeschlossen, so dass die Versklavten ihr eigenen, halbautonomes Leben führen konnte; eine der Ursachen für die von Versklavten kontrollierte Transkulturation „afrikanischer“ Kulturelemente, vor allem Essen und Musik/Religionsformen – MZ]. Zuckerplantation künftig … sehr einträglich“.[53][53] Humboldt, „Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello (8.2.–5.3.1800)“, in: Humboldt 2000, hier 187.

28 Die andere Form der ökonomischen Modernität [in den Barracones durch Essenzubereitung durch Sklavinnen gesichert – MZ] der Second Slavery findet sich in der Beschreibung der Zuckerplantage von Joseph de Manterola:

„Haus [das Herrenhaus – MZ] sehr groß auf der Höhe, umher auf engstem Raum eine Art Dorf [diese Art Anlage wurde im Laufe der Ökonomisierung meist später – sofern die Besitzer genug Kapital aufbringen konnten – durch Barracones ersetzt – MZ], Lehmhütten der Sklaven, über 120 mit Kindern, meist wohlgenährt. Den verheiratheten giebt man Land [conuco, eine Art Sklavengarten – MZ], das sie Sonnabend und Sonntag und andere Tage (da sie nicht immer arbeiten) kultivieren [meist die Sklavinnen – MZ]. Man ernährt sie dann nicht. Sie halten sich Schweine, etwas Federvieh, das sie verkaufen, und der Herr weiß ihr Schicksal (nach Herrenart in allen Welttheilen) gar reizend zu schildern. Dabei hört man sie täglich perro, perra schimpfen, vor dem Herrn (wenn sie mit ihm reden) auf beide Knie fallend und andere Schändlichkeiten mehr. Doch straft man (aus Furcht?) minder als man glaubt. Wir sahen 3 Sklaven, die geflohen waren, einbringen. Man schlug keinen“.[54][54] Humboldt „Hacienda de Cura am See von Valencia (Venezuela), 14.–21. Februar 1800“, in: Humboldt 1982, 259–260 (Dok. 177), hier 260 (dieser Teil des Textes erscheint nicht in „Reise durch Venezuela“, vgl.: Humboldt, „Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello (8.2.–5.3.1800)“, in: Humboldt 2000, hier 189–190 (wo er hingehört)).

29 Die dritte Dimension der Second Slavery, der mehr oder weniger „freie“ Zugang zur Atlantisierung – die Möglichkeit der Kapitalakkumulation aus dem transatlantischen Geschäft mit verschleppten menschlichen Körpern – ist Humboldt auch ziemlich klar gewesen, zumindest was das empirisch Beobachtbare betrifft (und das, was Humboldt in Gesprächen hörte):

„Kurz vor Ausbruch des Krieges [die Kriege der französischen Revolution/napoleonische Kriege, speziell der zweite Koalitionskrieg 1799–1802 – MZ] nahm die Sklaveneinfuhr so ungeheuerlich zu, daß [die] Kaufleute von Grenada und Jamaica neue Casas de negros [Sklavenhandelsbarracken – MZ] in Caracas stiften wollten“.[55][55] Humboldt, „Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello (8.2..–5.3.1800)“, in: Humboldt 2000, 185–222, hier 201.

30 Formal war der Zugang zum transatlantischen Sklavenhandel für „Spanier“, auch „Spanier“ Spanisch-Amerikas, seit 1789 frei, aber in Realität durch englische, französische und niederländische sowie „portugiesische“ Sklavenhändler, Sklavenschmuggel und Kapitäne dominiert.[56] [56] Borucki 2012; Johnson 2001.

31In den Partien der Tagebücher über die „Bevölkerung der Provinz Venezuela [Caracas – MZ]“[57], wo Humboldt auf ca. 32500 Versklavte in der Provinz kommt[58], bricht bei der Beschreibung von Tälern, in denen keine sehr großen Haciendas (Sklavenplantagen) unter Vorherrschaft von Mantuano-Eigentümern zu finden sind, die Vorliebe Humboldts für „freie Menschen“ durch: [57] Humboldt, „Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello (8.2..–5.3.1800)“,in: Humboldt 2000, 185–222, hier 200.[58] Ebd., 200f.

„Die Bevölkerung, was sehr wichtig, und glücklich, fast ganz aus freien Menschen, denn sorgfältig zusammengezählt und hoch angeschlagen, kann man in allen hacienden jener Jurisdictionen, die Stadt Valencia abgerechnet, nicht 2000 Neger, Mulatten und Zambensklaven zusammenzählen. In [den] Llanos noch mehr freie Menschen. Als im Frieden [nach dem ersten Koalitionskrieg 1792–1797 – MZ] im Valle de Aragua [die] Indigopflanzungen im höchsten Flor standen, schickte man in die Llanos, um dort Knechte (Tagelöhner) aufzubieten. Um 5000 freie peones kamen dann zur Beihülfe in das Thal von Aragua. [Die] Bevölkerung von Valencia alt, im Thal von Aragua sehr alt [auch die Versklavten, sowohl Haus- als auch Feldsklaven – MZ]. Das Thal von S[an] Felipe und Aroa oder das am Río Yaracuy (schiffbar und bei Puerto Cabello ins Meer fließend) ist vielleicht noch fruchtbarer als das Thal von Aragua; dort alle Handelsprodukte, Korn, Vieh, Metalle, Schiffahrt“.[59][59] Ebd. S. 200.

32 Humboldt hat auch Tabakplantagen mit Sklaven („Tabakplantation“ in Guaruto) gesehen.[60] [60] Ebd., 218, vgl. auch: Méndez Sereno, Herminia, „La economía del tabaco en la Venezuela de finales del siglo XVIII“, in: Hirshbein/Cabrera/Yépez Colmenares 2000, 115–125.

33Humboldt hat, wie gesagt, von den Sklaverei-Gebieten Spanisch-Amerikas zunächst die Plantagen-Plattformen bei Cumaná und die Valles de Aragua und des Valle del Tuy/Barlovento um 1800 durchreist und beschrieben (später kommt auch Kuba dazu).[61] Um auch einen kurzen Blick in die Zukunft der Second Slavery in Venezuela „nach Humboldt“ zu tun: In diesen modernsten Plantagen-Plattformen kam es nach Ausbruch der Unabhängigkeitsrevolution zu massiven Sklavenrebellionen.[62] Nach dem Sieg Bolívars 1819 in der Schlacht von Carabobo konnten die überlebenden Oligarchien zwar die Sklaverei an sich retten, aber mit der Modernität der Second Slavery war es aus in Venezuela.[63] Ferdinand Bellermann, der „Tropenmaler“, hat die Plantagenregion dann 44 Jahre nach Humboldt besucht und gemalt (visualisiert).[64][61] Humboldt, „Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello (8.2..–5.3.1800)“, in: Humboldt 2000, 185–222.[62] Coll y Prat 1960, 181; Castillo Lara, Lucas Guillermo, „La candente disputa por la supremacia entre los negros criollos y los loangos o de Curazao“, in: Castillo Lara 1981, 479–499; Banko 2004. [63] Zeuske, „Das Vermögen der Bolívars“, in: Zeuske 2011, 72–86.[64] Achenbach, Sigrid, „Ferdinand Bellermann (1814–1868) in Venezuela“, in: Achenbach 2009, 133–210; insgesamt vgl.: Zeuske 2008a, passim.

C) Llanos, Schmuggel und Hirtensklaverei 1800

34Zwischen Villa de Cura und San Juan de los Morros, um den 10. März 1800, erreichten die Reisenden die Llanos von Caracas (heute im Staat Guárico) und damit eine neue Sklaverei-Region, die der hatos (Vieh-Plantagen), der llaneros und Sklavenrazzien. Humboldt gibt auf einem Hato der Ustáriz-Familie gleich eine gute Erklärung darüber ab, was ein Hato ist: „ein hato ist ein Art Vorwerk, wo ein Sklave als Majordomus mit vier oder fünf Sklaven wohnt, um Hornvieh und Pferde in der Weide/S(avanna) zu beobachten, zu suchen, wenn sie sich verlieren …“[65] (siehe auch die Handskizze Humboldts mit einer schematischen Darstellung der Gebirgsketten und Savannen – Llanos – von Venezuela).[66] Die Llanos von Venezuela (oder Orinoco-Llanos) bilden, zusammen mit ihren Erweiterungen am Apure (llanos de Barinas) und am Río Meta eine Makroregion zwischen den heutigen Staaten Venezuela und Kolumbien. Wie die Prärien und die Pampas oder die Llanos im Norden Mexikos bzw. des heutigen Südwestens der USA stellen sie frontier-Regionen[67] dar, in die nach der Kolonisierung der Küstengebiete zunächst die Reste von Indio-Völkern (oft Frauen und Kinder) sowie Sklaven aus den Plantagenregionen, Abenteurer, Deserteure, flüchtige Gefängnisinsassen, Schmuggler und Verbrecher aller Art geflohen waren. Eine Flucht- und Widerstandskultur geflohener Versklavter (cimarrones) par excellence entstand, mit eigenen Gesetzen, Bräuchen, Lebensweisen, aber auch Sklavereien, Razzienkonflikten, Viehdiebstahl, Überfällen und Gewaltkulturen. Wie in den Pampas wurden die Llanos seit der Conquista durch Millionen von Rindern, Pferden, Eseln, Maultieren und -eseln besiedelt; unter den freien Llaneros zählte nicht Landkontrolle oder Eigentumstitel, sondern der Erfolg der berittenen Jagd auf halbwildes Vieh. Humboldt hält mehrfach fest: „In [den] Llanos noch mehr freie Menschen“[68] – das ist in dem Sinne gemeint, dass allgemein die Llanos nicht als Gebiet der Sklaverei, sondern der Freiheit und der freien Menschen galt. Die Llanos del Orinoco im Norden Südamerikas haben die klimatische Besonderheit einer Klima-Großregion, die ein halbes Jahr für extreme Trockenheit und ein halbes Jahr für extreme Überschwemmungen sorgen, je näher zum Orinoco, desto höher.[69] Zudem ist die Oberfläche der Makroregion kaum in irgendeine Richtung geneigt, so dass Flüsse im Grunde kaum Fließgeschwindigkeit haben und sich bei Regen in die Ebenen, sozusagen „ohne Ufer“ ausbreiten. Die Charakterisierung Humboldts: „Von Villa de Cura aus gegen … den Orinoco hin hält man das unermeßliche Llano für sehr unsicher…“,[70] ist weitgehend richtig, aber eben aus der Perspektive der „zivilisierten“ Kolonialgesellschaft im Norden geschrieben.[71] Erst im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts hatte die Erschließung der Llanos durch Missionen begonnen, die seit ca. 1760 verstärkt wurde durch eine massive Expansion des Großgrundbesitzes in Form von Hatos mit schwarzen Hütesklaven (siehe Humboldts Beschreibung oben). Da durch verschiedene Aufstände und seit der Monopolisierung des Kakaoexportes durch die spanische Krone (1728) die Plantagenwirtschaft der Küstenzonen nicht mehr ganz so profitabel war wie vorher, expandierten auch die großen Sklavenhalterfamilien der Küstenstädte, vor allem die von Caracas, in die Llanos. Eigentumstitel an Land wurden vergeben – aus Sicht der freien Llaneros absolut illegal, ebenso wie sie das Einfangen und Markieren (Brandzeichen und Ohrmarken) des wilden Viehs für illegal hielten. Die bisherige freie Jagd der Llaneros wurde zu „Viehdiebstahl“ erklärt und die neuen Herren der Hatos (u.a. die Bolívar-Familie) versuchten den Widerstand der freien Llaneros durch Milizen (rondas[72]) und eben versklavte Llaneros (oft Verschleppte aus Afrika) zu brechen. Das gelang nicht. Im Grunde kam es von 1750 bis um 1920 zu schwersten Konflikten und Razzienüberfällen[73], eine regelrechte „Chronik der angekündigten Gewalt“, mit einigen Phasen intensiver Grenzkriege (wie 1812–1825 im Rahmen der antikolonialen Unabhängigkeitsrevolution und der Guerra Federal 1859–1864). In der literarischen Darstellung erscheinen die Männer der Llanos noch exotischer als in den Tagebüchern: [65] Humboldt, „Durch die Llanos von Guacara bis San Fernando de Apure (6. März–27. April 1800)“, in: Humboldt 2000, 222–235, hier 223f.[66] Humboldt, „Von Caracas nach Calabozo“, in: Ebd., 434–438, hier S. 437.[67] Prado 2012.[68] Humboldt, „Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello (8.2..–5.3.1800)“, in: Humboldt 2000, 185–222, hier 200.[69] Vgl. auch die Beschreibung der Überschwemmungen mit der Legende der „schwanzlosen“ Pferde: Humboldt, „Von San Fernando auf dem Río Apure, Río Orinoco, Río Negro, Río Casiquiare, Río Orinoco bis Esmeralda (30.3.–23.5.1800)“, in: Humboldt 2000, 236–310, hier 238–239.[70] Humboldt, „Von Caracas nach Calabozo“, in: Ebd., 434–438, hier 436.[71] Ebd., S. 434–438.[72] Ebd., 437.[73] Izard 1987; vgl. auch: Rodríguez Mirabal, Adelina C., „El hato: Unidad social de producción y explotación“, in: Rodríguez Mirabal 1987, 313–320, 277–320; Izard 1988; Zeuske, „Llaneros und Liberale“, in: Zeuske 2008a, 242–254.

„Männer, bis zum Gürtel nackt und mit einer Lanze bewaffnet, streifen zu Pferd durch die Savannen, um die Herden [der Privatbesitzer – MZ] im Auge zu behalten, zurückzutreiben, was sich zu weit von den Weiden des Hofes entfernt, mit glühendem Eisen zu zeichnen [markieren], was noch nicht den Stempel des Eigentümers trägt. Diese Farbigen, Peones Llaneros genannt, sind zum Teil Freie oder Freigelassene, zum Teil Sklaven … Sie nähren sich von luftgetrocknetem, schwach gesalzenem Fleisch [tasajo – MZ]; selbst die Pferde fressen es zuweilen“.[74][74] Humboldt, „Siebzehntes Kapitel“, in: Humboldt 1991, 703–761, hier 729.

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36Humboldt hat, wie gesagt, den Llanos in „Über die Steppen und Wüsten“ in den Ansichten der Natur[75] nicht nur ein globalhistorisches literarisches Denkmal gesetzt, sondern in seinen Tagebüchern die sozusagen empirische Atmosphäre des Hasses der freien Llaneros, der Rechtsunsicherheit und der Gewalt in der frontier-Region der Llanos sehr gut erfasst – ganz unabhängig von der Perspektive.[76] [75] Humboldt, „Über die Steppen und Wüsten“, in: Humboldt 2004, 13–168.[76] Humboldt, „Von Caracas nach Calabozo“, in: Ebd., 434–438, hier S. 436f.

D) Im Interior am Apure, Orinoco und Meta 1800

37Richtig spannend wurde es, als die beiden Reisenden jene Region verließen, die man auch frontier-Region nenne könnte, da hier noch ein intensiver Austausch sowie Phänomene der Transkulturation zwischen von Euro-Kreolen und Iberern (nichtkolonisierter und kolonisierter Gebiete) zu verzeichnen waren. Seit Ende März 1800 kamen Humboldt und Bonpland, nachdem sie San Fernando Apure (erst 1789 formal gegründet!) verlassen hatten, zum ersten und einzigen Mal während der gesamten Reise in die „unbekannte Welt“[77] des von Europäern/Kreolen nicht direkt kolonisierten Interior, eine Flusswelt. Sie bildete eine lang gezogene frontier-Region zweiten Grades, die in die Siedlungsgebiete und Territorien nichtkolonisierter Indígena-Stämme hineinragte. Allerdings wirkten sich Conquista und Kolonisierung auch auf diese der Küste so fernen Gebiete aus: „Wenn man wie wir ein 30 Tage lang auf dem Orinoco schifft und ewig nur sich selbst, nie ein freundlich begegnendes Schiff, nie Menschen am Ufer sieht, dann fragt man sich“,[78] schreibt Humboldt, „wem diese Welt diese Ödigkeit, diese Totenstille verdankt. Euch, Ihr Europäer, die ihr den armen, friedlichen Einwohnern (sie mit Schießgewehren schreckend oder feig im Schlaf überfallend) Nächtlich die Kinder raubt, Euch, die ihr den Wilden vom Ufer verdrängt … Der Wilde lebt jetzt zurückgedrängt an den entfernten Flüssen, Armen, Caños“.[79] Das zeigt, dass diese Welt ganz so „unbekannt“ doch nicht war, wie Humboldt mit seinen Bemerkungen über die Sklavenjagd auf Kinder, aber auch über Conquistadoren im 16. Jahrhundert und Missionare im 18. Jahrhundert (vor allem Jesuiten von Brasilien bis 1759/67[80] und Kapuziner von Tierra firme) und denen über die wenigen „Krämer“[81] (Kaufleute) erkennen lässt. Dieses Tagebuchkapitel Humboldts ist unvorstellbar reich an unbekannten Beobachtungen/Analysen von Sklavereiformen. Ich will mich hier nur auf Sklavereien und Sklavenrazzien beschränken, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass Humboldt auch Lebensmittel- und Nahrungskonsum erwähnt, sicherlich, weil ihm hier vieles neu war (etwa Affenfleisch). Aber viele Elemente der Kolonialkultur (wie Rinder) waren auch schon in den Interior vorgedrungen.[82] Missionsgrenzen und Frontiers der Europäer waren immer auch Rindergrenzen. Ein materielles Element verband Kolonialgebiete und beide Frontier-Regionen: die „machete“. Humboldt erwähnt einen „Indianer“ mit „dem berühmten Spanischen Messer, 14 Zoll lang [wie lang war wohl dieses Zollmaß? – MZ], ohne welches man in Amerika nicht gehen kann“.[83] Macheten wurden in Konflikten und Razzien benutzt, aber auch, um junge Indigene anzulocken, die scharf auf Eisengeräte waren, und sich dafür zeitweilig versklaven ließen. Als mobiles Element der materiellen Transkulturalität zu erwähnen sind die Flussschiffe. Sie stellten das Transportmittel par excellence auch für Sklavenrazzien dar: „Größte indian[ische] Embarcation auf [dem] Orinoco: Bongo, kleiner Piragua, kleinste Curiara“.[84] [77] Humboldt, „Von San Fernando auf dem Río Apure, Río Orinoco, Río Negro, Río Casiquiare, Río Orinoco bis Esmeralda (30.3.–23.5.1800)“, in: Humboldt 2000, 236–310, hier 236.[78] Ebd., hier 277.[79] Ebd.[80] Vogel 2006.[81] Humboldt, „Von San Fernando auf dem Río Apure, Río Orinoco, Río Negro, Río Casiquiare, Río Orinoco bis Esmeralda (30.3.–23.5. 1800)“, in: Humboldt 2000, 236–310, hier 263.[82] Ebd., hier 239 (Lebensmittel), 260 (Essvorräte alle; neue NahrungsmitteL Fisch, Yuca, Schildkröteneier, Palmfrüchte), 260 (Anm.: Erde essen), 266 (Affenfleisch), 275 („Nahrung Fischerei und Jagd“ sowie Gartenbau auf Pisang und bittere Yuca (Kassava), 284 (Rinder: „Jesuitenvieh“). Vorher hatte Humboldt Bemerkungen zu Genuß- oder Nahrungsmitteln eher selten gemacht: „Erst am 4ten ritten wir mit Fernando Peñalverd und Juliac (der mich fürchterlich mit Instrumenten und Fragen peinigte) nach Guacara, um unsere Freunde, die Familie des Marqués del Toro noch einmal zu sehen und die astron[omische] Arbeit an der Lagune zu vollenden. Dort unbeschreibliche Hitze und wegen vielen Kaffeegenusses und liqueur etwas krank bis 6ten“, in: Humboldt, „Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello (8.2..–5.3.1800)“, in: Ebd., 185–222, hier 214.[83] Ebd., S. 236–310, hier 290.[84] Ebd., 254.

38Humboldt beschreibt, um auf die vielfältigen Sklavereien zu kommen, meist indirekt Sklavereien und Sklavenfang unter den Indigenen, etwa an den Stellen, wo er über guahibos, guahibos bravos, Cariben, guajaribos und macos (z.B.: „Macos-Macos im Osten des Duida“[85]) sowie viele andere „Nazionen“ (Völker, Stämme) spricht. Die historischen Kariben Venezuelas und Guayanas, die Humboldt ausführlich beschreibt (und ihnen sogar einen Staat zugesteht: „die verbrüderten Cariben [sind] eigentlich der größte Staat im N[euen] Continente“[86]), waren Razzienkrieger und Sklavenjäger par excellence. Alle anderen, nicht zu ihren Abstammungsgemeinschaften gehörigen Menschen, bezeichneten sie mit dem Begriff itoto. Itotos waren zu bekämpfende Feinde, die nach dem Sieg getötet oder geopfert wurden (in ausgeklügelten rituellen Opferzeremonien die bedeutendsten Feinde); männliche Halbwüchsige wurden oft auch getötet und Frauen sowie Mädchen und kleine Jungen wurden in die Gruppe integriert. Die jungen Männer der Kariben waren furchtbare Krieger mit Kanu, Langbogen und Keule. Keulen sind reine Tötungswaffen, was Rückschlüsse auf die Härte der Konflikte zulässt. Völker, die den Karibenkriegern leichte Beute boten, wurden mit dem Namen macos benannt, sozusagen schwache und dumme Itotos. Nach und nach setze sich bei den Kariben auch der Begriff des poito (Kriegsgefangener; Sklave) durch, vor allem seit sie Spaniern, Niederländern oder Engländern Kriegsgefangene gegen Eisen- und Feuerwaffen verkaufen konnten – oder seit sie fremde Männer wegen der vielen Kriege mit Vernichtungscharakter in der Kolonialzeit (die Kariben hatten traditionellerweise nur wenige Männer geopfert) über Heirat in Gruppe aufnehmen mussten. Deshalb bezeichnet das Wort poito sowohl Sklave als auch Schwiegersohn.[87] Humboldt gibt eine sehr authentische Darstellung der poitos und der Sklavenjagd und des Sklavenhandels der Kariben im 18. Jahrhundert: [85] Humboldt, „Kapitel 1: Von Cuba nach Cartagena. Überfahrt von Cuba nach Cartagena (9.–30.3.1801), in: Humboldt 2003, 41–63, hier 53.[86] Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná (7.5.–26.8.1800)“, in: Humboldt 2000, 311–389, hier 340–348, hier 343.[87] Acosta Saignes, Miguel, „Macos e Itotos“, in: Acosta Saignes 1983, 89–114.

„Denn selbst in Gegenden, wo [die] Cariben nicht ihre Herrschaft ausgebreitet [frontiers zwischen Indigenen-Stämmen – MZ] … streifen doch Cariben in Horden von 12–15 stämmigen Männern [Razzienkriegstrupps – MZ] vor 1750 umher, aller Wege kundig und die dort so still und herrenlos lebenden Waldindianer beunruhigend, besonders Knaben raubend, welche sie am Guainía und Mao den Portugiesen als Poitos verhandelten. Ebenso raubten sie (ja im öst[lichen] Theile in den Sabanas am Quimiropaca treiben sie noch Sklavenhandel mit [den] Portugiesen) Baumwollene Zeuge, Hamacas, Gifte in Parime und handeln damit“.[88][88] Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná (7.5.–26.8.1800)“, in: Humboldt 2000, 311–389, hier 344; vgl. auch: Gilij, Felipe Salvador, „De los esclavos llamados poitos (Capítulo XXXII)“, in: Gilij 1965, Bd. II, 287–290.

39 Am Río Negro hält Humboldt fest:

„der Río Negro diente den Portugiesen damals bloß zum Sklavenhandel. Damals [zur Zeit von La Condamines Amazonasreise 1743–1745, gilt aber mit Sicherheit auch danach – MZ] … waren [die] Cariven Meister der Orinoco, sie streiften von Berbice und Essequibo durch Caroní und Paraguamuci nach R[ío] de Aguas Blancas, wie durch Caura nach Ventuari und Esmeralda; sie reizten kleine Ind[ianische] Fürsten zu Kriegen, kauften mit Waren (Messern, machete, Angelhaken), die sie von Holländern und Portugiesen empfingen, von diesen Fürsten die Sklaven und lieferten sie an Holl[änder] und Portugiesen“.[89][89] Humboldt, „Von San Fernando auf dem Río Apure, Río Orinoco, Río Negro, Río Casiquiare, Río Orinoco bis Esmeralda (30.3.–23.5.1800)“, in: Humboldt 2000, 236–310, hier 306.

40 Auch andere Stämme betrieben Razziensklaverei, wie Humboldt ebenfalls erwähnt:

„Sklaven. Noch bis 1756 waren [die] Cariben die Handelsleute, [die] Armenier dieses Continents. Niemand traute sich solche Reisen, und da sie alles bezwungen, so reisten sie sicher, da niemand sie anzugreifen wagte. Ihr Hauptgewerbe war, von [den] Holländern angereizt, [der] Sklavenhandel. Sie fingen selbst ein, und andere Nazionen am Ventuari und Padamo halfen ihnen … [Die] Portugiesen trieben, durch Temi und Cababuri eindringend ebenfalls Sklavenhandel“.[90][90] Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná (7.5.–26.8.1800)“, in: Ebd., 311–389, hier 332.

41 Zur Politik der Kariben-„Völkerschaften“ sagt Humboldt:

„Ihre Politik ist sehr fein, besonders in ihrer Freundschaft mit den [den] indianischen Sklavenhandel begünstigenden Portugiesen und ihrer Verbrüderung mit den freien Negern [maroons/cimarrones – MZ], welche einen Freistaat im Gebirge von Essequibo bilden und östlich von den Cariben wohnen. Von diesen Negern erhalten die Cariben bisweilen Schießgewehr, auch, obgleich selten, mischen sie sich mit ihnen … Die freien Neger schmeicheln den Cariben, weil sie ihnen westl[ich] als Vormauer gegen die Spanier dienen“.[91][91] Ebd., 344.

42 Ein klassischer indigener Subimperialismus der Kolonialzeit.

43Es gab auch, wie in jedem „Sklaven-Produktions“-Gebiet dieser Welt, eine lingua franca des Menschenhandels: Caribe; Humboldt merkt dazu an: „Allgemeine Sprachen[:] Caribe fast [in der] ganzen Orinocowelt, bes[onders] bajo Orinoco, Essequibo, Savana del Parime“.[92] Humboldt hält auch ziemlich richtig die Sklaverei unter Missions-Indígenas fest: „[Die] Indianer … sehr begierig, Menschen zu fangen, um Sklaven zu haben; denn der Indianer, der einfängt, behält meist den Gefangenen, der ihm einige Jahre lang dient, bis der Padre erklärt, er sei humanisirt genug, um selbst [eine] Wirtschaft zu führen. Alles will mitziehen [zur entrada – MZ], selbst Weiber, theils aus Reiselust und weil Weiber besonders solche Sklaven wünschen [als Hauspersonal und für „niedere“ Arbeiten (Asche, Abfälle entfernen, Wasser und Abwässer tragen, Wunden versorgen, heizen, Kleinvieh hüten, etc.) – MZ]. Man sucht besonders Knaben zu fangen, dann dauert [der] Dienst lange“.[93][92] Humboldt, „Von San Fernando auf dem Río Apure, Río Orinoco, Río Negro, Río Casiquiare, Río Orinoco bis Esmeralda (30.3.–23.5.1800)“, in: Ebd.,236–310, hier 308.[93] Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná (7.5.–26.8.1800)“, in: Ebd., 311–389, hier S. 311.

44Zur Erinnerung: Die von europäischen Conquistadoren, Siedlern, Kolonisten und vor allem von Missionaren betriebenen Sklavenrazzien/Menschenjagden hießen entradas oder jornadas. Es gab sie seit der frühen Conquista; entrada (verbatim: „Eintritt“) spiegelt im Wort den Enklavencharakter der europäischen Kolonisation wider. Der „Eintritt“ erfolgt in das noch nicht eroberte bzw. kolonisierte Gebiet; meist von der Küste Richtung innere Gebiete des südamerikanischen Kontinents (Interior). Allerdings soll man sich nicht eine Linie oder etwas klar Definiertes vorstellen, durch oder über das der jeweilige „Eintritt“ erfolgt – es handelt sich, wie bereits mehrfach gesagt, um frontier-Zonen (mit dem ebenfalls bereits erwähnten captive-Phänomen, übrigens beider Seiten; „weiße“ captives bei Indigenen werden von Humboldt kaum erwähnt[94]). Im Grunde waren alle iberischen Kolonien in den Atlantik-Amerikas und der Karibik durch entradas „entdeckt“ (auch beschrieben und manchmal kartographiert) worden, vor allem natürlich die Interiors der großen Kolonialterritorien (meist erst im Laufe des 18. Jahrhunderts – wie Teile Kolumbiens, Venezuela, die Guayanas, Brasilien und Teile des Río de la Plata). Zugleich waren es fast immer Sklavenrazzien. Humboldt kritisierte noch 1800 die von den Missionen ausgehenden Razzien (jornadas, entradas) zum Zwecke des Sklavenfangs: [94] Vgl. (im Wesentlichen für Nordamerika, aber cum grano salis als allgemeine Phänomene): Reséndez, „Powerful Nomads“, in: Reséndez 2016, 172–195 sowie: Reséndez, „Missions, Presidios, and Slaves“, in: Ebd., 196–217 und: Reséndez, „The Comanches in Mexico“, in: Ebd., 218–230.

„Eine schändliche Sache, obgleich selten jezt [sic], doch Schande des Jahrhunderts sind die Jornadas [jornada = entrada – M.Z.] der Missionäre. Ein Mönch bietet, um sein Dorf zu vergrößern oder neue anzulegen, alle Mannschaft in der Nähe auf, ihm bewaffnet gegen die Indios bravos zu folgen. Indianer (schon bekehrte) und die Spanier, alle müssen im Namen der Religion folgen. Tenientes müssen Padre Beistand leisten, zur Jornada zwingen. Man überfällt unschuldige Indianer, sie retten sich meist nur durch Flucht, man sezt ihnen nach, tötet alles, was sich widersezt, oft ein [einige] 50–60 Männer und Weiber, raubt Kinder und schlept alt und jung, oft ein 200–300 triumphierend in das Dorf. Es gibt um Calabozo, Tisnao, Nutrias Gesindel, besonders Zamben, welches mehrere solcher schändlicher Giornadas mitgemacht und sich öffentlich rühmt, 5–6 Indianer erlegt zu haben“.[95][95] Humboldt, „Missionen“, in: Humboldt 1982, 160–162, hier 161 (Dokument Nr. 92). Erstaunlicherweise ist dieser Tagebuchauszug nicht an den entsprechenden Stellen der „Reise durch Venezuela“ widergegeben, vgl.: Humboldt, „Von San Fernando auf dem Río Apure, Río Orinoco, Río Negro, Río Casiquiare, Río Orinoco bis Esmeralda (30.3.–23.5.1800)“, in: Humboldt 2000, 236–310, hier müsste er auf 268–270 zu finden sein. Insgesamt wurde mit der Razziensklaverei die „Chronik der angekündigten Gewalt“ (Miquel Izard) geschrieben, die im Sozialkrieg der Independencia-Zeit kulminierte und den Begriff sowie die Anwendung von nichtstaatlicher Gewalt im 19. Jahrhundert prägte; vgl.: Riekenberg, Michael, „Kriegerische Gewaltakteure in Lateinamerika im frühen 19. Jahrhundert“, in: Sieferle/Breuninger 1998, 195–214. Eduardo Arcila Farías hat nachgewiesen, daß der größte Teil des venezolanischen Territoriums durch solche jornadas und entradas (auch expediciones genannt), de facto religiös-militärischen Unternehmungen, erobert worden ist, vgl.: Salazar 1968, 30–35.

45 Insofern glich Venezuela Brasilien mit seinen mestizischen Sklavenjägern-Entdeckern (bandeirantes, paulistas) und anderen Indiofängertrupps. In Esmeralda, dem südlichen Endpunkt seiner Orinoko-Flussreise im Mai 1800 hält Humboldt folgende Beobachtung in seinem Tagebuch fest:

„Der Commendant des R[ío] Negro machte entrada ohne Erlaubniß des Governadors, Vorwand, um Yndier zu holen, und da er so wenige brachte, sagte er, er sei gewesen [er habe es gemacht], um geograph[ische] Entdekkungen zu machen! Wahrer Zwek, Neger zu Sklaven zu machen, welche (Holländer [[96]]) an Parime unter Indios Guaycás wohnen, und von denen er gehört. Indianer thaten Widerstand, ein Spanier mit Curare verwundet; Rache und schändlich und unnütz unter Indianern gemetzelt“.[97][96] Von den Plantagen in Surinam, Essequibo, Demerara oder Berbice geflohene afrikanische Sklaven, vgl.: Thompson 2002; Thompson 2006, vgl. auch: Parrish, Susan Scott, „African Magi, Slave Poisoners, in: Parrish 2006, 259–306.[97] Humboldt 1982, 150 (Dokument 78); vgl. auch: Humboldt, „Von San Fernando auf dem Río Apure, Río Orinoco, Río Negro, Río Casiquiare, Río Orinoco bis Esmeralda (30.3.–23.5.1800)“, in: Humboldt 2000, 236–310, hier 295 sowie (zu den von Humboldt immer wieder erwähnten guaharibos als frühe Yanomami, etwa 308): Ferguson, Brian, „Early Encounters“, in: Ferguson 1995, 77–98.

46

47Zum Panorama der Sklavereien und ihrer Kontexte gehören auch die Maroon/ Cimarrón-Siedlungen (in Venezuela meist rochelas) sowie etwas, das wir „Seminolen-Phänomen“ nennen können – das Volk der Seminolen hatte viele geflohene schwarze Sklaven aufgenommen. Humboldts beschreibt die Siedlung folgendermaßen:

„In Caura nemlich hat man eine sehr hüpsche Negercolonie angelegt, die dort als frei Menschen ungeheuer viel Mays bauen, Neger, welche aus Surinam und Essequibo [niederländische bzw. zeitweilig britische Kolonien[98] – MZ] entfliehen und theils zur See, theils durch [den] Río Cuyuní nach Guayana gelangen und sich dort kaufen lassen“.[99][98] Oest, Eric Willem van der, „The Forgotten Colonies of Essequibo and Demerara, 1700–1814“, in: Postma/Enthoven 2003, 323–361.[99] Humboldt, „Von San Fernando auf dem Río Apure, Río Orinoco, Río Negro, Río Casiquiare, Río Orinoco bis Esmeralda (30.3.–23.5.1800)“, in: Humboldt 2000, 236–310, hier 275.

48 Zum Phänomen der Ansiedlung geflohener Versklavter aus Afrika unter Indigenen: „Maquiritares, so weit von Europäischen Kolonien entfernt, beweisen, daß nicht … die Guaharibos und Macos durch Vermischung mit entlaufenen Holländern gebleicht sind, weil man Neger unter ihnen finde“.[100] Humboldt kommt mehrfach auf die „freien Neger“ zurück, „welche einen Freistaat im Gebirge von Essequibo bilden“.[101] Humboldt erwähnt auch den „Palenke im gebirgigten Surinam“[102] und Gerüchte über „halb schwarze Zamben“[103] an den Quellen des Orinoco, d.h., ein südamerikanisches Seminolen-Phänomen.[104] Auf der Rückreise auf dem Orinoco erwähnt Humboldt Sklavereiformen nur noch sporadisch (sie sind weiter oben meist schon zitiert), reflektiert aber sehr stark über das am Orinoco und anderen Flüssen Gesehene und Gehörte sowie seine und Bonplands Analysen. Die Themen sind Kariben, ihre Herkunft, Anfänge der Rassenlehre am Beispiel der Kariben, Geographie, Schmuggelwirtschaft (mit der interessanten Schätzung, dass allen offiziellen Berechnungen über Exporte ca. ¼–⅕ für Schmuggel hinzuzufügen ist, Kannibalismus und Krankheiten wie „venerische Geschwüre“ (Syphilis), Pocken und Geldfieber, zusammen mit den entsprechenden Miasmentheorien.[105] [100] Ebd., 308.[101] Humboldt, „Mexiko-Stadt (?)“, 12. April 1803–20. Januar 1804 [Textauszüge zu Kariben], in: Humboldt 1982, 239–243, hier 241 (Dokument Nr. 162).[102] Humboldt, „Lima (Peru)“, 23. Oktober 1803–24. Dezember 1802 [Textauszüge zum Tupac-Amaru-Aufstand], in: Ebd., 316–320, hier S. 316 (Dokument Nr. 239).[103] Humboldt, „Mexiko-Stadt (?)“, 12. April 1803–20. Januar 1804 [Textauszüge zu Kariben], in: Ebd., 239–243, hier 241 (Dokument Nr. 162).[104] Obwohl Humboldt Gabriel Stedman nicht erwähnt bin ich fast sicher, dass er ihn gelesen hat; vgl.: Price 2002; Price, Richard; Price, Sally, „Introduction“, in: Stedman 1988, XIII-XCVII; Price 1992.[105] Humboldt, „Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná (7.5.–26.8.1800)“, in: Humboldt 2000, 311–389, hier 365f./371f.

49Mitte 1800 gelangten Humboldt und Bonpland über die äußeren Sicherungspositionen des spanischen Imperiums im Norden Südamerikas (Angostura und Santo Tomé de Guayana) an der Orinocomündung über die llanos orientales nach Nueva Barcelona westlich von Cumaná. Bei Nueva Barcelona durchbrechen Flusstäler der Unare-Senke die Küsten-Kordilleren. Llano-Vieh und Menschen aus Sklavenrazzien konnten dort bis direkt zur Karibikküste getrieben werden (Puerto San Cristóbal de los Cumanagotos, Puerto Piritú am Río Unare).

50An und auf dem karibischen Meer erwähnt Humboldt eine weitere Sklavereiform nur sehr vermittelt in Bezug auf sich und Bonpland – Menschenraub und Razziensklaverei bei Korsaren. Man könnte bei dieser Form der Razziensklaverei auch von Kapitänssklaverei sprechen, da es sich meist um Piraterie/Korsarentum als Privatunternehmen von Kapitänen, vor allem aus britischen Gebieten und aus den USA, handelte: „Auf der Rückreise von Barcelona nach Cumaná nahm uns ein Corsar von Halifax gefangen“.[106] Der Kapitän war interessiert an Wissen, Expeditionen und Wissenschaft, so wurden beide nach einem Tag frei gelassen. [106] Humboldt, „Von Nueva Barcelona nach Havanna (24.11.–19.12.1800“, in: Humboldt 2000, 391–422, hier 392. Korsarentum an sich ist in diesem Kapitel recht ausführlich dargestellt; vgl. auch: Retzlaff, Carolin, „Freiheit als verhandelbares Gut – die juridische Argumentation für Freiheit“, in: Retzlaff 2014, 80–144. In dem Buch wird an einigen Fällen, die nur eine sehr kleine Spitze des Eisbergs darstellen, gezeigt, wie schwierig es für von Korsaren und Kapitänen geraubten oder betrogenen farbigen Menschen war, aus dieser Razziensklaverei wieder zu entkommen.

51Das Fazit der eineinhalb Jahre Aufenthalt Tierra firme in der Generalkapitanie Caracas/Venezuela (16. Juli 1799–24. November 1800; Provinzen Cumaná oder Nueva Andalucia, Provinz Caracas, Provinz Barinas, Provinz Guayana, Provinz Barinas und nochmals Provinz Cumaná) lautet in Bezug auf Sklavereiformen, Menschenjagd/Sklavenhandel und Razziensklavereien sowie Entwicklung der „modernen“ Second Slavery in Venezuela: Humboldt konnte sich, als er Ende 1800 auf Kuba ankam, mit einigem Recht als einen erfahrenen Sklaverei-Anthropologen und -Soziologen, in gewisser Weise auch als Sklaverei-Historiker betrachten. Diese Aussage ist in Bezug auf unser Oberthema „Humboldt und die Sklaverei“ neu. Erstens, weil noch niemand, auch ich nicht, die Entwicklung der Sklaverei von Menschen aus Afrika in Venezuela (die in den Plantagen-Plattformen bei Cumaná, aber besonders in den Tälern von Aragua und Tuy/Barlovento sowie um den Valencia-See bis Puerto Cabello) als Dimension der Entwicklung der Second Slavery dargestellt hat, d.h. als „moderne“ Sklaverei ihrer Zeit. Das Sklaverei-Thema in Bezug auf Humboldt ist (bisher) fokussiert auf Kuba und Humboldts Essay über die Insel Cuba. Zweitens, weil die Geschichtsschreibung Venezuelas von Narrativen der Unabhängigkeitsrevolution (independencia) dominiert wird, die in ihrer historischen Realität entgegen den Wünschen, Hoffnungen und politischen Zielen der Oligarchien („weiße Republik“, siehe oben), aber zum Abbruch der Entwicklung der Second Slavery (nicht der Sklaverei überhaupt – Abolition erst 1854) in Venezuela führte.

52Erstaunlicherweise erwähnt Humboldt zwar immer mal wieder Sklavenwiderstand, aber nicht die etwa parallel zur Amerikareise ablaufende Sklavenrevolution auf Saint-Domingue/Haiti (1791–1803). Es gibt zwei Ausnahmen: eine Ausnahme dort, wo Humboldt die Versuche schildert, die Sklaveneinfuhr, d.h. vor allem den karibischen Schmuggel von frisch aus Afrika zunächst in englische, französische und niederländische Kolonien verschleppten Menschen (bozales) nach Venezuela einzudämmen. Hier erwähnt Humboldt die „revolution in S[an] Domingo“.[107] Die zweite Ausnahme stellt der kurze und enigmatische Verweis (bei Cariaco im Hinterland von Cumaná) auf die „(Neger Revolution)“[108] anlässlich der Hinrichtung eines „Armen Sünder[s]“[109] dar. [107] Humboldt, „Aufenthalt in Caracas (22. 11. 1799–7. 2.1800)“, in: Humboldt 2000, 173–184, hier 173.[108] Humboldt, „Cumaná, Nachtrag“, in: Humboldt 2000, 432–433, hier. 433.[109] Ebd.

53Michel-Rolph Trouillot hat in Bezug auf dieses Schweigen die Formulierung von der „undenkbaren Geschichte“[110] geprägt – ich würde eher von „unbeschreibbarer Revolution“ sprechen.[110] Trouillot, Michel-Rolph, „An Unthinkable History: The Haitian Revolution as a Non-Event“, in: Trouillot 1995, 70–107.

E) Cuba grande I. Erster Kuba-Aufenthalt (19. Dezember 1800–15. März 1801)

54Humboldt und Bonpland erreichten Havanna, aus Venezuela kommend, via Schiffahrt entlang der Südküste Kubas, um das westliche Cabo San Antonio herum. Beide Reisende verbrachten die meiste Zeit in der Kolonialmetropole und genossen nach der langen Zeit an den Peripherien Spanisch-Amerikas das gesellschaftliche Leben in Havanna.[111] Sie wohnten im Haus der Familie Cuesta Manzanal (heute an der plaza vieja), einer der damals vielleicht wichtigsten, spanischen Sklavenhändler-, Kaufleute- und Bankiersfamilien Kubas.[112] Der wichtigste Kontakt der Reisenden in Bezug auf Sklaverei, Wissen und Wissenschaft waren, neben spanischen Fachwissenschaftlern, in real time vor allem Francisco de Arango y Parreño und – vielleicht noch wichtiger in Bezug auf Daten (die sicherlich auch erst nach 1804) – Antonio del Valle Hernández.[113] [111] Zeuske 2011.[112] Zeuske 2010; zum Sklavenhandel vgl. auch: Johnson 1999.[113] Kuethe 1986; González-Ripoll Navarro, María Dolores, „La oligarquía criolla y peninsular: hombres y mujeres del azúcar [Creole and peninsular oligarchy: sugar men and women]“, in: González-Ripoll Navarro 1999, 127–138 (die Liste 135–137); González-Ripoll Navarro, „La minoría dominante: redes familiares, poder y política“, in: Ebd., 123–153; Pérez de la Riva, Juan, „Antonio del Valle Hernández, ¿El primer demógrafo cubano?“, in: Valle Hernández 1977, 3–40; vgl. auch (eher in Bezug auf den Elitecharakter der Sklaverei-Oligarchie): Goncalvès 2004; Goncalvès, „Une élite sucrière“, in: Goncalvès 2008, 51–91.

55In Bezug auf direkte Beobachtungen in den Tagebuch-Notizen wissen wir über diesen ersten Kuba-Aufenthalt nur etwas über die Ankunft in Havanna[114] und über die Abreise, die Passage über Land nach Batabanó, die Südküsten Kubas zwischen Batabanó und Trinidad sowie – recht wenig – über Trinidad selbst und die Südküste des país de las cuatro villas (Humboldt: „alle 4 pueblos, Trinidad, Villa [Santa] Clara, El [Puerto] Principe und S[ancti] Spiritus“[115]). Trinidad war eine Zucker-Plantagenplattform sozusagen eigenen Rechts; eine Wirtschaftsleistung der lokalen Eliten der Stadt, die nicht wie Havanna ein imperiales Zentrum war. Das Hinterland von Trinidad bildete eine weitere Enklave der frühen Zuckerproduktion mit Massensklaverei des 18. Jahrhunderts und des frühen 19. Jahrhunderts.[116] Die Plantagenzone war seit ca. 1720 als ein riesiges Dreieck zwischen Guamuhaya-Gebirge (Humboldt nennt das Gebirge „Cerro S[an] Juan“[117]), den Alturas de Sancti Spíritus sowie der Karibikküste in Mittelkuba entstanden. Im Hinterland von Trinidad (Valle del Río Agabama, Río del Ay, die zusammen den Río Manatí bilden) entstand eine moderne Agrarregion, vor allem mit Korsaren- und Schmuggelkapital (Vieh, Häute, Tabak und Edelhölzer).[118] Ob es sich bei dem von Humboldt bei der Ankunft in Trinidad im Gespräche erwähnten „D[o]n Franc[is]co Bermudez, der mit uns in Cumaná wohnte“[119] nicht eigentlich um José Francisco Bermúdez de Castro y Figuera de Cáceres[120] und um den verdeckten Hinweis auf Schmuggel mit Versklavten aus Afrika handelt, muss noch geklärt werden, ist aber sehr gut möglich. Die geschmuggelten Menschen wurden von den Negreros meist als „Familie“ oder negrería bzw. negrada bezeichnet; Humboldt hält jedenfalls fest: „Bermudez, der … dann mit Juan Arango und der Negerfamilie über Trinidad nach Havanna ging […] Bermudez mit dem Rest der Negrería … wurde … dicht vor Veracruz von den Engländern gefangengenommen, aber an Land gesetzt“.[121] Wenn es wirklich illegaler Sklavenhandel ist, der hier beschrieben wird – und ich gehe davon aus – hätte Bermúdez Menschenhandel zwischen Cumaná, Trinidad, Havanna und Veracruz betrieben, alles wichtige Sklaverei-Städte.[122] Das passt in das oben erwähnte Bild, das Humboldt von der „Bolívar-Gruppe“ skizzierte. [114] Humboldt, „Von Nueva Barcelona nach Havanna (24.11.–19.12.1800)“, in: Humboldt 2000, 391–422 [115] Humboldt, „Kapitel 1: Von Cuba nach Cartagena. Überfahrt von Cuba nach Cartagena (9.–30.3.1801), in: Humboldt 2003, 41–63, hier 45. Bei den „4 villas“ ist statt Remedios (richtig), Puerto del Príncipe (heute Camagüey – falsch) genannt.[116] Adelman 2006. [117] Ebd., 44.[118] Venegas 2005; Chaviano Pérez 2013; Chaviano Pérez 2014.[119] Humboldt, „Kapitel 1: Von Cuba nach Cartagena. Überfahrt von Cuba nach Cartagena (9.–30.3.1801), in: Humboldt 2003, 41–63, hier 45.[120] Geboren 1780 oder 1782 in Cariaco oder Cumaná, 1831 ermordet in Cumaná; General und zeitweilig Adjutant Bolívars. Vgl. „General José Francisco Bermúdez de Castro y Figuera de Cáceres“, in: SoloGenealogia, URL: http://www.sologenealogia.com/gen/getperson.php?personID=I3741&tree=001 (19. Aug. 2016).[121] Humboldt, „Kapitel 1: Von Cuba nach Cartagena. Überfahrt von Cuba nach Cartagena (9.–30.3.1801)“, in: Humboldt 2003, 41–63, hier 45f.[122] García Díaz/Guerra Vilaboy 2002.

56Über die Zuckerwirtschaft (mit Sklaven, die er an diesem Punkt nicht erwähnt) schreibt Humboldt:

„Die Zuckerwirtschaft um Trinidad hat etwa zugenommen … aber die Tyrannei, welche die Havanna auf [den] Rest der Insel ausübt, hindert alle Industrie. Da [die] Regierung in Havanna thront, den Rest der Insel nie sieht, da das Consulado aus Hacendados und Kaufleuten besteht, deren Interesse es ist, daß nur der Handel der Havanna florire, so erlaubt man nicht, daß neutrale Schiffe [Schiffe von Mächten, die nicht mit Spanien im Kriege waren und ihre Neutralität erklärt hatten – MZ] hier einlaufen und laden, obgleich [die] kön[igliche] Erlaubnis alle, alle Häfen [Kubas] in sich begreift. Man giebt vor, die Einfuhr der Contrebande würde zu groß sein, eben als ob man nicht irgendwo mehr Contrebande von Providence und Jamaica machen könne, als die reichste Menschenklasse in Havanna und Batabanó aus treibt; in der Havanna, wo man für Geld sich jegliche Art Expeditionspapiere schaffen kann, Zeugnisse, als habe man span[ische] Produkte geladen, als habe man Eisen und Sklaven; Papiere, die man von einem Schiff aufs andere überträgt … In Trinidad haben daher wegen Mangel der Abnahme Zucker [von span.: azucares (Plural) – MZ] keinen Preis; sie häufen sich an, während daß der Hacendado in der Havanna seine Produkte schon früher bezahlt erhält als er sie einärndtet [die sogenannte refacción – Vorschuss von Kaufleuten/Bänkern an Hacendados – MZ]. Die Größe der Havanna ist schuld, daß [die] übrige Insel eine Wüste ist“.[123][123] Humboldt, „Kapitel 1: Von Cuba nach Cartagena. Überfahrt von Cuba nach Cartagena (9.–30.3.1801), in: Humboldt 2003, 41–63, hier 47.

57 Humboldt war ein exzellenter Kenner von Wirtschaftsstrukturen und der daraus resultierenden politischen und sozialen Spannungen – auch wenn er das Ganze für „sehr unpolitisch“ hielt.[124][124] Ebd., S. 48.

58Humboldts unmittelbares Interesse währen seines ersten Kuba-Aufenthaltes waren Messungen für eine neue Karte der Insel, nicht so sehr die Sklaverei auf Kuba, das Leben der Versklavten oder der Sklavenhandel nach Kuba (1789–1820 Freihandel), die er zudem, wie oben bereits gesagt, vor allem aus der Capitanía General de Venezuela zu kennen glaubte, auch in ihren unterschiedlichen Formen (inklusive der „modernen“ Ansätze der Second Slavery).[125] Sklaven-Haciendas, Sklaverei und Versklavte kamen sozusagen durch die Hintertür der Messungen in Humboldts Blick- und Forschungsfeld; einfach deswegen, weil die Messpunkte eben auf oder an Reisewegen oder Übernachtungsplätzen lagen, die Humboldt und Bonpland wegen ihrer sozialen Kontakte zur Sklaverei-Oligarchie besuchten. Es handelte sich im Wesentlichen um Sklavenhaciendas vor allem im Innern des País de la Habana. Es scheint, als ob auf Humboldts Karte mit dem Titel „Mapa de la Isla de Cuba. Formada sobre las observaciones astronómicas de los Navegantes Españoles y del Baron de Humboldt, Paris: En la libreria de Jules Renourd, Calle de Tournon No. 6, 1827“ die wichtigsten Plantagen markiert und genannt sind. Unter den Haciendas, die beide auf jeden Fall gesehen haben, findet sich auf der Karte z.B.: „Hac[ienda]. del Fondeadero“ und „Rio Blanco [del Sur]“.[126][125] Die Ergebnisse dieser Messungen können in Humboldts „Reasoned Analysis of the Map of the Island of Cuba“ (im frz. Original: „Analyse raisonée de la carte de l’île de Cuba“) bewundert werden; vgl. in: Humboldt 2011, 3–21, dort begleitet von Humboldts erster Karte des kubanischen Archipels (1820; noch sehr traditionell); die zweite und definitive Karte Humboldts (1826) findet sich: Ebd., zwischen 198 und 199. Vgl. die Gestalt und die Position der Schweinebucht (Bahía de Cochinos/Ensenada de Cochinos) sowie die von Cienfuegos (erst 1819 gegründet), an den Orten ist Humboldt auf dem Weg nach Trinidad vorbei gefahren.[126] Humboldt 1998; Puig-Samper 2000; Venegas Fornias 1996.

59Von den ländlichen Sklaven-Haciendas war die wichtigste Plantage/Hacienda der ingenio Río Blanco (auch: Río Blanco del Sur oder La Nueva Holanda) auf der Ebene von Güines (Humboldt: „im schönen Tal von Güines“[127] – „un nouvel Dorado“[128]), die von den Jesuiten gegründete große Sklaven-Hacienda.[129] Die Reisenden haben auf dieser Hacienda mehrfach übernachtet, wahrscheinlich in einer Art „Winterurlaub auf der Plantage“ zehn Tage (wie es für die Soziabilität der in Havanna oder Matanzas lebenden Plantagen- und Sklavenbesitzer gesagt, üblich war) im Februar 1801 und möglicherweise erneut im Jahr 1804. Dies zeigt sich in den wiederholten Erwähnungen von Río Blanco und von ihrem Besitzer Joaquín [Beltrán] de Santa Cruz y Cárdenas, Graf von Mopox und Jarúco[130], in allen Papieren von Humboldt. Humboldt und Bonpland verbrachten auch einige Zeit in San Antonio de los Baños und auf der bereits genannten Hacienda El Fondeadero, obwohl unklar bleibt, wie lange die Reisenden sich dort aufhielten. Humboldt selbst erwähnt einen Aufenthalt auf den Besitzungen des Marquis del Real Socorro (Antonio José Beitia y Castro), in Humboldts Zeiten einer der großen Modernisierer der Zuckerproduktion mit Sklaven, die sich auf dem Weg zur Second Slavery befand. [127] Hier hatte Humboldt mehrere Tage verbracht und war so in der Lage, Zuckerproduktion auf Kuba durch eine große Anzahl von Sklavinnen und Sklaven sowie ihr Leben persönlich zu beobachten. Vgl. Humboldt 1992, 8. Vgl. auch die z. Zt. beste Ausgabe des Kuba-Essays: „the beautiful Güines Valley“, in: Humboldt 2011, 25. Die französische Erstausgabe von Humboldts Essai politique sur l’île de Cuba erschien 1826 in zwei Bänden in Paris (Humboldt 1826). Hier und im Folgenden wird, wenn nicht anders angegeben, aus der deutschen, gekürzten Übersetzung zitiert (Humboldt 1992).[128] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[129] Zur Rolle der Jesuiten als Modernisierungs- und Sklavereiorden vgl.: García Rodríguez 2000; García Rodríguez 2007; Humboldt in Honda eine weitere „Cacao-Plantage der Jesuiten“, die „Hac[ienda] de la Aegyptiaca“, vgl.: Humboldt, „Kapitel 2: Auf dem Río Magdalena. Flußfahrt auf dem Río Magdalena von Barranca Nueva bis Honda (19.4.–15.6.1801)“, in: Humboldt 2003, 65–84, hier 84. Auch an dieser Stelle klagt Humboldt: „Empörend schien es mir, wie der unmoralische Derieux [Louis [de] Rieux, der Eigentümer der Hacienda – MZ] (derselbe, den man revolutionärer Gesinnungen wegen jahrelang eingekerkert, derselbe, der damals von Sklavenfreiheit sprach, und so lange es ihm nützlich war, den franz[ösischen] Bürger spielte) die Neger der Aegyptiaca kaltblütig auf das Knie vor sich niederfallen ließ. Elendes Menschengesindel, die ihr in Europa die Philosophen spielt“, in: Ebd.[130] Cornide, María Teresa, „Los condes de Jaruco y de Mopox“, in: Cornide 2003, 114–119.

60Humboldt besuchte nur zwei Städte auf Kuba, Havanna und Trinidad – und letztere für nur zwei Tage. Und er machte Reisen ins Innere – für seine Bekannten aus der Zuckeroligarchie Erholungsreisen; für ihn und Bonpland Mess- und Wissensreisen; eben „Wissenschaft aus der Bewegung“ (Ottmar Ette). Mit seiner enormen Fähigkeit, Landschaften zu beobachten, zu analysieren, zu beschreiben, zu ästhetisieren und sie unter Einbeziehung von Böden, Wasser, Luft, Klima, Strukturen, Pflanzen, Tieren und Menschen zu „Figuren des Wissens“[131] zu machen, beschreibt Humboldt nach diesen Er-Fahrungen das Gebiet (die zwei Plantagenregionen oder -plattformen) des Zuckers, der Haciendas und der Massensklaverei: „die Insel Cuba oder vielmehr die 100 Quadratleguas, welche zwischen Havana, Matanzas und Batabanó, wie dicht um Trinidad ... mit Zuckerrohr bepflanzt sind“[132]. Es handelt sich um das weitere Umfeld Havannas (auch im Westen bis Bahía Honda und Mariel) und Matanzas‘, mit einem sich nach Süden verengenden Streifen Land entlang des Weges von Havanna nach Batabanó an der Südküste sowie um das Tal des Río Ay bei Trinidad (heute „Valle de los Ingenios“ genannt[133]). Schon Humboldt ist die relative Kompaktheit der ersten dieser Plantagenplattformen auf Kuba aufgefallen, die später, im Rahmen des Second Slavery-Ansatzes, als Cuba grande („großes Kuba“) bezeichnet werden wird.[134] Cuba grande bedeutet die Landschafts- und Sozialformation der Exportproduktion mit Massensklaverei und Plantagen; das Gegenstück ist die Cuba pequeña („kleines Kuba“) der freien Bauerngüter, die weit kleiner sind als Plantagen und weniger profitabel, deren Produktion aber viel mehr Menschen und lokale Märkte versorgt. [131] Kraft, Tobias, „Essai II: Essai politique sur l’ île de Cuba (1826)“, in: Kraft 2014, 279–307.[132] Humboldt, „Kapitel 3: In Bogotá. Reise von Honda nach Bogotá (23.6.–8.7.1801)“, in: Humboldt 2003, 85–93, hier 87.[133] García Álvarez, Rolando, „De la villa al valle de los Ingenios“, in: García Álvarez 1992, 1–7.[134] Zur räumlichen Entwicklung 1827, 1846 und 1862, vgl.:„Principal sugar-producing regions, with share of national production“, in: Curry-Machado 2011, 10; Karte „Cuba grande“, in: Zeuske 2016, 260.

61Nicht von ungefähr trägt das Standardwerk der kubanischen Historiografie von Manuel Moreno Fraginals den Titel El Ingenio.[135] Sklavenmanufakturen der Zuckerwirtschaft oder Ingenios stellten den kapitalistischen und strukturellen Kern der Cuba grande im Rahmen der Second Slavery dar. Mit ihnen erreichten die manufakturelle Zuckerindustrie (bis um 1840) und die industrielle Zuckerproduktion im Sklavereiregime (1840–1886) die Perfektion. Esteban Pichardo definiert Ingenio folgendermaßen: [135] Moreno Fraginals 1978.

„Hacienda de campo de más terreno que el Cafetal y otras menores, destinada al cultivo de la Caña y elaboración de la azúcar. Es la clase de finca de más consideración por sus costos, productos, fábricas, número de brazos etc., por los ramos que abraza con establecimientos diversos, alambique, tejar, potrero, hospital o enfermería, capilla u oratorio en algunos, carpintería etc., un pequeño pueblo, de donde salen el azúcar, miel, aguardiente, obras de alfarería etc. Los Ingenios de órden inferior carecen de algunas de estas cosa y los mui reducidos que solo producen Melado y Raspadura, se nombran Trapiches; aunque este vocablo tambien se aplica a la máquina con que se muele la Caña. Véase Finca“.[136][136] Pichardo y Tabia 1862, 142f.

62 Die Besitzer nannten ihre Ingenios auch manchmal Haciendas oder Fincas – es waren aber Ingenios, die nicht mehr viel mit den traditionellen haciendas ganaderas (hatos) sowie den kolonial-feudalen Haciendas des kontinentalen Iberoamerikas (mit Ausnahme der oben beschriebenen Haciendas/Plantagen in Venezuela) zu tun hatten. Während im kontinentalen Spanisch-Amerika und in den oligarchischen Republiken des zukünftigen Lateinamerika die großen Landbesitze (Haciendas, Hatos, Latifundios) bis weit in das 20. Jahrhundert ungetrennt (unsepariert und meist auch unvermessen sowie ohne Kataster) blieben, war eine Gruppe von Männern vor allem aus der Oligarchie von Havanna im 18. Jahrhundert und am Beginn des 19. Jahrhunderts so reich geworden, dass sie ihre Miterben in den oligarchischen Familien auszahlen und Teile der Haciendas durch Geodäten (Landvermesser) vermessen sowie separieren lassen und durch massive Investitionen in Ingenios umwandeln konnten.[137] Grundlagen waren drei: juristische Sicherheit des Bodens (informelles oder formelles, ab 1819 kapitalistisches Eigentum), freier Zugang zur Atlantisierung und damit zum wichtigsten Anlage-Kapital, den versklavten Menschen, sowie Infrastrukturen, die Boden und Menschenkapital miteinander verbanden und den Abtransportes der Produkte – Kaffee, Zucker, Kakao, Tabak, Baumwolle, Indigo – ermöglichten, kurz gesagt: Freihandel. Dazu kam das Wissen der Landvermesser. Der zeitgenössische Begriff, der diese Grundvoraussetzungen erfasste, war fomento (etwa: Ankurbelung, Unterstützung, Anlage). Es ist charakteristisch für den iberischen Kolonialismus, dass die lokalen Eliten in ihrem informellen Agieren (Schmuggel, Sklavenschmuggel, Kauf, Verkauf und Separierung von Landstücken) diese Grundlagen schon lange vor den eigentlichen „bourbonischen Reformen“ (die für Kuba als ein langer Prozess, im Kern von 1763–1825, zu verstehen sind) zu schaffen begannen. Vor allem dort, wo sie über Häfen Zugang zur Atlantisierung hattenm, entweder via Freihandel mit menschlichen Körpern (1789–1820), Schmuggel von Sklaven oder illegalen Menschenhandel über den Atlantik (hidden Atlantic).[137] Balboa/Funes 2001; vgl. auch: García Rodríguez 2007, passim.

63Das industrielle Zentrum der modernen Ingenios bildete die Zuckerrohr-Mühle im Zentrum der Plantage (batey), oft noch traditionellerweise trapiche genannt. Die reichsten und erfolgreichsten Hacendados verwandten immer die neuesten Technologien im Mühlenkomplex ihrer Bateyes und die effizientesten Formen der Arbeitsorganisation im Zusammenspiel zwischen Technik, Technologie und lebendiger Arbeit.[138] [138] Cabrera Salcedo 2006; Curry-Machado 2011, passim; vgl. auch: Rood, Daniel, „Plantation Laboratories. Industrial Experiments in the Cuban Sugar Mill, 1830–1860“, in: Tomich 2015, 157–184.

64Humboldt zitiert neben seinen Analysen der Demographie sowie der Landschaftsstrukturen auch die Rede von der „Humanität unserer Gesetzgebung“ in Bezug auf die Behandlung der Versklavten auf Kuba und bezeichnet dessen geistigen Vater „d’Arango“ (Francisco de Arango y Parreño) als „edel und würdig“[139]. Das ist Don Pancho wohl gewesen, vor allem war er sehr klug und sprach in Bezug auf die Notwendigkeit der Sklaverei für die kreolische Oberschicht Kubas meist unmissverständlich Klartext. Ansonsten besaß er eine Obsession für Zahlen und Zensus, die er allerdings meist als Herrschaftswissen ansah und nicht publizierte (und sogar Humboldt täuschte – siehe unten). [139] Humboldt 1992, 164; vgl. auch: Tomich 2003, 4–28.

65Alexander Humboldt vollzog aus Sicht der in Europa entstehenden globalen Reform-Wissenschaften zwischen 1800 und 1826 eine „statistische Entdeckung“ der Insel in seinem Essay über Kuba, obwohl die lokalen Informationsquellen, die er benutzte, zu diesem Zeitpunkt schon veraltet waren.[140] Besonders wichtig war Humboldt die neue „Verortung der Orte“ auf Kuba in der angehängten Karte (und Kubas selbst). Wissen, wo sich etwas im Raum befindet und um wieviel Menschen es sich handelt (und warum), sind Grundlagen jeder wissenschaftlichen Politik und jedes Herrschaftswissens (Gouvernamentalität).[140] Hierbei handelte es sich etwa um Manuskripte von Antonio del Valle Hernández und Antonio López Gómez sowie Alejandro Ramírez, Dokumente und statistische Informationen, die aus Kuba 1814 an die Cortes von Cádiz geschickt worden waren sowie die Resultate des Zensus von 1817 für die Jurisdicción de La Habana, die 1822 im Guía de Forasteros publiziert worden waren. Zu allen Materialien, Handschriften und Dokumenten (u.a. eine Handabschrift der „Sucinta noticia“ von Antonio del Valle Hernández) in der Biblioteka Jagiellońska Kraków, Oddział Rękopisów, Al. v. Humboldt Nachlaß 3, vgl.: Zeuske 2009, 245–260; vgl. auch: Zeuske, „‚Geschichtsschreiber von Amerika‘ (II): Quellen von Humboldts Essai politique über Kuba“ (unpubliziertes Manuskript); Nadal 1988; vgl. auch: Archivo General de Indias, Sevilla (AGI), AGI 1808 (dahinter handschriftliches Original von Arango oder del Valle Hernández).

66Humboldt tat in Bezug auf die Behandlung der Sklavinnen und Sklaven zunächst nichts weiter, als einen zu dieser Zeit weitverbreiteten Entschuldigungstopos der kreolischen Oligarchien geschickt aufzunehmen, der allerdings auf dem procedere der sog. „patriarchalischen Sklaverei“ beruhte und mit den Realitäten der ruralen Massensklaverei nichts mehr zu tun hatte („In keinem Teil der Welt, wo Sklaverei angetroffen wird, sind die Freilassungen so häufig wie auf der Insel Cuba.“).[141] Diese Rede hatte er in seinen Gesprächen „an Ort und Stelle“ mit den Spitzen der lokalen Elite immer wieder gehört. Seine Kritik bringt er trotzdem ebenso unmissverständlich an: [141] Humboldt 1992, 77f., 163–165; heute ist klar, dass die Sklaverei im Zucker die höchsten Todesraten unter Versklavten nach sich zog: Tadman 2000.

„Der Weisheit und Milde dieser spanischen Gesetzgebung ungeachtet bleibt der Sklave in der Einsamkeit einer Pflanzung oder eines Pachthofes den größten Mißhandlungen preisgegeben, wenn auf demselben ein roher capataz [142], mit einem Buschmesser (machete) und einer Geißel, unbeschränkte Gewalt und Herrschaft übt! Gesetzlich ist weder eine Grenze für die Bestrafung des Sklaven noch die Dauer seiner Arbeitszeit bestimmt; ebenso wenig finden sich die Beschaffenheit und Menge der ihm zu gewährenden Nahrungsmittel vorgeschrieben“.[143][142] In Humboldt 1992 werden diese wichtigen Begriffe nicht übersetzt bzw. erläutert. Zur Funktion des capataz oder contramayoral, das heißt, die direkten Aufseher und Antreiber der Sklaven-„Gangs“ bei der Feldarbeit (die immer Sklaven waren), vgl.: García Rodríguez 1996, 7–57, hier 30–34.[143] Die Anmerkungen Humboldts sind in Humboldt 1992 mit Sternchen gekennzeichnet (*). Die Anmerkung ** würde ich anders lösen (Humboldt 1992, 163). Sie nimmt Bezug auf „Eine königliche Verordnung vom 31. Mai 1789“, die versucht hatte, all dies zu regeln. Sie ist, wie Humboldt schreibt „niemals vollzogen worden“. Ibid. Dabei handelt es sich um die „Real Instrucción de Su Magestad sobre Educación, Trato y Ocupaciones de los Esclavos [...] (bekannt als „Código Negro Español“, 1789), in: „R. Instrucción sobre educación, trato y ocupación de los esclavos“, Aranjuez, 31 de mayo de 1789“, in: Konetzke 1959, 643–652 (Dok. Nr. 308); Lucena Salmoral 1995. Diese Instrucción hatte die Krone etwa zeitgleich zur Entmonopolisierung des Sklavenhandels (1789) verfügt, übrigens unter tatkräftiger Einflussnahme von Arango. Sinn beider Veranstaltungen war es, die Massensklaverei zu fördern, aber sie gleichzeitig einheitlichen, zentral gesetzten Regeln im Sinne langfristiger Stabilität (der Sklaverei) zu unterwerfen. Die Hacendados lehnten dieses Eingriff in den Rechtsraum Plantage vehement ab, vgl. den Protest der Hacendados von Havannna: Marrero 1972, Bd. IX (Azúcar, Ilustración y Conciencia (1763–1868) (II), Madrid: Editorial Playor, S.A., 1975, 220–225. Zum Protest der Nobilität von Caracas gegen den Código (und die wichtigsten Argumente) vgl.: Quintero 2007, 209–232, vor allem 215f.

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68Humboldt erwähnt am Schluss der Überfahrt von Kuba nach Cartagena, auf der Insel Barú (im heutigen Kolumbien, heute Ausflugsstrand von Cartagena), auch eine spezielle Form des Sklaven-Widerstandes (cimarronaje marítima) und die Reaktionen darauf:

„Wir sahen einen Neger aus dem Gebüsch hervortreten. Näher betrachtet sahen wir in ihm einen feisten [körperlich gut gebauten – MZ] jungen Neger, ganz, ganz nackt, Schultern, Gürtel und Füße mit Ketten beladen, einen Köcher mit Pfeilen auf der Schulter und ein machete (Messer) in der Hand … Es war eine Bande entlaufener Negersklaven, cimarrones, welche Liebe zur Freiheit und gerechter Haß der Weißen zu allem fähig macht […] Welch kannibalische Lust hatten alle Matrosen, selbst der Koch, ein französ[ischer] Neger, die Unglücklichen einzufangen oder ihnen wenigsten ein Dutzend Kugeln in den Leib zu jagen. Man schätzte, wieviel ein solcher Neger im Verkauf werth sei“.[144][144] Humboldt, „Kapitel 1: Von Cuba nach Cartagena. Überfahrt von Cuba nach Cartagena (9.–30.3.1801), in: Humboldt 2003, 41–63, hier 55.

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F) Die Reise durch das kontinentale Spanisch-Amerika 1801–1804

70Auf der Reise von Cartagena de Indias durch das kontinentale Spanisch-Amerika (Vizekönigreiche Neu-Granada und Perú) sah Humboldt vor allem Sklaverei- und Zwangsarbeitsformen von Indigenen.[145] Sie stehen hier nicht im Fokus. Haussklaverei, urbane Sklavereien und Sklavenhandel von Verschleppten aus Afrika, die es auf der Route in den meisten Städte Spanisch-Amerikas gab, sind von Humboldt nicht oder kaum reflektiert worden, mit Ausnahme des offensichtlichen Sklavenhandels in und durch Antioquia (heute: Medellín) in Neugranada (siehe unten).[146] Die Reiseroute Humboldts von Cartagena nach El Callao/Lima war auch eine wichtige Sklavenhandelsroute (auch die von Buenos Aires nach Oberperu - heute Bolivien -, z.T. über Chile), auch wenn die negreros (Sklavenhändler) den Transport der menschlichen Körper, wenn möglich, über Schiffstransporte (Route: Cartagena/Panamá–Guayaquil–El Callao/Lima) zu organisieren suchten. Sicher ist, dass in allen größeren Städten Spanisch-Amerikas Sklavenhandel mit Versklavten aus Afrika, oft auch illegaler Handel mit Indigenen, alltäglich waren. Haus-, Transport-, Infrastrukturbau- und Staatssklaverei von Versklavten aus Afrika und ihren Nachkommen waren ebenso alltäglich.[147] Sie waren so alltäglich, dass es Humboldt für werthielt, fest zu halten, wenn es nicht so war: „Le Mexique est la ville des Indes où il y a le moins de Nègres. On peut aller un mois dans les rues san voir à peine deux à trois. Aucune maison n’y est servie par les esclaves“.[148] Über die Bevölkerung Limas, der Hauptstadt des Vizekönigreiche Perú hatte er vergleichend zur eben erwähnten Alltäglichkeit geschrieben: „Pour Lima … Il n’y a presque pas d’Indiens. Le bas peuple es mulâtre ou nègre de race africaine“.[149][145] Escobar Ohmstede 2014; Reséndez 2016, 131–135; eine Mischform stellte wohl der Chocó dar, wo Humboldt auch „Indianer als Sklaven“ erwähnt, die zum Carguero-Dienst gezwungen sind, vgl.: Humboldt, „Reise über den Quindío-Paß (5.10.1801)“, in: Humboldt 2003, 131–137, hier 134.[146] Humboldt, „Kapitel 4: Von Bogotá nach Quito“, in: Humboldt 2003, 119–168, hier 139.[147] Adelman, „Capitalism and Slavery on Imperial Hinterlands“, in: Adelman 2006, 56–100; Pérez Guzmán 1990; Jennings 2005. [148] Humboldt, „Aufenthalt in Mexico-Stadt (12.4.1803–20.1.1804)“, in: Humboldt 2003, 322–389, hier 326.[149] Ebd., 323; vgl. auch: Busto Duthurburu, José Antonio del, „El negro de la ciudad“, in: Busto Duthurburu 2001, 40–43.

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72Die Hauptstellen zu einer Gesamteinschätzung der Sklaverei finden sich unter der Rubrik „In Bogotá“ und in Humboldts Notizen auf der Seereise von Guayaquil nach Acapulco.[150] Humboldt schreibt, als ob er wüsste, dass er dereinst in Fernand Braudel „wiedergeboren“ werden würde und vergleicht den Zuckerrohranbau im Valle de las Guaduas (Neu-Granada) mit dem Kubas. Humboldt entdeckte sein „kleines Kuba“ in Neu-Granada.[151] Im Sinne des Physiokratismus präferiert er die Zuckerproduktion mit „freien Bauern“ auf kleinen Landstücken statt Massenproduktion mit verschleppten Afrikanern; er debattiert vergleichend die Struktur-, Technik, Technologievorzüge der jeweiligen Produktion (Sklaven/Freie) und setzt diese mit Land/Besitzgrößen sowie mit betriebswirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen und politischen Kriterien ins Verhältnis. Zudem war Humboldt Evolutionist, manchmal auch interkultureller Diffusionist, und präferierte die vergleichende Methode.[150] Humboldt, „Esclavage/ Sklaverei“, in: Humboldt 1982, 249–254 (Dok. 168); die Textstelle findet sich nicht in Humboldt 2003; Humboldt hatte offensichtlich auf die Abolition des Sklavenhandels bei den Verhandlungen zum Friedensvertrag von Amiens (1802/1803) gehofft.[151] Humboldt, „Kapitel 3: In Bogotá. Reise von Honda nach Bogotá (23.6.–8.7.1801)“, in: Humboldt 2003, 85–93, hier 87 (vgl. aber zur Abhängigkeit der „freien Bauern“, Ebd., 86).

73 Eine Besonderheit in Bezug auf die Sklaverei verschleppter Menschen aus Afrika legt Humboldt mittels seiner Beobachtungen über Sklaverei im Goldabbau (Waschgold), in gewissem Sinne Bergbausklaverei dar. Metallbergbau hatte Humboldt vorher nur in der Kupfermine von Aroa in der Provinz Caracas kennengelernt. Als Bergbauspezialist äußerte er sich dort auch (abfällig) über „wilde“ Goldsuche und -wäsche.[152] Die Kupfermine gehörte de iure der Bolívar-Familie (und Simón Bolivar ab 1811[153]), wurde aber von dieser wegen technischer Schwierigkeiten und mangelndem Ertrag nicht betrieben. Stillschweigend hatten andere Unternehmer aus der Gruppe der „Weißen“ (blancos), darunter eine „Biscainerin mit 30 Sklaven“[154] Abbau und Verarbeitung des Kupfers organisiert.[152] Humboldt, „Aufenthalt in Caracas (22. 11. 1799–7. 2.1800)“, in: Humboldt 2000, 173–184, hier 175; vgl. auch „Aroa“, in: Humboldt, „Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello (8.2. – 5.3.1800)“, in: Ebd., 185–222, hier 193–194, vgl. auch: Ebd., S. 200–202.[153] Zeuske, „Das Vermögen der Bolívars“, in: Zeuske 2011, 72–86.[154] Humboldt, „Von Caracas an den See von Valencia und nach Puerto Cabello (8.2..–5.3.1800)“, in: Humboldt 2000, 185–222, hier 193.

74 Speziell in Cartago und in Popayán im heutigen Kolumbien beschreibt Humboldt eine Sklavereiform mit quasi autonomen Versklavten im Goldbergbau des Chocó (früher Provinzen Cauca und Popayán):

„Der Bergbau wird im Chocó nicht eher aufblühen als bis man den Akkerbau und Viehzucht in so vortrefflichen, fruchtbaren, unsäglich nassen Thälern mehr vervollkommnet [bis heute nicht eingetreten – MZ]. Auch ist die Sklaverei hier deutlich dem bergbau nachtheilig. In vielen Minen kaufen die Mayordomos [Verwalter, Aufseher – MZ] mehr Goldstaub von den Sklaven ein, als diese dem Herrn selbst sammeln, d.h., diese Sklaven [er]arbeiten in den 1 ½ Tagen, die man ihnen [als freie Zeit – MZ] gönnt, mehr Gold als (in Sklavenartiger Faulheit) in 5 ½ Tagen der Zwangsarbeit … Dazu in Herbeiführung der Wasser, im Ausklauben, Waschen … Die Neger, ja nicht bloß im Lande geborene, sondern von der Afrikan[ischen] Küste introducirte, welche nie vorher Goldwäsche gesehen[155], sind hier die (bewunderten) Directoren des Bergbaus. Diese Neger, um ihren elenden Zustand etwas zu verbessern, suchen Goldminen wie Hunde die Trüffeln. Jeder Neger kennt 4–5 Punkte, in denen er für seine Rechnung samlet. Trägt diese, dem Sklaven gehörige Wäsche viel ein, so verkauft der Sklave dieselbe dem Herrn und so, wie in Deutschland die Eigenlöhnerzechen allen Bergbau beginnen, so hat hier jede große Mine (Goldwäsche) den Negern ihren Ursprung zu verdanken. Doch hat man auch Beispiele von Negersklaven, die durch selbsterfundene Minen sich nicht bloß Freiheit kaufen, sondern 60–70 Sklaven hinterlassen“.[156][155] Das ist falsch – vor allem von der afrikanischen „Goldküste“ nach Amerika Verschleppte waren oft Spezialisten im Goldwaschen.[156] Humboldt, „Cartago (Kolumbien), 13.–21. Oktober 1801“, in: Humboldt 1982, 248 (Dok. 166); die Textstelle findet sich nicht in: Humboldt, „Kapitel 4: Von Bogotá nach Quito“, in: Humboldt 2003, 119–168.

75 Humboldt beschreibt diese Form des Goldabbaus als eine spezielle Sklavereiform, die sehr viel Autonomie der Sklaven-cuadrillas (der Goldsucher und -wäscher) sowie einzelner Versklavter mit sich brachte und sich, wie im letzten Satz deutlich, im Übergang zu den freien mazamorreros (ehemalige Sklaven, oft durch Freikauf freie Goldprospektoren und -wäscher) befand.[157] Humboldt hat aber keine Illusionen über Sklavenhandel und Sklavenbehandlung (siehe auch oben): [157] Twinam 1982; Helg 1999; Helg, „Countryside“, in: Helg 2004, 42–79, hier 72f.

„Prov[inz] Antioquia treibt Sklavenhandel, schikt dort erzeugte [dort geborene kreolische Sklaven – MZ] nach Popayán, welche, des dortigen kälteren Klimas ungewohnt, entlaufen. Auch viele Flüchtlinge aus Chocó, wo man Sklaven wie Vieh behandelt, daher in Palacé [Ort bei Popayán – MZ] stets ein Palenque [Siedlung entflohener Sklaven – MZ]“.[158][158] Humboldt, „Popayán (Kolumbien), c. 9. bis 27. November 1801“, in: Humboldt 1982, 248 (Dok. 167), vgl. auch: Humboldt, „Kapitel 4: Von Bogotá nach Quito“, in: Humboldt 2003, 119–168, hier 139.

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77 Auf der Reise duch die großen Festlandkolonien Spanisch-Amerikas stellt Humboldt zuweilen regelrecht philosophisch-anthropologische Erwägungen über Sklaverei und Kolonialismus an, z.B., wenn er über die relativ geringe Bevölkerung Perus nachdenkt: „Die Sklaverei und, was noch schlimmer ist als die Sklaverei, dieser Geist der Bevormundung, in die falsches Mitleid den Indio gebracht hat“[159]: mit anderen Worten: Humboldt hält Kolonialideologie für schlimmer als direkte Sklaverei. [159] Humboldt, „Lima (Peru), 23. Oktober bis 24. Dezember 1801“, in: Humboldt 1982, 230–233, hier 232 (Dok. 155).

G) Cuba grande II. Das „Tagebuch Havanna 1804“

78Humboldt und Bonpland hielten sich, von Veracruz kommend, vom 19. März bis zum 29. April 1804 in Havanna auf. Über den zweiten Kuba-Aufenthalt war bisher noch weniger bekannt als über den ersten Kuba-Aufenthalt der beiden Reisenden.[160] Mit dem hier publizierten Tagebuch scheint nun das Gegenteil der Fall zu sein. Der Hauptgegenstand des „Tagebuches Havanna 1804“ in seinen in real time geschriebenen Partien sind die Zucker- und Sklavereiwirtschaft Kubas sowie die extremen Lebensbedingungen der Versklavten in Zusammenschau mit den „Antillen im Allgemeinen“ (heute würden wir sagen: den Kolonien anderer europäischer Mächte in der Karibik) und zu den USA. [160] Zeuske, „‚Geschichtsschreiber von Amerika‘: Alexander von Humboldt, Deutschland, Kuba und die Humboldteanisierung Lateinamerikas“, in: Zeuske 2001, 30–83; Vázquez Cienfuegos 2008.

79Die 1804 in Havanna geschriebenen Partien des „Tagebuchs Havanna 1804“ hat Humboldt unter dem empirischen und medialen Eindruck der siegreichen Revolution auf Saint-Domingue/Haiti (1791–1803) geschrieben, genauer gesagt unter dem Schock der Proklamation des unabhängigen Haiti am 1. Januar 1804.[161] Das betrifft vor allem die Tiefensondierungen zu den Kosten der Sklaverei, zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, zur Rechtsgeschichte und zur Demografie der Sklaverei sowie den Lebensumständen der Versklavten (diese Textpartien erscheinen in den Schriften Humboldts meist unter „Esclaves“). Das Motto des „Tagebuchs Havanna 1804“ könnte lauten – Analyse und Darlegung der langfristigen gesellschaftlichen „Kosten“ der Sklaverei unter dem Damoklesschwert von „blutiger Katastrophe“ einer Sklavenrevolution und die Konstrastierung dieser „Kosten“ mit den kurz- und mittelfristigen finanziellen Wert- und Kostenkalkulationen der Sklavenhalter. [161] „Liberté ou la Mort, armée indigène“ (4 Folios, handschriftlich : Unabhängigkeitproklamation des neuen Staates „haïty“ (f.1r); datiert: quartier Géneral de Gonaïves, 1. Januar 1804; unterschrieben: u.a. von Christophe und „Magloire Ambroise“, in: AGI 1804.

80Humboldt hat die nackten Informationen und Begriffe des „Tagebuchs Havanna 1804“ erst später in literarische Sentenzen gegossen, d.h. im Essai politique über Kuba – die „furchtbare Katastrophe von Santo Domingo [Saint Domingue, seit 1804 Haiti]“[162], den „große[n] Schiffbruch“[163], die „Rache der dienenden Bevölkerung“.[164] Im Grunde muss man vor diesem Humboldt den Hut ziehen, wenn man sich die Hysterie der Oligarchien vor Auge hält. Humboldt hat die literarischen Fassungen der harten Realität des Sklavereiregimes erst im räumlichen und zeitlichen Abstand formuliert. Im Text des Essai politique über Kuba finden sich aber auch Stellen, wo Humboldt die Leistungen ehemaliger Sklaven in ein sehr positives Licht stellt – vor allem in Bezug auf die Schaffung eines Staates.[165] So bezeichnet er „Haiti ... (das) Reich der Äthiopier“[166] als möglichen staatlichen Akteur, als Kern einer „Afrikanische(n) Konföderation der Freien Staaten der Antillen“.[167]. [162] Ebd., 64; vgl. auch: Zeuske/Munford 1991; Gaspar/Geggus 1997; Hernández Guerrero 1997; Knight 2000.[163] Humboldt 1992, 64.[164] Ebd., S. 159.[165] Die Furcht der Sklavenbesitzer vor eben diesen aktiven Farbigen (den Sklaven traute man – trotz Saint-Domingue! – politische Akteurschaft nicht so recht zu) unterstreicht der Antrag von Andrés de Zayas 1827 auf Verbot der Zirkulation des Essai Politique: „daß dieses Werk, unter vielen Aspekten sehr bewundernswert, ohne Zweifel aber ungewöhnlich gefährlich ist, wegen der Meinungen seines Autors über die Sklaverei und in erster Linie wegen des Bildes, das je wahrer, umso schrecklicher ist, den gentes de color [freie Farbige – M.Z.] ihre immense Kraft auf dieser Insel und ihr exzessives Übergewicht auf allen Antillen und an den Küsten des Kontinents zeigt...“, zit. nach: Expediente 1827.[166] Humboldt 1992, 81f. und Anmerkung.[167] Ebd., 64; auf Spanisch vgl. Humboldt 1998, 174: „confederación americana de los estados libres de las Antillas ...“ (diese Übersetzung von „confederation africaine“ geht wohl auf das Konto der Übersetzer oder des Übersetzers ins Spanische von 1827).

81Wie fast alle Eliten seiner Zeit – außer Arango und die Zeitungen Jamaikas – hat Humboldt sich mit Gesamtkommentaren zu diesem grundstürzenden Ereignis der Globalgeschichte in real time zurückgehalten (auch wenn das Wort „revolution“ im „Tagebuch Havanna 1804“ öfter als sonst vorkommt).[168] Ich habe es oben schon gesagt, wiederhole es aber hier gerne: Humboldt lehnte „Revolution“ als Mittel der Gesellschaftsveränderung ab, er war Feind des direkten Einsatzes von Gewalt gegen menschliche Körper „auf der Straße“, er war Feind des Jakobinismus und – das ist das Wichtigste hier – er lehnte die Revolutionspläne der Sklavereioligarchien zur „Schaffung einer weißen Republik“ (siehe oben zur „Bolívargruppe“) ab. Bis zur Proklamation des unabhängigen „Freistaates“ Haiti am 1. Januar 1804[169] glaubte kein Mensch aus den Sklaverei-Oligarchien Spanisch-Amerikas und der Karibik und keiner aus den Gruppen von Menschen, die sozial mit ihnen verkehrten – wie wir gesehen haben, auch Humboldt und Bonpland –, dass es zum Sieg der Armeen aus ehemaligen Sklaven und ehemaligen mulattischen Sklavenhaltern über die sieggewohnten Truppen Napoleons auf Saint-Domingue kommen könnte.[168] Geggus, David P., „Slavery, War, and Revolution in the Greater Caribbean, 1789–1815“, in: Gaspar/Geggus 1997,1–50; Geggus 2001; Geggus, „The Influence of the Haitian Revolution on Blacks in Latin America and the Caribbean“, in: Naro 2003, 38–59; Fischer 2004; Geggus, „The Caribbean in the Age of Revolution“, in: Armitage/Subramanyam 2010, 83–100; Geggus, „Slave rebellion during the Age of Revolution“, in: Klooster/Oostindie 2011, 23–56; Fischer, „Bolívar in Haiti: Republicanism in the Revolutionary Atlantic“, in: Calargé/Dalleo/Duno-Gottberg 2013, 25–53; Zeuske, „The French Revolution in Spanish America“, in: Forrest/Middell 2016, 77–96.[169] AGI 1804.

82Francisco de Arango war extra 1803 nach Saint-Domingue gereist, um sich selbst und der von ihm vertretenen Gruppe großer Hacendados, Kaufleute und Sklavenhalter des Real Consulado de la Habana ein Bild von der Situation einer Plantagenkolonie in Aufruhr zu machen. Es handelte sich nicht um irgendeine Plantagenkolonie, sondern sozusagen die Mutter aller Second Slaveries.[170] Auch Arango glaubte damals nicht an den Sieg der ehemals Versklavten – ganz im Gegenteil. Über den Terror der französischen, meist jakobinischen, Offiziere und Truppen hält Arango fest:[170] Gliech 2011.

„¿Qué suerte o destino tienen los negros que caen prisioneros? Todos mueren, y así sucedía desde los últimos tiempos del General Leclerc: lo más dulce para estos infelices es ser pasado por las armas, y todavía no es lo peor que espalda con espalda, y de dos en dos, sean arrojados al mar. Lo que me esatremece es haber oído de la boca del Jefe de Brigada Nerau, Comandante de la Guardia del General en Jefe, que la noche antes había echado a los perros una negra prisionera; y otra tarde, que en aquella mañana había sorprendido un destacamento de doce insurgentes, cuyo Jefe fue entregado a la tropa que lo pidió para sacarle, vivo, los ojos [Welches Geschick oder Schicksal haben die Neger, die gefangen genommen werden? Alle sterben und so geschieht es seit den Endzeiten des Generals Leclerc [der Anführer der Expedition, gestorben an Gelbfieber – M.Z.]. Der sanfteste Tod für jene Unglücklichen, ist es erschossen oder erschlagen zu werden und es ist noch nicht das Schlimmste, Rücken an Rücken und immer zwei zu zwei, ins Meer geworfen zu werden. Das was mich erschüttert, ist aus dem Mund des Chefs der Brigade Nerau, Kommandant der Wache des Generals en chef gehört zu haben, dass er in der Nacht zuvor eine gefangene Negerin den Hunden vorgeworfen habe und eine andere [Nachricht besagt], dass er an jenem Morgen eine Truppe von zwölf Aufständischen überrascht hatte, deren Anführer der [französischen] Truppe übergeben wurde, die um ihn gebeten hatte, um ihm, lebend, die Augen herauszureißen]“.[171][171] Arango y Parreño, „Comisión de Arango en Santo Domingo [1803]“, in: Arango y Parreño 1952, 344–383, hier 363; vgl. auch: Arango y Parreño, „Comisión de Arango en Santo Domingo“, in: Arango y Parreño 2005, Bd. I, 337–366.

83 Obwohl die Intellektuellen und Schreiber der Herrenkulturen der Karibik post festum etwas ganz anderes verbreiteten – dieser „weiße“ Terror der jakobinischen Offiziere war Zeitgenossen bekannt und wurde, trotz der lauen Proteste, etwa von Arango, als Mittel gegen aufständische „Neger“ generell für richtig befunden. Die Aufständischen reagierten ihrerseits mit Massakern an den Weißen. Der Bürgerkrieg auf der Sklaveninsel nahm extreme Formen an. Im Unterabschnitt (n.25), den ich den „Terror-Abschnitt“ des „Tagebuchs Havanna 1804“ nenne, reflektiert Humboldt all dies und lässt erkennen, dass er mit Arango gesprochen oder dessen Bericht (Comisión de Arango en Santo Domingo[172]), wahrscheinlich direkt vor Ort 1804, gelesen hat. Die wichtigste Aussage Humboldts ist: „Le Terrorisme regnait en 1803 aux Colonies“.[173] Dann spekuliert Humboldt über die Vorstellungen in Frankreich und in den Sklavenhaltergesellschaften, was mit den „Rebellen“, Humboldt „Nègres Guerriers (60000)“[174] passieren soll: alle töten oder verstümmeln; auch die gesammte Population ehemaliger Sklaven? Vor der Erschießung noch alle auspeitschen lassen? [172] Arango y Parreño, „Comisión de Arango en Santo Domingo [1803]“, in: Arango y Perreño 1952, Bd. I, 344–383.[173] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[174] Ebd.

84Die Spekulationen und Vorstellungen sind nicht so unrealistisch, wie man auf den ersten Blick denken mag. Arango schreibt in seinem Bericht über die Kommission von 1803 unter der Frage

„¿A qué número llegan éstos [los insurgentes – MZ]? ¿A cuál el de los negros pacíficos?: Borremos de nuestra idea semejante distinción. No hay que hablar ya de negros rebeldes y pacíficos. Exeptuando los poquísimos que hay en las villas al servicio doméstico de los blancos y dos compañías que están en Cul-de-Sac al mando del Jefe de Brigada Viet, todos los demás, incluso las hembras y los niños, son rebeldes obstinados“.[175][175] Arango y Parreño, „Comisión de Arango en Santo Domingo [1803]“, in: Arango y Perreño 1952, Bd. I, 344–383, hier S. 358f.

85 Auf Rebellion stand die Todesstrafe in den Gesetzen des Spanischen Imperiums (und aller anderen Imperien). Und auf dem Wiener Kongress gab es wohl Geheimverhandlungen mit den Ultraroyalisten Frankreichs, Haiti wieder zu erobern, die gesamte schwarze Bevölkerung zu „exterminieren“, d.h., im Grunde die „Rebellen“ Arangos auszurotten, und neue Versklavte aus Afrika in einen „neues, nicht mehr revolutionäres Saint-Domingue“ zu verschleppen; Großbritannien sollte dem Frankreich Louis des XVIII. für 5 Jahre frei Hand lassen.[176] Das wusste Alexander Humboldt möglicherweise von seinem Bruder Wilhelm. Humboldt hielt dazu fest (wir werden nie wirklich wissen, wann exakt) (n. 29): [176] Pestel 2017.

„On dit que Domingue etait florissant et beau[.] Rien n’est beau que ce qui est moral. On dit que je ne l’ai pas vu[,] que je ne connais pas les Nègres par ce que je n’ai jamais eu des esclaves. Faut[-]il avoir vu voler ou assassiner pour savoir s’il est permis de la faire[?]“.[177][177] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).

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87Im gleichen Jahr 1803 und besonders 1804 kamen deshalb große Wellen von Emigranten aus Saint Domingue in Santiago de Cuba, Baracoa und an den Küsten des Oriente, aber auch in Havanna, Matanzas und im Westen Kubas sowie anderen Gegenden der iberischen Kolonialreiche in den Amerikas an.[178] Das scheint Humboldt, als in er in Havanna war, nicht aufgefallen zu sein; es kann aber auch sein, dass die ersten Wellen der Flüchtlinge vor allem im Osten Kubas blieben.[179] Wie die empirischen, d.h. hier für Seereisende fühl- und erlebbaren Veränderungen durch die Revolution von Saint-Domingue auf dem Meer aussahen, zeigt ein kaum beachteter Kommentar Humboldts auf der Seereise von Havanna nach Philadelphia 1804: [178] Ferrer 2014; Ferrer 2012, 40–66.[179] Scott/Hébrard 2012 (vor allem Kapitel 3: Scott; Hébrard, „Citizen Rosalie“, in: Ebd., 49–64).

„Depuis le 2–13 mai … La 2 à 8h nous vîmes une petite golette, qui paraissant corsaire, elle venait droite sur nous. Nos gens frémissaient en voyant qu’elle était toute remplie de Nègres. On crut que c’étaient des Africains de S[aint] Domingue dont a souffert déjà des cruautés en pleine mer despuis quelques mois … [mais] l’on vit que c’étaient des Nègres paisibles vraisemblablement employés dans le commerce de contrebande“.[180][180] Humboldt, „Seereise von Havanna nach Philadelphia (29.4.–20.5.1804)“, in: Humboldt 2003, 394–402, hier 396.

88 Aber nicht nur Schmuggel wurde von „Negern aus Saint-Domingue“ betrieben, auch Kreuzer des freien Haiti verfolgten den karibischen Sklavenschmuggel.[181][181] Tornero Tinajero 1996, 89–99.

89Auf jeden Fall muss festgehalten werden: nach dem Sieg gegen die französische Intervention 1802–1803 kam es zu einem im Grunde noch kaum untersuchten Diskurs- und Visualisierungswandel in Bezug auf den neuen Staat Haiti.[182] Das von Sklavenbesitzern, Negreros, Pflanzern und Intellektuellen (wie Arango) konstruierte Bild von „Haiti“ als einer atlantischen Furchtikone entstand. Diese Furchtikone ist recht eigentlich aus den Bildern von 1804/1805 konstruiert.[183] Dazu kamen eine Reihe von Unterikonen (wie das Zerrbild von Henri Christophe[184]). Mit ihnen wurde Rassismus abrufbar. [182] Rainsford 1805; Childs, Matt D., „‚A Black French General Arrived to Conquer the Island‘. Images of the Haitian Revolution in Cuba’s 1812 Aponte Rebellion“, in: Geggus 2001, 135–156; Bénot 2003; Gómez 2013.[183] Gómez 2013.[184] Fernández Martínez 2004.

90Die Oligarchien Havannas und die anderer Sklaverei-Gebiete befanden sich Anfang 1804 in einer doppelten Schockstarre. Die erste datiert auf die Jahre 1795–1797 als deutlich geworden war, dass die Truppen Toussaints in der Sklavenrevolution gesiegt hatten. Humboldt legt die Ergebnisse der ersten Schock- und Furchtwelle unter „Esclaves“ (n.15b) dar[185]. Andererseits fürchteten sie um die Zukunft der Cuba grande – und befanden sich in Debatten um die Wirtschaftlichkeit der Massensklaverei unter dem Eindruck und den realen Auswirkungen der Sklavenrevolution und des Sieges gegen die französische Intervention auf der Nachbarinsel. Sicherlich auch deshalb schreibt Humboldt über den zweiten Kuba-Aufenthalt: „Nous partîmes le 29 avril 1804, tous très peu contents de notre second séjour de la Havane“.[186] [185] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922). Humboldt reflektiert hier die Debatte in der Junta económica des Real Consulado zwischen den Befürwortern einer „weißen Emigration“ vor allem von den Kanarischen Inseln (Generalkapitän Las Casas), der Steigerung der Einfuhr schwarzer Sklaven (Arango) und der Einführung von mexikanischen und yukatekischen Indianern (Marqués de Casa Peñalver), die unter Bedingungen der Zwangsarbeit zum Einsatz kommen sollten. Insgesamt einigte man sich auf die Linie von Arango und es erging ein Verbot des Ankaufs von negros franceses (Versklavte aus französischen Kolonien – angesichts der Schmuggels ein frommer Wunsch); vgl.: Naranjo Orovio, „Humboldt en Cuba: reformismo y abolición“, in: Puig-Samper 2000, 183–201, hier 188; Alexander von Humboldt erwähnt diese Junta económica in seinem Essay über Kuba in dem Kapitel gegen die Sklaverei, vgl.: Humboldt 1992, 163; die Dokumente finden sich in: ANC 1795.[186] Humboldt, „Seereise von Havanna nach Philadelphia (29.4.–20.5. 1804)“, in: Humboldt 2003, 394–402, hier 394f.

91 In einer Globalgeschichte des Wissens sind Humboldts Texte, zunächst die publizierten Arbeiten, seit den 1980er Jahren auch (wieder) die Tagebücher und andere Originaltexte immer konstitutiv gewesen und werden es mit dem Akademienvorhaben zur Edition der Humboldt’schen Reisemanuskripte auch in Zukunft sein.[187] Aus dem Titel des Manuskripts des Tagebuchs von 1804 „Isle de Cube. Antilles en général“ wird sehr deutlich, dass Humboldt den Vergleich und die Verräumlichung abstrakter Aussagen (Zahlen, Konzepte) privilegiert. [187] Ette 2009; Ette 2012.

92Der Original-Text des „Tagebuches Havanna 1804“, 37 Seiten, ist von Humboldt in ungleich umfangreiche Unterabschnitte geteilt worden, markiert mit Ordnungszahlen oder Zahlen in Klammern ((1.) oder (2)–(10) bzw. (n. 11)–(n. 13) oder einfach „n. 14“–„n. 38“).

93In erster Hinsicht erscheint das „Tagebuch Havanna 1804“ chaotisch, zumal Humboldt bei der Nummerierung der Unterabschnitte nicht ganz stringent war („n. 16“ ist doppelt, n. 30 fehlt) und Humboldt manchmal innerhalb eines Unterabschnittes auf einen anderen Unterabschnitt oder auf weitere Materialien verweist, die sich in der Biblioteka Jagiellońska in Kraków befinden.[188] [188] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922). Original in: Biblioteka Jagiellońska, Kraków, Oddział Rękopisów, Al. v. Humboldt Nachlaß 3/1, Blatt 127–149; vgl. die Auflistung und Bewertung dieser Materialien und Informationen in: Zeuske 2009, 245–260.

94Humboldt hat beim Schreiben der Original-Tagebücher – das sind die Texte, die er in real time, d.h. in diesem Falle in Havanna März–Mai 1804, verfasst hat – immer das geschrieben, was er gehört hatte, und das, was ihm in den Sinn kam. Als strikter Materialist folgt das, was Humboldt in den Sinn kam, meist der inhärenten Methode: erst die Grundlage, d.h., die Erdoberfläche (zum Teil mit geologischen Aussagen über den Unterboden), der Boden, die Landschaften, die die Erde unter den jeweiligen konkreten Bedingungen (Klima, Wasser, Regen, Wind, Unwetter) formt, die Pflanzen (meist unterteilt in Nahrungspflanzen und Exportpflanzen) und Tiere sowie Menschen (Bevölkerung, Demografie), die Betriebs- und Eigentumsformen (hacienda, hato, ingenio, Kleinbesitze) und deren lokale Maßeinheiten (wie caballería, cajas, arrobas, quintales, etc.) sowie oft auch rechtliche Regelungen – stets im Vergleich mit anderen Territorien, Bevölkerungen, Ländern, Wirtschaften. Oder er beginnt, wie in vorliegendem Tagebuch, mit der Produktion von Gütern, in diesem Falle mit Exportgütern (commodities), d.h., im konkreten Falle mit Zucker (aber auch Tabak und Kaffee[189]), der zentralen Ressource atlantischer Globalgeschichte 1500–1900, wahrscheinlich sogar der gesamten Globalgeschichte (inklusive China und Indien).[190] Humboldt hält richtig den Anbau von Kaffee unter Bedingungen der Second Slavery für „plus profitable“.[191] Die Produktion von ungerösteten Kaffeebohnen auf cafetales (Kaffeeplantagen mit Massensklaverei), dessen Export von 1815 bis 1830 einen Boom auf Kuba erlebte, stellte auf Kuba fast den des Zuckers in den Schatten, zumal auch im Land eine sehr hohe Nachfrage entstand.[192] Humboldt spricht in der Relation historique selbst von dem „ungeheuren Kaffeeverbrauch“ Europas seit 1815.[193][189] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[190] Fábregas García, Adela, „Del cultivo de la caña al establecimiento de las plantaciones“, in: Região Autónoma da Madeira 2000, 59–85; Mazumdar 2008; Curry-Machado, „Global Commodity“, in: Curry-Machado 2011, 2–5; Wendt 2013; vgl. auch für die atlantische Weltseite: Moore 2000; Tomich, „Commodity Frontiers, Spatial Economy and Technological Innovation in the Caribbean Sugar Industry, 1783–1878“, in: Leonard/Pretel 2015, 184–216.[191] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[192] Bergad 1990.[193] Humboldt, „Fünfzehntes Kapitel“, Humboldt 1991, 590–629, hier 600.

95Beim Manuskript von 1804 habe ich den Eindruck, dass Humboldt diesen Text bereits auf einer höheren Verarbeitungsstufe beginnt, nachdem er sich, wie wir gesehen haben, im Laufe der Amerikareise intensiv mit Sklaven, Sklavereien, Sklavenhandel und Sklavereiwirtschaften beschäftigt hatte und die jeweiligen Notate nach der oben genannten Methode in seinen Tagebüchern festgehalten hatte. Schon in den anderen Tagebüchern finden sich, oft an unerwarteten Stellen und Zusammenhängen, Reflexionen über die Themen „Sklaverei“ und „Sklaven“, die weit über das empirisch Gesehene und Gehörte hinausgehen.[194] [194] Hier ist, wie bereits gesagt, die Zusammenstellung der wichtigsten Textstellen durch Margot Faak immer noch sehr nützlich: „Die afroamerikanischen Sklaven“, in: Humboldt 1982, 244–264 (Dok. 164–184).

96Das Manuskript von 1804 beginnt in Unterabschnitt (1.) mit einer Erwähnung von Francisco de Arango y Parreño in Bezug auf Schätzungen der Zuckerproduktion in Kuba 1804 und in den Krisenjahren 1812–1814.[195] Mit der Erwähnung der Krisenjahre 1812–1814, d.h., der Endphase der napoleonischen Kriege und des Britisch-US-amerikanischen Krieges von 1812–1814 (in dem es u.a. um die Kontrolle des Sklavenhandelszentrums New Orleans im entstehenden Sklaverei-Süden der USA geht), ist auch gesagt, dass Humboldt einige Partien des „Tagebuchs Havanna 1804“ nicht schon in Havanna selbst geschrieben haben kann. Er hat diesen Text später intensiv bearbeitet mit Materialien und Informationen, die ihm zugeschickt oder überbracht worden waren.[196] Humboldt, getreu seines kameralistischen Blickes und seiner materialistischen Methode, beschäftigt sich zuerst mit den agrikulturellen Dimensionen des Zuckerpflanzenbaus, etwa mit der Art des Zuckerrohrs (n. 15: „rouge de la Guinée“, „Otaheiti“ oder „Creolia“ (criolla)[197]), mit Bodenqualitäten, Klima, Fruchtfolge oder speziellen Ertragsbedingungen des Zuckerrohrs. Er schließt diesen Punkt ab mit der Kernfrage der politischen Ökonomie der Sklaven-Plantagen-Wirtschaft: wieviel erwirtschaften effiziente (große) Ingenios insgesamt und wieviel kostet der Unterhalt eines Sklaven (zur Ernährung von Sklaven siehe unten)?[198] Als Beispiel für den größten Produktionsausstoß auf Kuba greift Humboldt unter (n.16) auf seine empirischen Erfahrungen vom ersten Kuba-Aufenthalt und seinen Besuchen der Plantagen des Marques de Arcos („Maques del Arcos (Rio blanco [del Norte]“[199]) zurück, der für seine Plantagen ein Kapital von 400000 Piaster (pesos de a ocho) investiert haben soll.[200] Es ist allerdings nicht ganz klar, welche Plantage bzw. Plantagen des Marqués Ignacio Peñalver y Peñalver (II Marqués del Arcos) Humboldt genau meint (Cañongo, El Tesorero bei San Antonio de los Baños oder El Progreso in Guamutas).[201] [195] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[196] Vgl. die Materialien in: Zeuske 2009, 245–260.[197] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[198] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[199] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[200] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[201] Cornide, „Los Marqueses de Arcos“, in: Cornide 2003, 267–269.

97Unterabschnitt (2) ist etwas morbid – Humboldt verbindet die Aussagen über „energie de Nègre“[202] auf der Flucht, d.h., das Problem der cimarronaje, mit den Methoden, geflohene Versklavte mittels Anzünden von Feldern (eine oft vor der eigentlichen Zuckerrohrernte (zafra) praktiziert Methode, um das vertrocknete Unkraut abzubrennen und die Saftkonzentration in den Rohrstängeln zu erhöhen), mit der Aussage über das „beau spectacle“[203] brennender und stark rauchender Zuckerrohrfelder bei Nacht. Unter (4) macht Humboldt eine wichtige Beobachtung unter dem Motto „La Culture a fait de grand [sic] progrès aux Isles“. Im Grunde handelt es sich um die makrostrukurelle und wirtschaftsdynamische Tatsache, dass rund um die Stadt Havanna um 1800 (heute Altstadt, Hafen und Teile des Vedado) bereits keine Zuckerrohrplantagen mehr existierten, weil Plantagen den Boden auslaugen und nach ca. 50–60 Jahren einfach räumlich an einen anderen Ort mit besserem und frischerem Boden, möglichst mit Wald für Bau- und Brennmaterial, verlegt werden mussten.[204] Der Boden um Havanna war zum Zeitpunkt des Besuches von Humboldt schon an kleinere Fincas und Potreros vergeben, auf denen oft freie Farbige oder ehemalige Sklaven Gemüse-, Früchte- und Nahrungsmittelproduktion betrieben; Humboldt interessierte sich besonders für Weizen (trigo), dessen Mehl aus Spanien als besonders hochwertiges und sogar elitäres Nahrungsmittel galt (auf Kuba: harina de Castilla).[205] Auf die „Mehl-Problematik“ geht Humboldt unter (n. 16) nochmals ein und thematisiert zugleich die in Havanna scharf geführte Debatte um preiswertere Mehle aus den USA (Delaware) sowie Mexiko (Ausfuhrhafen Veracruz)[206]; auch Schmuggel von Mehl aus Neu-Granada (Cundinamarca um Bogotá) war gang und gäbe.[202] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[203] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[204] Iglesias García, Fe, „La estructura agraria de la Habana, 1700–1775,“ in: Naranjo Orovio/Puig-Samper 1991, 91–112; Funes Monzote, „Geografía del azúcar y transformación de espacio habanero“, in: Funes Monzote 2004, 73–80; vgl. auch: Funes Monzote 2008, (Funes Monzote 2008a); Tomich; Funes Monzote, „Naturaleza, tecnologia y esclavitud en Cuba: Frontera azucarera y Revolución industrial, 1815–1870“, in: Piqueras 2009, 75–117; Tomich; Funes Monzote, „Fronteira Açucareira e Revolução Industrial em Cuba, 1815–1870“, in: Cunha 2010, 65–117.[205] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[206] Weizenmehl (harina) war ein extrem monopolisiertes spanisches Exportgut für die Kolonien, das vor allem der Kaufmannschaft von Madrid hohe Gewinne bescherte. Vgl. Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).

98Im Unterabschnitt (6) geht Humboldt auf die Sklavengesetzgebung ein, die bei den Spaniern „aussi confuse que celle de toutes les Nations“[207] sei. Das stimmt nur bedingt, denn die spanische Monarchie und Spanisch-Amerika hatten eine – im Gegensatz zu anderen Imperien – fast vorbildliche zentralstaatliche Gesetzgebung.[208] Das Problem war, dass die zentralen Eliten des Imperiums wegen der Stärke der lokalen Oligarchien und weil diese die grande peur vor der Sklavenrevolution geschickt manipulierten, neue zentrale Gesetze wie den bereits genannten Código Negro Español von 1789 nicht mehr durchsetzen konnten.[209] Der Código, der die Sklaverei ausbauen und die Sklaven besser kontrollieren sollte – im Interesse des Gesamtsystems und nicht in erster Linie im Interesse der lokalen Eliten –, war diesen ein Dorn im Auge; er war bekannt, aber nicht formal in Kraft.[210] Félix Varela (1788–1853) hat später dazu die passende Sentenz geäußert: „Die Gesetze verflüchtigen sich unglücklicherweise, sie schwächen sich ab und verschwinden sogar, während sie den immensen Ozean überqueren“.[211] Humboldt hat sich zum Unterschied zwischen wohlmeinenden Legislatoren und Gesetzestexten und den Schwierigkeiten der Exekution der Gesetze in Bezug auf die Behandlung und die Lebensumstände von Versklavten so geäußert: „der Geist, der die Gesetze macht, und jener, der sie vollzieht, haben nichts miteinander gemein“.[212][207] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[208] Zeuske, „Sklavereien und Recht im spanischen Imperium“, in: Zeuske 2013, 231–236.[209] „R. Instrucción sobre educación, trato y ocupación de los esclavos“, Aranjuez, 31 de mayo de 1789“, in: Konetzke 1959, 643–652 (Dok. Nr. 308); vgl. auch: Lucena Salmoral 1996.[210] Vgl.: Zeuske; Zeuske, Max, „Die Krise des imperialen Reformismus“, in: Zeuske/Zeuske 1998, 154–169.[211] „34. Primer proyecto cubano de abolición de la esclavitud [1821]“, in: Pichardo 1973, Bd. I, 267–275, hier 267; vgl. auch: 269–275 „Memorias que demuestra la necesidad de extinguir la esclavitud de los negros en la Isla de Cuba, atendiendo á los intereses de sus propietarios, por el Presbítero don Félix Varela, Diputado á Cortes“, Ebd.[212] Humboldt, „Achtes Kapitel“, in: Humboldt 1991, 364–390, hier 379.

99Humboldt bezieht sich hier auf die traditionellen Sklaven-Gesetze auf Kuba, die so genannten cuatro consuelos, wie es Francisco de Arango y Parreño formulierte. Als Befürworter der Sklaverei hatte dieser in apologetischer Absicht, aber vielleicht auch, um seine eigenen Skrupel zu besänftigen, für das späte 18. Jahrhundert von „vier Hoffnungen“ (cuatro consuelos) für die kubanischen Sklaven im von den Siete Partidas Alfons X. herstammenden Gewohnheitsrecht gesprochen:

1001. Die Wahl eines neuen Herrn, wenn der alte zu hart oder grausam war [buscar amo; auch pedir oder buscar papeles];

1012. Heirat nach eigener Wahl;

1023. Die Möglichkeit, die eigene Freiheit mittels der sog. „Coartación“ durch Arbeitsabsprachen oder Geld (in Raten, wobei der Sklave oder die Sklavin nach Zahlung einer gewissen Summe auch mehr Rechte bekam) oder als Belohnung für gute Arbeit (Pflege, Dienerschaft etc.) mittels der sog. „Libertad“ oder „Manumisión“ zu bekommen, bzw. durch testamentarische Verfügung des Besitzers;

1034. Das Recht eines freien Schwarzen, die eigene Frau bzw. die Kinder für deren Kaufpreis freizukaufen.[213][213] Marrero 1972, Bd. XIII, 156; vgl. auch: Marrero, „La casta esclava: soporte hóstil del cuerpo social“, in: Marrero 1972, Bd. XIII, 182–234.

104 Dazu kam das traditionelle, hier nicht expressis verbis erwähnte Recht der Sklavinnen und Sklaven auf den „Sparpfennig“ (peculium), d.h., das Recht auf Eigentum. Was Arango nicht erwähnte, war die feine, aber wichtige Unterscheidung zwischen manumission und coartación – Manumission war eine vom Herren gewährte „Gnade“ und stand voll unter dessen Kontrolle; Coartación war ein von vor allem urbanen Sklaven (und vom Staat) erkämpftes Recht. Antonio Bachiller y Morales, ein Rechtsgelehrter, Kanoniker, Universitätsprofessor und Vielschreiber[214], der als Síndico Procurador Regidor des Ayuntamiento de la Habana etwa 4000 Fälle von Coartación in Sklavensachen bearbeitet hatte, hielt das „Recht“ auf Coartación mit der Sklaverei für unvereinbar. Er war eine der „personnes qui l’evalue“[215] und hatte zu entscheiden im Konflikt um den von den Herren manipulierten Kaufpreis oder um das Eigentum der Sklavinnen und Sklaven[216]. Auch Arango erwähnt nicht, dass weder das buscar amo noch das Recht auf Coartación in den Siete Partidas noch in den Leyes de Indias zu finden war. Es gab keine Rechtskontinuität.[217] Die Ewigkeit „unserer alten Rechte“, die Arango immer wieder betonte, war eine Fiktion, besser eine interessengeleitete Konstruktion, aber gut gemacht. Was es gab, war der Kampf der Sklaven um die Verbesserung ihres Status und der Kampf der Herren um die Erhaltung eines möglichst „rechtslosen“ Status ihrer Sklaven einerseits und andererseits um die Kontinuität von vorangegangenen Entscheidungen in Rechtsfällen, die als Beispielfälle in nachfolgenden Verhandlungen angerufen wurden, auch wenn das spanische Recht eher kein Fallrecht, sondern ein zentral vorgegebenes preskriptives Zivilrecht darstellte. Besonders schrecklich war das Leben der ruralen Sklaven, trotz der relativ gemäßigten Gesetzestexte, die Humboldt auch hervorhebt, gerade im Vergleich mit französischen und englischen Gesetzen.[218] Humboldt übertreibt die Positiva der spanischen Gesetzgebung etwas („Les loix espagnols [sic] sont partout en faveur de la Liberté“[219]). Er übersieht aber auch die Negativa nicht (n. 28. „Nègres“[220] und n. 34 „Esclaves cont. (n. 28)“: „marquer les Nègres au fer [–] operation qui surtout fait tressaillier de crainte les enfants de 10–15 ans“[221]). Zuweilen scheint er direkt gegen Annahmen Arangos zu argumentieren (n. 15): „on se fia beaucoup de la Religion catholique [was Arango selten als Argument benutzte – MZ], du grand nombre des blancs, de l’influence des Nègres libres“.[222][214] Bachiller verfasste u.a. das Werk: Bachiller y Morales 1887.[215] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[216] So zum Beispiel: Biblioteca Nacional de Cuba (BNC), BNC 1858; vgl. auch: Zeuske 2016a.[217] Fuente 2007.[218] Marrero, „El esclavo rural: una vida infernal entre la sevicia y la rebeldía deseperada“, in: Marrero 1972, Bd. XIII, 214–215.[219] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[220] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[221] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[222] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).

105Arango selbst hat die Wirksamkeit dieser „sanften“ Gesetze im Alter, 1832, sehr kritisch gesehen:

„Trabajan, en general, más de lo que deben. Se les castiga cruelmente. No se les alimenta, viste ni asiste en sus enfermedades, como corresponde. Se les permite, es verdad, tener peculio; pero no se les da tiempo proporcionado para cultivar su conuco, y cuidar sus animales. Pueden casarse; pero, considerados como bienes muebles, el amo, o su acreedor, puede separarlos del lado de su compañera e hijos y privarlos de los únicos consuelos de su miserable vida. – No se les da idea de la Religión, y ni tienen ese freno los bárbaros que los gobiernan, quedando impunes sus excesos en la soledad de los campos; porque la voz de aquellos infelices no puede llegar a los tribunales, por carecer de toda protección, y ni aun pueden ser testigos“.[223][223] Arango y Parreño, „Representación al Rey sobre la extinción del tráfico de negros y medios de mejorar la suerte de los esclavos coloniales“ (1832), in: Arango y Parreño 1952, Bd. II, 529–536, hier S. 533.

106

107Das Problem bestand darin, wie bereits gesagt, dass die lokalen Eliten, die mit den Plantagenprodukten – vor allem Zucker, Kaffee und Tabak, die heute neudeutsch commodities heißen würden – einen Wirtschaftsboom ausgelöst hatten, die zentralen Eingriffe in den Rechtsraum ihrer Plantagen ablehnten. Arango hatte das schon im Discurso von 1792 in der literarischen Form eines Wunsches sehr selbstbewusst formuliert: „Die natürliche Ordnung verlangte, dass die Besitzer der fruchtbarsten Böden die Gesetzgeber sein sollten [El orden natural pedía que los poseedores de los terrenos más fértiles, fuesen los legisladores].“[224] Naturrecht für Sklavenhalter und Gesetzgebung durch Unternehmer! Jeder, der Arangos Prioritätenkatalog für die Wirtschaftsförderung las, konnte erkennen, dass es sich um eine Feststellung und Forderung handelte. Als Gesetzgeber tätig geworden sind die Sklavenhalter dann bezüglich der Sklaverei vor allem in Gestalt der harschen Reglamentos de cimarrones[225], das heißt, pragmatischen Regelungen, wie Sklavenflucht und -widerstand einzudämmen und die Banden von Sklavenjägern (rancheadores) unter Kontrolle zu halten seien. Die Regelungen des Reglamento versuchten wenigsten, die Exzesse der Sklavenjäger (rancheadores) einzudämmen; Humboldt lobt es dafür: „Le noveau Reglement bienfaisant“.[226] Hat sich Humboldt von Arango manipulieren lassen? Das ist nicht das Hauptproblem, denn Arango, der sich auch nicht scheute, sich als „voz de toda la Isla“[227] und die Mitglieder des Real Consulado als „padres de toda la Isla“ zu bezeichnen, hat ja zugegeben, dass er alle etwas manipuliert hat mit falschen Informationen.[228] [224] Pichardo 1973, Bd. I, 170.[225] Arango y Parreño, „Informe que se presentó en 9 de junio de 1796 a la Junta de Gobierno del Real Consulado … Reglamento y Arancel de capturas de esclavos cimarrones …“, in: Arango y Parreño 1952, Bd. I, 256–274.[226] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922), Anmerkungen des Autors (Am linken Rand ergänzt), unten.[227] Arango y Parreño, „Discurso del Sr. Síndico del Consulado a su Junta de Gobierno en sesión de apertura celebrada el 10 de abril de 1795“, in: Arango y Parreño 1952, Bd. I, 240–242, hier 240 und S. 242.[228] Arango y Parreño, „Observaciones al „Ensayo político sobre la isla de Cuba“, escritas en 1827“, in: Arango y Parreño 1952, Bd. II, 432–444, hier 438f (observación „XXIV“).

108Da es aber um wissenschaftliche Reputation geht, ein kurzer Exkurs zu den „internen Daten“ der Plantagen und über die Mentalität der kreolischen Zuckerelite (bei Moreno Fraginals meist verbunden mit Begriffen wie „Lüge“ und „Täuschung“).[229] Moreno greift auf dieser Basis die „harten“ Datengrundlagen des Humboldt’schen Essais an. Er kann sie durchaus erschüttern. Es handelt sich vor allem um Zahlen über Produktionskosten und Gewinne.[230] Im Textbezug geht es um eine Anmerkung Humboldts zu den „Preisen des Kolonial-Zuckers in Europa“ im Essai politique. Für sie hatte Humboldt, nach eigenen Worten „eine sehr alte Berechnung von Don José Ignacio Echegoyen über die Fabrikationskosten des Zuckers“ herangezogen, „... die mir in Havanna mitgeteilt worden ist, [sie] rührt vom Jahr 1798“.[231] Der andere Textbezug im Essai Humboldts sind die Berechnungen über den Ertrag in Zucker pro Flächeneinheit Boden.[232] Ein weiteres sehr ernstes Thema ist das Problem der energetischen Basis der Zuckerherstellung, vor allem das Problem des Waldes, des [Brenn-]Holzes, seines Ersatzes durch Bagasse als Brennmaterial in den Zuckeröfen (ausgepresstes Rohr und getrocknete Zuckerrohrabfälle, Trester, Blätter o.ä.). Weiterhin findet Humboldt bei Moreno noch im Zusammenhang mit technologischen Verbesserungen der Zuckerproduktion selbst sowie ihrer Geräte und im Zusammenhang mit den Verkaufsusancen der Besitzer Erwähnung, vor allem in Bezug auf das Problem, sowohl den braunen als auch den raffinierten, weißen Zucker abzusetzen.[233] Alles Kernbereiche der Elitendebatte. Nach Moreno ist Humboldt dieser Argumentation zum Teil auf den Leim gegangen[234]; im „Tagebuch Havanna 1804“ vor allem nachzuvollziehen im Technologie-Unterabschnitt (n. 16)[235], wo es um den Wasser-Antrieb der Zuckerrohrmühlen in den Ingenios Amistad, La Nueva Holanda (Río Blanco del Sur) und La Ninfa (Eigentum von Arango) geht und um „les eaux dans un pays plat“.[236] [229] Moreno Fraginals 1978, Bd. I, 168; vgl. auch: Ouiroz, Alfonso W., „Corrupción y hacienda colonial en Cuba, 1800–1868“, in: Roldán de Montaúd 2008, 109–129.[230] Moreno Fraginals 1978, Bd. I, 168f. und 190.[231] Es handelt sich um eine Gewinnanalyse der Pflanzer, die Humboldt von José Ignacio Echegoyen bekommen hatte. Humboldt hielt in dieser Kostenanalyse die „Fabrikationskosten des Zuckers [für] etwas übertrieben“ und veraltet, benutzte sie aber trotzdem, weil er sonst nicht hatte (Humboldt 1992, 121–122, Anm. **). Moreno Fraginals schreibt dazu, dass es sich bei dem Dokument („Demonstración de José Ignacio Echegoyen sobre diezmos“) um eine von Arango geschriebene und von Echegoyen unter seinem eigenen Namen eingereichte, „nicht ganz richtige“ Analyse handelt, vgl.: Moreno Fraginals 1978, Bd. I, 168. Echegoyen war Zuckermeister auf dem Gut Arangos (La Ninfa) und genoss das volle Vertrauen seines Chefs (vgl.: Echegoyen, José Ignacio, Fabricación de Azúcar, Boston: Russell and Martin, 1827). Arango hat folgende Marginalie zu dieser Stelle in Humboldts Essai gemacht: „Diese Kostenanalyse (die nicht von dem ist, der sie unterschrieben hat) kann heute nicht mehr gelten; und deshalb muss ich eine Enthüllung machen, die ich vorher verborgen habe“ (Arango y Parreño, „Observaciones al „Ensayo político sobre la isla de Cuba“, escritas en 1827“, in: Arango y Parreño 1952, Bd. II, 432–444, hier 438f (observación „XXIV“); vgl. auch: Moreno Fraginals 1978, Bd. I, 168, FN 2). Moreno ist insgesamt der Meinung, dass die Pflanzer niemals gültige Zahlen publizierten, sondern immer nur „Lügen oder evidente Wahrheiten, die vorher schon allen anderen Zuckerherstellern bekannt waren“, vgl.: Moreno Fraginals, I, 168. [232] Humboldt 1992, 108–128. Humboldt bezieht sich auf seinen „Aufenthalt in den Ebenen von Güines 1804“ (108). Im Essai politique ist von einem Aufenthalt „von neuem“ (1804?) auf Río Blanco (La Nueva Holanda) die Rede, vgl.: Humboldt 1998, 318. [233] Moreno Fraginals 1978, Bd. I, 215. Inwieweit Moreno hier selbst der Elitenargumentation über die mangelnde Sorgfalt der Sklaven bei den technologisch komplizierten Partien der Produktion auf den Leim gegangen sein, sei dahingestellt; Moreno Fraginals 1978, Bd. I, 252.[234] Moreno Fraginals 1978, Bd. I, 200.[235] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922) (nicht die Dopplung von (n.16) über Theater in Havanna).[236] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922); zu den genannten Ingenios, vgl.: Valle Hernández, „Idea del num.o fuerzas, valor de los ingenios, y mejora que ha habido en ellos“, in: Valle Hernández 1977, 77–82, hier 79.

109Auf jeden Fall schwingt im gesamten „Tagebuch Havanna 1804“ meist eine ziemliche Übereinstimmung zwischen Humboldt und Arango mit; oft erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennbar, so wie in Bezug auf eines der „Pflanzen“-Grundthemen Humboldts (Nahrungspflanzen/Exportpflanzen): „Arango croit que Cuba peut resister sans traite … et sans sucre en cultivant des comestibles“ (n. 14).[237] Das ist noch heute (2017) eine der Grundfragen der Wirtschaft und Gesellschaft Kubas! Deshalb interessiert sich Humboldt auch immer für den Anbau von Reis, Weizen und anderen sättigenden Pflanzen (Yuca, Bananen, Boniato, Malanga, Kalebasse (Flaschenkürbis), auch Reis), die Grundlage für die Ernährung der breiteren Bevölkerung und der Versklavten waren. [237] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).

110Faktisch konnte die kubanische Zucker-Oligarchie mehr als 50 Jahre lang (1790–1842) unter eigenen Gesetzen und eigener Gesetzgebung agieren. Unter diesem Schirm entwickelte sie die Second Slavery weiter bis die Zuckerproduktion und Exportleistung Kubas (im Modell des Cuba grande) weltweit führend wurde. Die Zuckerwirtschaft wurde im 18. und 19. Jahrhundert flankiert von einer hochqualitativen Tabakwirtschaft mit Sklaven (Humboldt ordnet der Tabakwirtschaft 1804 immerhin Teile der „Esclaves …5000“[238] außerhalb der Zuckerplantagen zu) sowie bis um 1840 von Kaffee-Sklavenplantagen. Kaffee geriet in den 1830er Jahren auf Kuba in die Krise und überlebte als Sklaverei-Exportproduktion nur im Oriente der Insel um Santiago und Guantánamo; im Rest des Landes (oft in Gebirgen) wurde Kaffee zu einer Pflanze freier Bauern. In der Skizze über die Schreckensfigur des „brutal rancheador“[239] zitiert Humboldt nicht nur wörtlich aus dem Reglamento de Cimarrones von 1796[240]; er folgt auch dem Verständnis Arangos von der Rechtmäßigkeit des Reglamentos. Arango hatte über „rancheadores“ geschrieben: „los campos [de Cuba] están inundados de rancheadores que abusan de sus facultades“[241]; und: „La mayor parte de los rancheadores son mayorales de haciendas“.[242] Die Oberaufseher der Plantagen, d.h. die Manager, oft ausgemusterte Soldaten oder Bootsleute, verdienten sich mit Sklavenjagd einen Extralohn und lebten dabei oft ihren Hass an den Versklavten aus. Und sie züchteten Hunde: Sklavenjäger-Hunde, speziell für die Sklavenjagd der Rancheadores abgerichtet (perros de presa): ein Exportschlager Kubas in der Sklaverei-Karibik.[243] Die berühmt-berüchtigsten Rancheadores der Cuadrillas im Oriente, wo zwischen 1800 und 1850 ein regelrechter Guerrillakrieg zwischen Cimarrones, Apalencados, Rancheadores sowie Landmilizen ausgebrochen war, sollen die beiden Rancheadores Miguel Pérez y Céspedes und Francisco Pérez Olivares gewesen sein.[244] Die Rancheadores, freie Weiße, aber auch freie Farbige und ehemalige Sklaven, waren Menschenjäger und Experten des Guerrillakrieges, die die geflohenen Sklaven mit Hilfe ihrer ebenso berüchtigten kubanischen perros de presa, einer Mischung aus spanischem Jagdhund (sabueso), mallorquinischer Dogge, englischem Mastiff und dem mastín der Pyrenäen, aufstöberten und jagten.[245] Allerdings hielten auch Cimarrones Hunde, die sie vor Verfolgern warnten.[246] Und Sklaven, die immer vor der Gefahr standen, von Hunden der Jäger gebissen zu werden, entwickelten Methoden, die Hunde abzulenken; sie operierten oft mit Gift. Humboldt behandelt unter (n. 20) die, sagen wir, außenwirtschaftlichen Aspekte der kubanischen Spezialität perro de presa: den „Comerce des Chiens“[247] nach Jamaika und in das Saint-Domingue der napoleonischen Intervention: „En 1803 on a vu arriver a la Havane un General de la République une et indivible [d.h., ein Jakobiner – MZ] simplement pour faire le Comerce des Chiens!!!“.[248] [238] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[239] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922)(Anmerkung des Autors (Am linken Rand ergänzt)).[240] Arango y Parreño, „Informe que se presentó en 9 de junio de 1796 a la Junta de Gobierno del Real Consulado … Reglamento y Arancel de capturas de esclavos cimarrones …“, in: Arango y Parreño 1952, Bd. I, 256–274, hier 258f.[241] Ebd., 258.[242] Ebd., 267.[243] Franklin, John Hope; Schweninger, Loren, „Negro Dogs“, in: Franklin/Schweninger 1999, 160–164; Villaverde 1982; La Rosa Corzo 2003, passim; Thompson 2006, 150–153.[244] AGI 1820.[245] Marrero, „Perros versus Cimarrones“, in: Marrero 1972, Bd. XIII, 232–234; Bosch Ferrer, Diego; Sánchez Guerra, José, „Sublevación de La Somanta“, in: Bosch Ferrer/Sánchez Guerra 2003, 41–43.[246] „Resumen de diario de operaciones“, in: La Rosa Corzo/González 2004, 272–276.[247] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[248] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).

111Zugleich entwickelte sich die repressive Kultur der Second Slavery dieser Cuba grande der industriellen Massensklaverei, wie oben gesagt, mit einem ideologischen, diskursiven Treibsatz – der Manipulation der Furchtikone „Haiti“ seit 1805.[249] Erst 1842–1844 gelang es den spanischen Liberalen, die sich mit der Sklaverei in der „Kolonie Kuba“ arrangiert hatten, die Second Slavery wieder rechtlich einzubinden (mit dem Bando de Gobernación y Policia von 1842 und dem Sklaven-Reglamento von 1844).[250] Das gelang natürlich nie ganz. Die Frage von Recht und Unrecht im Umgang mit den Versklavten hat Humboldt nicht losgelassen, als er den Originaltext des „Tagebuches Havanna 1804“ verfasste und auch danach nicht: Er kommt mehrfach, vor allem unter (n. 15b/n.16) auf das Thema der cuatro consuelos (siehe oben)[251] zurück. Humboldt erwähnt sogar die „Rl Cedula d. 31 Mai 1789“[252], d.h., den Código Negro Español und die Gründe seiner Nicht-Proklamierung („La loi n’a été mise en exécution“[253]). Enigmatisch ist in diesem Zusammenhang der Verweis auf Patrick Colquhoun 1814 und die Anmerkung „Si [aux] Antilles tous les nègres vont mourrir [,] coment [sic] [à] Christophe et Barbade [,] … propose sans esclaves“.[254] Nicht so sehr, dass ein britischer Schotte Kolonialpolitik „sans esclaves“ nach der Abolition des Sklavenhandels durch Großbritannien in die Debatte bringt und auch nicht das „vont mourrir“ (siehe oben zur „Extermination“ der rebellischen Versklavten) erstaunt, sondern der Hinweis auf „S. Christophe et Barbade“, wo es Gesetzestexte gab, die alle „freien Neger“ von den Inseln vertreiben wollten.[255][249] Langue, Frédérique, „La culpa o la vida. El miedo al esclavo a finales del siglo XVIII venezolano“, in: Procesos Históricos 2012, 19–41; González-Ripoll Navarro, „Desde Cuba, antes y después de Haití: pragmatismo y dilación en el pensamiento de Francisco de Arango sobre la esclavitud“, in: González-Ripoll Navarro et al. 2005, 62–68; Naranjo Orovio, „Cara y cruz de una política colonial: azúcar y población en Cuba“, in: Santamaría García/Naranjo Orovio 2009, 21–57; allgemein vgl.: Gómez 2013a.[250] Valdés, Geronimo, „Bando de Gobernación y Policia de la Isla de Cuba/Reglamento de esclavos“, in: Pichardo 1973, Bd. I, 316–326 (nur Reglamento); vgl. auch: Tardieu 2003.[251] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922). [252] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[253] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[254] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922); vgl.: Colquhoun 1814.[255] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).

112In den Unterabschnitten (6) und (7) geht Humboldt erstmals direkt auf den Auslöser des Manuskript-Textes von 1804 (eigentlich müsste ich immer „1804 ff“ schreiben) – „la revolution (destruction) de Domingue“[256] ein, was selbst in dieser lakonischen Kürze und mit den Verweisen auf den Beginn der Zuckerwirtschaft auf Saint-Domingue und den 1791 sprunghaft gestiegenen Preis für kubanischen Zucker, sehr schön Humboldts Verhältnis zu „Revolution“ an sich demonstriert.[257] [256] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[257] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).

113Die Unterpunkte (8) und (9) zeigen ein weiteres Hauptinteresse Humboldts: Gefragt wird, wie viele Menschen in einem bestimmten Raum, in einer bestimmten Landschaft, unter bestimmten Boden- und Wirtschaftsverhältnissen, mit welcher Art von Pflanzen leben, kurz gesagt: Demografie und Bevölkerung, in diesem Fall Sklaven-Demografie. Humboldt vergleicht die Zahlen der englischen Antillen (noch ohne das 1797 von Spanien übernommene Trinidad and Tobago und ohne Guayana) mit dem spanischen Teil der Insel La Española, Santo Domingo (heute Dominikanische Republik) und den französischen Antillen.[258] Dabei wird eines deutlich, was durch die historiografische Prominenz der Sklavenrevolution auf Saint-Domingue oft in den Hintergrund gerät, aber Humboldt noch sehr klar war. Saint-Domingue (und die räumlich recht kleinen französischen les Amériques) waren vor 1791 die Perle der Weltwirtschaft auf Sklavereibasis; Anschauungsobjekt und bewundertes Beispiel aller Sklaverei-Oligarchien (Humboldt listet die Zahlen für die „Antilles francaises … avant la revolution“[259] unter (n. 9) auf). Ein regelrechtes Silicon Valley der Sklaverei und der Second Slavery in nuce – im Grunde handelte es sich ja, wendet man die on-the-spot-Landschaftsanalyse Humboldts an, im Wesentlichen um die nördliche Küstenebene Plaine du Nord (sowie einige weitere kleinere Küstentaschenebene im westlichen Teil der gebirgigen Insel La Española) und den westlichen Teil des berühmten Valle del Cibao auf Santo Domingo. Der Cibao war und ist eines der größten zusammenhängenden und fruchtbarsten Landwirtschaftsgebiete der Welt. Zucker dominierte zwar diese Plantagenwirtschaften mit Sklaven, aber zugleich gab es eine von freien Farbigen getragene Produktion von Indigo, Kaffee und Baumwolle (mit Schmuggelverbindungen in der ganzen Karibik) – ein Mix, den es sonst nirgends in der Neuen Welt oder anderswo gab (von den Valles in Venezuela und Jamaika vielleicht abgesehen, aber gerade Jamaika war im räumlichen Vergleich ein kleines Inselchen). Saint-Domingue war zwischen 1762 und 1792 die Musterkolonie aller Ökonomen der Aufklärung, die Perle der atlantisch-karibischen Sklavereiwirtschaften. Relativ, in Bezug auf das Verhältnis von Größe und Ausstoß, übertraf der französische Plantagenkomplex in les Amériques die Exporte Brasiliens.[260] Saint-Domingue produzierte 1791, im Jahr des Ausbruchs des größten Sklavenaufstandes der Weltgeschichte, fast so viel wie alle englischen Kolonien in der Karibik zusammen.[261][258] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922). Zu heutigen Dimensionen des Vergleichs der „spanischen Zuckerinseln“ in der Karibik mit anderen Zuckerproduktionsterritorien vgl.: Santamaría García, Antonio; García Álvarez, Alejandro, „Azúcar en América“, in: Revista de Indias 2005, 9–32; América Latina en la Historia Económica 2011.[259] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922) – „Dominque“ meint das heutige Dominica (Ebd.).[260] Garrigus, John, „Colour, Class, and Identity on the Eve of the Haitian Revolution: Saint-Domingue’s Free Coloured Elite as Colons Américains“, in: Slavery and Abolition 1996, 20–43; Dubois 2004a; Dubois 2004b.[261] Watts 1987, 254: Karte: „major sugar-producing districts in St Domingue, 1791“; zur Gesamtentwicklung vgl.: Zeuske, „Europäischer Sklavenhandel global – Plantagen und Sklavereimoderne weltweit“, in: Zeuske 2015a, 270–295.

114Unter Punkt (10) analysiert Humboldt die in diesem Vergleich noch relativ bescheidenen Zahlen von Versklavten in Havanna und Kuba („150–180000 esclaves“[262]). In den vielen Zahlen der Bevölkerungs- und Sklavendemografie geht oft unter, dass der Plantagen- und Zuckerboom der Second Slavery auf Kuba zu einer Bevölkerungsexplosion geführt hat – von rund 174000 Bewohnern um 1780 bis auf rund zwei Millionen um 1900 (trotz 30-jähriger antikolonialer Kriege 1868–1898!); dieser Boom wäre ohne Migration – „freiwillige“ von „Spaniern“ und vielen anderen Menschen aus den unterschiedlichsten Völkern und gezwungene Migration durch Sklavenhandel und Menschenschmuggel (seit 1820 war Sklavenhandel illegal) nicht möglich gewesen. [262] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).

115Unter Punkt (10) beschäftigt sich Humboldt auch mit dem, was er offensichtlich über cimarrones in der Havanna-Matanzas-Region, „sourtout dans les Montagnes de Xaruco“[263], gehört hatte. In jeder repressiven Gesellschaft, die sich ideologisch als „gut“, christlich und „zivilisiert“ darstellt, sind Informationen über illegale Fluchten, Rebellionen, Sklavenwiderstand und Aufstände schwer zu bekommen.[264] So nimmt es auch nicht Wunder, dass die Jaruco-Region heute eher nicht als Schwerpunkt der Sklavenflucht und der cimarronaje gilt (das war eindeutig der Ostteil der Insel).[265] Den Begriff „apalencados“[266] für sieben oder mehr geflohene Sklaven übernimmt Humboldt aus der unter (6 sowie in der Randbemerkung unten auf 128v) erwähnten Gesetzgebung gegen Cimarrones. [263] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[264] Humboldt hatte aber durchaus recht gute Informationen über einzelne Rebellionen und Verschwörungen („insurrections partielles“), vgl. (n. 15b): Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922). [265] La Rosa Corzo 2003; La Rosa Corzo/González 2004.[266] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).

116Im Unterabschnitt (n. 13) listet Humboldt die Zahlen über Sklavenimporte für Saint-Domingue (vor 1791) und diejenigen der Engländer, Franzosen, Portugiesen, Holländer und Dänen vor 1788 auf; „Spanier“, d.h., die Sklavereieliten Spanisch-Amerikas und der spanischen Karibik durften vor 1789 nicht direkt Sklaven einführen (nur über von der Krone vergebene Monopole). Für den Sklavenschmuggel innerhalb der Karibik ist die von Humboldt genannte Zahl von „annuellement 35000 esclaves“[267] wichtig, die die Engländer in die französischen und spanischen Kolonien exportierten. Humboldt zitiert dann aus Pierre François Pages Traité d’économie politique et de commerce des colonies die Standorte (endroits), an denen in Afrika Versklavte verschifft werden.[268] Die Partien über Afrika sind die schwächsten Teile in Humboldts Wissenskultur, da er sich nirgends auf eigene, empirische Beobachtungen stützen konnte. Humboldt listet auch die Preise für Versklavte bei Engländern (in Pfund Sterling/„livres st.“) und Franzosen auf („fr.“ = Francs)[269] – erstaunlicherweise, ohne sie mit den Preisen bei den Spaniern zu vergleichen. Diese Sklavenpreise listet Humboldt unter (n. 16) auf: „Nègres à 270–300 p[esos][,] en tem[p]s de guerre à 500 p[esos]“).[270] Humboldt kommt unter Unterabschnitt (n. 35) nochmals auf die Zahlen und Orte des Sklavenhandels aus und in Afrika zurück. Er listet dort die Gründe für Versklavungen in Afrika auf.[271] Humboldt erwähnt an dieser Stelle auch – und das ist eine der ganz wenigen Hinweise auf die Verwendung von Giften im atlantischen Sklavenhandel – die Autoren Wadström und Sparman, die „assurent que les Français embarquent du mercure ou de l’arsenic pour dépêcher [! – MZ] les esclaves en cas de contagion ou de manque de vivres, que les Anglais agissent plus ouvertement en les jettant à la mer“.[272] Ein extrem wichtiges Detail – fast völlig unerforscht bis heute. [267] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[268] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[269] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922); vgl.: Ortiz, Fernando, „Precio de los esclavos, según las épocas. Formalidades de la venta. Anuncios típicos“, in: Ortiz 1975, 169–171, Anm. 174–175; vgl. auch: Bergad; Iglesias García, Fe; Barcia, María del Carmen, „Introduction: Prices and the historiography of slavery“ in: Bergad/Iglesias García/Barcia 1995, 1–14; Bergad, „American Slave Markets during the 1850s: Slave Price Rises in the United States, Cuba, and Brazil in Comparative Perspective“, in: Eltis/Lewis/Sokoloff 2004, 219–235.[270] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[271] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[272] Ebd. Wir können sicherlich davon ausgehen, dass Humboldt von „Zong-Massaker“ gehört oder gelesen hatte; vgl.: Krikler, 2012, 393–415.

117Spricht Humboldt im „Tagebuchs Havanna 1804“ über Menschen und Zahlen, dann geht es um das große Thema der Bevölkerungsstatistik Kubas und der Sklaverei-Amerikas, die Untergliederung ihrer Bevölkerung in Kasten (castas), in Freie/Versklavte und die Frage, woher diese Menschen kamen. Humboldt interessiert sich auch für das Geschlechterverhältnis der Versklavten; Sklavinnen waren wichtig für die versklavten Männer, für die Stabilität der politischen Verhältnisse, für die Positiva der spanischen Gesetzgebung (Sklaven sollten im Grunde heiraten) und für die katholische Kirche. Humboldt (n. 15b): „Negresses introduites seulement depuis 20 ans … Arango a le plus contribué à les propager[.] Il y en a dans les nouvelles haciendas [der Second Slavery – MZ] mais bien peu dans les vieux“.[273] Das Argument von „mehr Frauen“ (negras) wurde aber auch gerne von Sklavenhändlern aufgenommen, wie den Negreros Zangronis (Zangroniz, Sangronis) aus Santander und Havanna: „lo que importa al bien del estado, proveer de Negros y sobre todo de Negras las preciosas haciendas de la Ysla de Cuva [sic]“.[274][273] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922); zu Arango und seiner Forderung, mehr Frauen als Sklavinnen aus Afrika nach Kuba zu bringen (man stelle sich die Auswirkungen auf Afrika vor!), vgl.: Arango y Parreño, „Primer Papel sobre el comercio de negros“, in: Arango y Parreño 1952, Bd. I, 79–84; Arango y Parreño, „Certificación de la Secretaría del Consulado de la Habana y Real Orden reservada de 22 de abril de 1804, sobre escasez de hembras esclavas y medios de propagar la especie negra,“ in: Arango y Parreño 1952, Bd. I, 97–102. [274] Archivo Histórico Nacional, Madrid (AHN): AHN 1816. Es handelt sich um einen Brief an das Ministerium mit der Bitte, eine Sklavenexpedition unter spanischem Kapitän und spanischer Mannschaft auf seinem Schiff Mulato ausrüsten zu dürfen; Zangroniz möchte zu portugiesischen Besitzungen in Afrika unterhalb des Äquators fahren und dort Sklaven aufnehmen. Das Ministerium möge das alles dem britischen Außenministerium mitteilen, damit britische Kriegsschiffe keinen Vorwand hätten, die Expedition auf zu bringen. Zuletzt will er ein Zertifikat (Documento ó Pasaporte) der Regierung über o.g. Charakteristiken der Expedition haben.

118Wirklich wichtig unter Abschnitt (n.14) sind der Vergleich der Bevölkerung St. Domingues im Jahr 1788 zum Zustand der Insel unter Toussaint Louverture im Jahr der napoleonischen Intervention 1802. 1788 war die französische Parade- und Plantagenboom-Kolonie mit 520000 Gesamtbevölkerung und 452000 Versklavten auf ihrem Höhepunkt. Im Grunde handelte es sich um eine Sklavereidemografie im Verhältnis Freie/Versklavte von 1:9 (von den Freien waren ca. ein Hundertstel „große“ Sklaveneigentümer, die aber oft in Frankreich lebten). 1802 lag die Gesamtbevölkerung bei 375000, es hatte also einen Schwund von rund 28% der Bevölkerung in 14 Jahren gegeben. Der Anteil nun ehemaliger Sklaven war um rund 36% gefallen.[275] Hinter diesen Zahlen verbirgt sich die grundstürzende Erkenntnis, dass in den Jahren 1790 bis 1803 eine Reihe von Rebellionen, die Revolution der Versklavten um ihre Freiheit (1791–1796), der Kampf gegen Interventionen der Engländer und Spanier (1792–1796/1798), ein interner Bürgerkrieg der vorwiegend schwarzen Truppen Toussaint Louvertures (für Arango „el negro Santos Louverture“[276]) gegen die freien Farbigen unter André Rigaud im Süden und Westen Saint-Domingues (1799–1800: „Krieg der Messer“) und schließlich die mörderische Intervention der Truppen Napoleons (1802–1803), etwa einem Drittel der Bevölkerung und mehr als einem Drittel der ehemaligen Sklaven das Leben gekostet hatte.[277] Noch explosiver war die Realität, die hinter den Zahlen steht, die Humboldt unter „Domingue a produit en 1799 ¼ de Sucre [et] Caffé du produit de 1788“[278] darstellt. Der erfolgreiche Revolutionär Toussaint Louverture war, als er um 1799/1800 militärisch gesiegt hatte, bereit, die Plantagenexportwirtschaft und eine de-facto-Sklaverei wiedereinzuführen. [279] Und er tat es auch.[280] Das kostete ihn den Posten und das Leben; Toussaint wurde, faktisch durch die eigenen Leute, 1802 an die Franzosen ausgeliefert. [275] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[276] Arango, „Voto particular de varios Consejeros de Indias sobre la abolición del tráfico de negros“, in: Arango y Parreño 1952, Bd. II, 274–281, hier 278.[277] Zeuske, „Revolution im Zentrum der schwarzen Karibik“, in: Zeuske 2004a, 157–190.[278] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[279] Geggus, „Toussaint’s Labor Decret (Supplement to the Royal Gazette [Jamaica], 15 Nov .1800)“, in: Geggus 2014, 153–154.[280] Fick 2008.

119Humboldt ist auf seiner ganzen Reise und besonders in den Gebieten (Plattformen) der Second Slavery in Venezuela und auf Kuba nahezu obsessiv besessen von „Arithmétique politique“[281] (ein kameralistischer Kernbegriff), d.h., von Wert-, Kosten- und Rentabilitätsberechungen von Land (Boden), Sklaverei, Arbeit/Unterhalt der Versklavten und Preisen im Zusammenhang mit dem jeweiligen Raum (der Landschaft), Löhnen, Produktionsmethoden (Technologie – vor allem in der langen n. 16[282]), dem Reichtum der privaten Eigentümer und der Wirtschaft des jeweiligen Territoriums im Allgemeinen (n. 8, n. 9, n. 12, n. 13 (unterer Teil), n. 16, n. 22 (Kaffee), n. 23, n. 26 (Tabak und Kaffee auf Kuba). Diese Partien sind für Kuba und den Essai politique über Kuba, wie wir in Bezug auf die „Beobachtungen“ Arangos gesehen haben, vielleicht die konkret schwächsten Stellen in Humboldts Werk. Das lag, wie Arango enthüllte, daran, dass Humboldt keine wirklich verlässlichen Ausgangsdaten bekommen konnte. Was diese Partien aber bis heute auszeichnet, ist Humboldts Methode. Er hat sie schlaglichtartig an verschiedenen Stellen erwähnt, am deutlichsten vielleicht in Bezug auf die vier Kolonialexportprodukte (commodities) der Valles de Aragua in Venezuela (añil/Indigo, Kakao, Kaffee und Baumwolle): [281] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[282] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).

„Man bekommt eine Vorstellung von der außerordentlichen Ertragsfähigkeit der Landwirtschaft in den spanischen Kolonien, wenn man sich vor Augen hält, daß der Indigo aus Caracas, der 1794 einen Wert von mehr als sechs Millionen Franken hatte, auf nur vier bis fünf Quadratmeilen angebaut wird“.

120 Man kann das mit einem „gut gebrüllt, physiokratischer Löwe“ abtun. Das wäre aber falsch. Humboldt hat diese Methode sowohl in Bezug auf Zucker in der Cuba grande (siehe: die „100 Quadratleguas“ unter Cuba grande I oben) als auch, neben Indigo, in Bezug auf Kakao in Venezuela angewandt.[283] Und all das, wie oben gesagt, im Vergleich. Dazu kamen noch eigene Beobachtungen (sowie Gehörtes) on the spot und – wenn möglich – die Nutzung lokaler Archive. Die andere Dimension des Humboldt’schen Werkes, man kann schon fast nicht mehr nur Methode sagen, heute noch viel wichtiger, ist die nicht ganz unkomplizierte Einheit von „Naturwissenschaften“, „Sozialwissenschaften“ (einschließlich der historischen Vertiefung) und der literarischen „schönen“ Darstellung.[283] Humboldt, „Sechzehntes Kapitel“, in: Humboldt 1991Bd. I, 629–701, hier 687ff und: Humboldt, „Sechundzwanzigstes Kapitel“, in: Humboldt 1991, Bd. II; 1461–1492, hier 1477–1479

121Ein Blick auf eine gute Karte der Amerikas zeigt, dass die wirklichen Räume intensiver Plantagensklaverei eher klein und kompakt waren.[284] Eine der größten und kompaktesten Sklaverei-Landschaften der Second Slavery entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Ebene von Colón; mit der llanura de Colón und ihren dunkelroten Böden verfügte Kuba weltweit über die modernste Plattform der Zucker-Plantagenwirtschaft mit Massensklaverei und den besten Böden, man kann fast von Plantagen-territoire sprechen[285] – allerdings erst „nach Humboldt“, als die erste Eisenbahn der Amerikas um 1840 die Ebenen des Interior der Insel der Modernisierungsgewalt der Second Slavery geöffnet hatte. Die Dimensionen jener Zeit sind verblasst: Wer kennt heute die rote Ebene zwischen Matanzas und Cienfuegos, genauer um Jovellanos und Colón, wenn er oder sie nicht Humboldt gelesen hat? [284] Zeuske, „Europäischer Sklavenhandel global – Plantagen und Sklavereimoderne weltweit“, in: Zeuske 2015a, 270–295 und passim.[285] Marrero Cruz, Eduardo, „La llanura de Colón, emporio azucarero del mundo en el siglo XIX“, in: Boletín 2007, 21–33; Marrero Cruz, „El emporio azucarero“, in: Marrero Cruz 2006, 95–120.

122Die menschlichen Körper der Sklavinnen und Sklaven mit ihrer Arbeits-, Produktions- und Reproduktionskraft waren das wichtigste Kapital von Sklavereigesellschaften und Sklavenhändler/Kaufleuten (die auch die Funktion von Bankiers hatten). Somit besteht ein starker Zusammenhang zwischen Sklaven-Demografie, der Zahl der ruralen Sklaven und dem „Wert der Sklaverei“ an sich. Antonio del Valle Hernández, der erste Demograph Kubas, dessen „Sucinta Noticia“ Humboldt erst lange nach 1804 zugeschickt bekam, drückt es folgendermaßen aus: „la riqueza de los fondos rurales no es tanto la cantidad de la tierra, como el núm.o de sus brazos habiles [=Versklavte – MZ]“.[286] Danach geht Valle Hernández, im Gegensatz zu allen Zeitgenossen und vor allem (fast) allen Soziologen, Historikern und anderen Wissenschaftler, die das Thema Sklaverei ohne Kenntnisse on the spot bearbeitet haben, auf die andere Form lebenden Kapitals ein: „Después de la dotación de hombres, requiere el ingenio una numerosa boyada [am besten übersetzt mit Ochsenbesatz – MZ], tanto para conducir la caña, como para el tiro de la leña y demás atenciones“.[287] Erst danach kommt das fixe Kapital der Häuser, Installationen und Maschinen. Geführt werden müssen die komplizierten Operationen des Ingenio, der Basis-Betriebseinheit der Second Slavery, so Valle Hernández, schon nicht mehr durch einen „labrador“[288] („Landmann“ – oft eine Selbstbezeichnung der Hacendados und Ingeniobesitzer), sondern durch einen „fabricante“[289], da alle „manipulaciones, pertenecen á la mecanica y quimica“.[290] Zur Erhaltung des Kapitals menschlicher Körper – auch darauf geht Humboldts „Tagebuch Havanna 1804“ ein – ist die Ernährung von Versklavten sehr wichtig; nicht weniger als die allgemeinen Gesundheits- und Hygienebedingungen, die Humboldt im Wesentlichen in seinen vernichtenden Aussagen zur „mauvaise Police de la Havane“ (n. 32)[291] zusammenfasst. Zur Ernährung der Versklavten sagt Humboldt:[286] Valle Hernández, „Sucinta noticia de la situación presente de esta colonia. 1800“, in: Valle Hernández 1977, 69–112, hier 78.[287] Ebd.[288] Ebd.[289] Ebd., 79.[290] Ebd.[291] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922). Vgl. auch die Aussagen zu den Gelbfieber-Epidemien („Vomito“) und zum Gestank des Tasajo sowie zum Zusammenhang mit Massen von Mosquitos (Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).

„On donné à 1 Nègre ½ arrobe de Tasajo [getrocknetes Rinderfleisch – MZ] de Buenos ayres, en outre[,] les Viandes [Yuca, Malanga, Bananen, Boniatos, siehe oben zu Nahrungspflanzen – MZ] c. à d. [c’est-à-dire] les Calabasses [von Spanisch calabasa – MZ][,] Boniatos (Convolvulus)[,] forme de Mays [Humboldt meint in Maisblätter gehülltes Maismehl, in Brühe gekocht (heute tamales) – MZ] … 1 ar[roba] de Tasajo de Buenos ayres = 10–12 r[eales][.] En fin, [s’il] manque [de Tasajo –MZ][,] on leur donne du Bacalao (salé) que l’on regarde comme mal sein [nur wenn der getrocknete Kabeljau teurer als tasajo war – MZ]“.[292][292] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922); zur Ernährung der Versklavten auf Kuba vgl.: Zeuske, „Funche, Bacalao oder Tasajo: Sklavendiäten“, in: Zeuske 2017a.

123Dann verweist Humboldt auf seine exzellenten Erfahrungen, Berechnungen und Analysen in Bezug auf das Trockenfleisch von Barcelona in Venezuela.[293] Er schließt ab mit einer Kostenberechnung „Habillement du Nègre par an 15 p[esos]“.[294] Humboldt beweist seine sehr gute Beobachtungsgabe – Sklavenernährung und Ernährung breiterer Bevölkerungen ist in den letzten Jahren zu einem sehr dynamischen Feld der Globalgeschichte geworden.[295][293] Humboldt, „Kapitel 11. Rückblick auf die Reise von San Carlos del Río Negro bis Esmeralda. Von Esmeralda auf dem Orinoco über Angostura und Nueva Barcelona nach Cumaná (7.5.–26.8.1800)“, in: Humboldt 2000, 311–389, hier vor allem 355 und 373.[294] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[295] Mintz 1996; Sarmiento Ramírez 2008; Maeseneer 2009; Zeuske, „Mobilität, Diäten, Terror und translokale Infrastrukturen der Gewalt“, in: Zeuske 2013, 430–450.

124Der Vergleich, auch und besonders mit Saint-Domingue vor der „revolution“, ist, ausgesprochen (und niedergeschrieben) oder nicht, im „Tagebuch Havanna 1804“ allgegenwärtig. Besonders deutlich wird diese Dimension sozialwissenschaftlichen und historischen Arbeitens auf kameralistischer Basis in den Bevölkerungsstatistiken und Vergleichen sowie ganz besonders in der Analyse von Sklavenpopulationen und Sklaveneinfuhrzahlen; Zensus (n. 13, n. 36 „Isle de Cube“[296], n. 37 und n. 38). [296] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922); vgl. auch: Zeuske, „Census Data and Labor in Cuba, 1774–1919: From Colonial to Slave Society and Back“, in: Zeuske 2017b.

125Übrigens war Humboldt 1804 nicht sehr optimistisch in Bezug auf die Abolition – ich meine die des Sklavenhandels (realhistorisch 1808–1840) und nicht gleich die Abschaffung der Sklavereien, die realhistorisch nach der Selbstbefreiung auf Saint-Domingue/Haiti und der Proklamierung durch die Jakobiner 1794 erst 1838–1888 in den Amerikas Realität wurde. Humboldt hält am Ende des langen Unterabschnitts mit dem Titel „Esclaves“ (n. 15b) fest, nachdem er über das britische „Loix d’Abolition“ des Sklavenhandels (1807[297]) und mögliche Wandlungen der Sklaverei (n. 34), etwa Umwandlung in „glebae adscripti“ oder Ansiedlung in Sierra Leone reflektiert hat: [297] Vgl. das königliche Dekret zur Abolition des britischen Sklavenhandels: „An Act for the Abolition of the Slave Trade 47o Georgii III, Session 1, Cap. XXXVI“, in: Linden 2011, 46–54.

„loix d’infamie attachée à la traite. abol[ition] entière Hollande et volontaire Dannemarcq? Suède? Portugal[,] difficulte, a promis ne pas porter d’autres nègres que de ces [sic] colonies d’Afrique au Brésil[.] Portugais et Esp[agne] ont fait énorme commerce de nègres 70–80000 […] derniers tems“.[298][298] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922). Zur extrem späten Abolition in den Niederlanden und ihren Kolonien, vgl.: Kuitenbrouwer, Maarten, „The Dutch Case of Antislavery. Late and Élitist Abolitionism“, in: Oostindie 1995, 67–88; Engerman, Stanley L., „Emancipations in Comparative Perspective. A Long and Wide View“, in: Oostindie 1995, 223–241; zu Dänemark: Røge, Pernille, „Why the Danes got there first – a trans-imperial study of the abolition of the Danish slave trade in 1792“, in: Slavery and Abolition 2014, 576–592.

126 Keiner hat wohl die Bedeutung der „Portugiesen“ im Sklavenhandel des 19. Jahrhunderts besser erkannt als Arango – nachdem er u.a. nach Portugal gereist war.[299] 1809 schrieb er: „In diesen letzten Jahren hat es eine totale Transformation im kommerziellen System gegeben“.[300] Im gleichen Jahr schrieb Arango auch: „Solo los Portugueses son los extrangeros que quedan en aptitud de hacer algo“.[301] Beide, Humboldt und Arango, waren, wie fast immer, auf gleicher Wissenhöhe. Aber sie zogen daraus unterschiedliche Schlüsse (zumindest 1808–1817).[302][299] Vgl. die Berichte Arangos über diese Reise an den Real Consulado: „Expediente sobre las noticias comunicadas por el Sindico Don Francisco de Arango y Parreño, adquiridas en el viaje por encargo de S.M. ha hecho a Inglaterra, Portugal, Barbada y Jamayca“, 30 de Septiembre de 1795, in: ANC 1795a; sowie „Expediente relativo a las noticias adquiridas por el Sindico de este cuerpo en Inglaterra y Jamayca, sobre refinerias de azucar“, 28 de Octubre de 1795, in: ANC 1795b.[300] [Übers. - M.Z.] Schreiben (carta) von Arango an Generalkapitän Someruelos, La Habana, 17. Oktober 1809, in: ANC 1809; vgl. auch: Childs, „The Present Time Is Very Delicate. Cuban Slavery and the Changing Atlantic World, 1750–1850“, in: Childs 2006, 21–45; zur „Rolle vorwärts“ Arangos vom Sklavenhandelsbefürworter zum Sklavenhandelsgegner zwischen 1812 und 1817 (und verschärft nach 1825) vgl. die Zusammenfassung Gradens: Graden, Dale T., „Slave Resistance and Debates over the Slave Trade to Cuba, 1790s–1840s“, in: Graden 2014, 81–119, hier vor allem 102–103. [301] „Informe del S.or Oidor Sindico de f.ha 17. de Oct. 1809“, in: ANC/RC 1809.[302] Zeuske, „Versklavte, Sklavereien und Menschenhandel auf dem afrikanisch-iberischen Atlantik“, 296–364.

127Oft liegen neue Erkenntnisse oder Informationen im Text des „Tagebuchs Havanna 1804“ in den Details – so notiert Humboldt im Unterabschnitt zu Abolitionen eine neue Entwicklung nach 1808: „Lorsqu’on prend des vaisseaux nègres[,] on ramène les nègres à la cote d’Afrique“.[303] Großbritanniens Kriegsschiffe begannen Sklavenschiffe zu verfolgen, die Verschleppten zu „befreien“ (das ist umstritten) und an den Kolonisations-frontiers (Freetown/Sierra Leone, Australien, Belize, Trinidad and Tobago) anzusiedeln, sie als Soldaten in Regimenter zu stecken, die in den Tropen eingesetzt wurden oder sie auf britische Plantagen zu verbringen – unter Bedingungen, die denen der Sklaverei entsprachen. Damit entstand die Kategorie der emancipated slaves (Span.: emancipados), im Grunde eine koloniale Staatssklaverei des 19. Jahrhunderts, die auch auf Kuba eine wichtige Rolle spielte.[304][303] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).[304] Roldán de Montaúd, „On the Blurred Boundaries of Freedom: Liberated Africans in Cuba, 1817–1870“, in: Tomich 2015, 127–155; Zeuske, „Emancipados oder „befreite“ Verschleppte als Staatssklaven der Atlantisierung“, in: Zeuske, Die Monte Christos des verborgenen Atlantik. Sklavenhandel und Atlantisierung Afrikas und Amerikas (Zeuske 2017 (forthcoming)).

128Humboldt glaubte wohl 1804 eher an weitere Sklavenaufstände: „Cette Culture des Isles cessera par les émeutes des Nègres et par la Culture du Continent“[305] – welchen Kontinent Humboldt meint, ist unklar, vielleicht Europa, weil es formal keine Sklaverei dort gab (free soil)?[305] Humboldt 1804b (Online-Edition: http://edition-humboldt.de/H0002922).

129Die meisten kruden Informationen, die Humboldt im „Tagebuch Havanna 1804“ gesammelt hat, lassen sich leichter und eleganter in literarischer Verarbeitung im Essai politique[306] genießen. Humboldt hat aus der Distanz aber auch einiges abgeschwächt. Wichtig sind die Zusammenhänge der Entwicklung der Demographie als Wissenschaft in Deutschland, in der Ausbildung Humboldts als Kameralistik und auf Kuba sowie einige Details, die nur in den Tagebüchern deutlich werden. In der Entwicklung der Sklaven- und Bevölkerungsdemographie ist Humboldt nur ein Teil der durch die Revolution von Saint-Domingue ausgelösten Wissens- und Wissenschaftsrevolution der kubanischen ciencia criolla.[307] Auf Kuba jedenfalls begann ein „goldenes Zeitalter“ dieser kolonialen Sozialwissenschaft, die von Humboldt beeinflusst, aber nicht geführt oder gar eingeführt worden war (siehe Arango und Valle Hernández).[308] [306] Humboldt 1826; dt. Übersetzung: Humboldt 1992; englische Übersetzung: Humboldt 2011.[307] Zeuske, „Doktoren und Sklaven. Sklavereiboom und Medizin als „kreolische Wissenschaft“ auf Kuba“, in: Saeculum 2015, 177–205. [308] Venegas Fornias, „Los instrumentos modernos de la Ilustración: censos, estimados, encuestas y mapas topográficas (1763–1817), in: Venegas Fornias 2002, 37–78; Venegas Fornias, „La época dorada de la estadística y la cartografía en Cuba (1820–1868)“, in: Venegas Fornias 2002, 79–125. Das die Zensus der kubanischen Sklavereigeschichte eher Kontroll- als Informationscharakter hatten und oft – durchaus im Sinne Arangos – manipulativ eingesetzt wurden, zeigt (anhand eines späteren Zensus, für den einfach die Original-Quellen benutzt werden konnten) José Antonio Piqueras, vgl.: Piqueras 2011. Die spanische Regierung ließ aus Angst vor der Masse von Versklavten zur Zeit des Bürgerkrieges in den USA den Zensus nicht proklamieren. Der Hauptgrund aber war, dass die Anzahl der eingeschmuggelten Versklavten aus Afrika um 1861 (nach dem formellen Verbot 1820) extrem hoch war. Es gab viel mehr eingeschmuggelte Sklaven als die vorherigen, nicht „ganz so richtigen“, Zensus verkündet hatten, nämlich 402167 (Ebd., 198) – eine weder vorher noch nachher jemals wieder erreichte noch durch einen Zensus anerkannte Zahl von Versklavten auf Kuba.

130In jener Zeit vollendete sich auch die Second Slavery, deren Ansätze Humboldt und Bonpland zuerst in Venezuela analysiert und beschrieben hatten. Die globalhistorischen Umstände änderten sich, vor allem nachdem ab 1808/1810 die Unabhängigkeitsrevolution in den Kontinentalkolonien Spaniens mit Zentren in Mexiko und Venezuela/Neu-Granada ausgebrochen und nachdem seit 1814/1815 die Zeit des Wiener Kongresses, der Heiligen Allianz und des konsumgelenkten Biedermeier-Kapitalismus angebrochen war. Alle Europäer, nicht mehr nur die adligen Schichten wie vor 1789 und 1791, wollten nun Kleidung aus Baumwolle (auch als Unterwäsche!) tragen, sie wollten Zucker (und Zuckerprodukte – „Zuckerbäckerei“), Kaffee, Schokolade/Kakao konsumieren und viele wollten Kolonialtabak und die guten Habanos rauchen. Und all dies natürlich zu Hause, aber auch in den neuen kleinen Palästen der Biedermeier-Zeit, den Kaffeehäusern, wo auch „europäische“ Kunst, Literatur und Philosophie entstand. Das hatte 1804 noch niemand ahnen können – auch Alexander von Humboldt nicht.[309] [309] Zum Biedermeier-Kapitalismus und zur neuen Rolle von Sklaverei und Versklavten in der Entwicklung des globalen Kapitalismus ab 1815 vgl.: Zeuske, „Karl Marx, Sklaverei, Formationstheorie, ursprüngliche Akkumulation und Global South“, in: Wemheuer 2016, 96–144.

Statt einer Konklusion: Humboldt, Arango und die neue Sklaverei des 19. Jahrhunderts (Second Slavery)

131Sklaverei haben Humboldt und Bonpland auf ihrer Amerikareise 1799–1804 in den unterschiedlichsten Facetten kennengelernt:

  • in verschiedenen Dimensionen (Sklaverei von Menschen aus Afrika, Sklaverei von Indigenen),
  • in unterschiedlichen Sektoren: urbane Sklaverei, d.h., vor allem Haus-, Dienstleistungs-, Infrastruktursklaverei sowie Staatssklaverei und rurale Sklaverei, also agrikulturelle Sklaverei als Zucker-, Kakao-, Kaffee-, Tabak-, Baumwolle-, Indigo-, Bergbausklaverei sowie Sklaverei in der Vieh- und Hütewirtschaft,
  • als lokale Sklavereien in verschiedenen politischen Einheiten (Verwaltungsterritorien des spanischen Imperiums) und geographischen Räumen (Küsten, Flussgebieten, Städten/Häfen, Landwirtschafts-Landschaften, Missionen, Hinterländern, Savannen, Meeren, Grenzgebieten) sowie
  • Sklavereien in verschiedenen, sagen wir, Aggregatzuständen organisatorischer Verdichtung (in den Extremen: Razzien- und Menschenjagd-Sklavereien in Grenz- und „Sklavenproduktions“-Gebieten einerseits und Plantagen-Sklaverei als Teil der Atlantic slavery andererseits).

132Das gilt auch für unterschiedliche Dimensionen von Sklavenhandelssystemen oder, wie Humboldt es literarisch audrückt: „Der Sklavenhandel mit den kupferfarbigen Eingeborenen führte zu denselben Unmenschlichkeiten wie der Negerhandel; er hatte auch dieselben Folgen, Sieger und Unterworfene verwilderten dadurch“.[310] Direkte Sklaverei als privates Eigentumsverhältnis und massiver Sklavenhandel und Menschenschmuggel waren für die beiden Europäer etwas ziemlich Neues; im Grunde sprangen sie gleich in Cumaná in tiefes Wasser – auch und gerade in Bezug auf Sklavenhandel und -schmuggel. Deshalb arbeitete Humboldt die literarische Verarbeitung seiner Tagebuchnotizen (in der Relation historique) über Cumaná zu einem tief anrührenden Bericht über einen Sklavenmarkt, über Sklavenhandel allgemein sowie über „die Zahl der Sklaven“ aus.[311] Von der atlantischen Sklaverei konnten beide Reisende mit Ausnahme des Sklavenschmuggels in der Karibik nur die amerikanisch-terrestrische Seite (Ankunft in den Häfen, Sklavenverkäufe und -märkte, Sklaven an ihren Einsatzorten) selbst on the spot analysieren und beschreiben. Damit waren sie in Bezug auf Sklavereien, Sklaven- und Menschenhandel sowie Verkauf/Tausch und die allgemeinen Bedingungen für Versklavte an Küsten und Handelsplätzen Afrikas (nur dort waren europäische und einige wenige amerikanische Sklavenhändler zu finden) und auf den Sklavenhandelsschiffen der atlantischen Sklaverei auf Literatur angewiesen, staatliche Untersuchungen (vor allem in Großbritannien) und Diskurse sowie mündliche Informationen. Es erstaunt schon, dass Humboldt in seinen Schriften kaum erkennen lässt, ob er mit eigenen Augen die reale Ankunft eines Sklavenhandelsschiffes gesehen hat.[312] [310] Humboldt, „Sechstes Kapitel“, in: Humboldt 1991, Bd. I, 291–345, hier 292.[311] Humboldt, „Fünftes Kapitel“, in: Humboldt 1991, Bd. I, 257–290, hier 260f. In der literarischen Verarbeitung wird die abolitionistische Ideologie deutlich, man könnte sie auch als den tiefen humanistischen Wunsch Humboldts bezeichnen, dass der Sklavenhandel wirklich enden möge und dass er mehr Beispiele von Freilassungen „in so schönem Lichte“ zeigen könne (vgl.: Humboldt, „Zwölftes Kapitel“, in: Ebd., 485–523, hier 505), deutlicher als in den trockenen Notizen der Tagebücher über die Beobachtungen on the spot und in real time. Zu den wirklichen Zahlen des Sklavenschmuggels nach Venezuela vgl.: Borucki, „Trans-imperial History in the Making of the Slave Trade to Venezuela, 1526–1811“, in: Borucki 2012, 29–54; Borucki; Eltis; Wheat, „Atlantic History and the Slave Trade to Spanish America“, in: Borucki/Eltis/Wheat 2015, 433–461; Zeuske 2015a, passim.[312] Eventuell bilden zwei dänischen Schiffe und die hamburgische Fregatte Kranich, die 1804 insgesamt 308 Sklaven aus Afrika nach Venezuela über San Tomas und die Insel Tórtola brachten, die Ausnahme (in Bezug auf Sichtung durch Humboldt); vgl.: Lucena Salmoral 1986, 57f.; Weber, Klaus, „Der Außenhandel deutscher Territorien im atlantischen Wirtschaftsraum (1650–1850)“, in: Weber 2004, 37–86, vgl. auch: Weber, „Zusammenfassung und Ausblick“, in: Ebd., 300–309.

133Fest steht, und das ist ein wichtiges Ergebnis: Humboldt war ein Fachmann in Bezug auf Sklavereien. Der oft geäußerte Vorwurf, Humboldt sei da und dort „zu kurz“ (zu wenig Zeit) geblieben, greift angesichts des aufgehäuften, empirischen Wissens und der hochreflektierten Vergleiche auf sozialwissenschaftlicher Basis nicht. An den atlantischen Küsten der iberischen Amerikas (partiell auch an pazifischen Küsten) und auf den Inseln der Antillen entwickelten sich, mit globalhistorischen Wurzeln auf französischen (vor allem Martinique, Guadeloupe und ganz besonders auf Saint-Domingue) und britischen Inseln (vor allem Barbados und Jamaika), Gebiete der Second Slavery. Sie zeichneten sich durch industrialisierte Massensklaverei von Verschleppten aus Afrika aus, Vieh- und Technik- sowie Technologieeinsatz und hohen Organisationsgrad der Produktion sowie Exporte von extrem nachgefragten commodities (Kolonialwaren) für den Weltmarkt aus. Es war moderne Sklaverei in jedem Sinne dieser Zeit, zum Teil oder flächendeckend (wie auf Kuba nach 1820) mit eigenständigen Formen der Industrialisierung.[313] Eine Sklaverei-Moderne. [313] Rood, „Plantation Laboratories. Industrial Experiments in the Cuban Sugar Mill, 1830–1860“, in: Tomich 2015, 157–184.

134Schon in Venezuela, „in den schönen Tälern von Aragua, wo die reichsten Pflanzer Pflanzungen besaßen“[314] beschrieb Humboldt die Ansätze der Second Slavery als eigenständige Zivilisation und Moderne, denn dort, in der Sklavereiplattform der Valles de Aragua, sagt Humboldt „genossen wir … alle Vorzüge einer fortgeschrittenen Zivilisation“.[315][314] Humboldt, „Fünfzehntes Kapitel“, Humboldt 1991, Bd. I, 590–629, hier 612.[315] Ebd.

135Kubas Second Slavery profitierte mehrfach von den welthistorischen Entwicklungen. Nur Kuba (und in gewissem Sinne Puerto Rico), als Zentrum der spanischen Macht in der Independencia, bekam die Segnungen der spanischen Restaurationsreform zu spüren:

  • mehr Freihandel,
  • Entmonopolisierung,
  • Freigabe des Waldes (damit Holz und Flächen zur Anlage von Ingenios),
  • volles „bürgerliches“ Privateigentum an Land und
  • Recht auf Separierung der kolonialen Großgrundbesitze.

1361791–1803 waren, wie wir gesehen haben, die Ansätze der Second Slavery in der Revolution auf Saint-Domingue zusammengebrochen; 1810–1830 kam es auch in Venezuela zum Zusammenbruch. Venezuela schied damit aus der rasanten Second-Slavery-Globalisierung aus. Die Auswirkungen der ersten Revolution hat Humboldt analysieren können – er hielt den Schock über die „blutige Revolution“ für wichtiger als die zunächst eher indirekten Folgen des Wirtschaftszusammenbruchs und der Umorientierung der Märkte. Die Auswirkungen der zweiten Revolution, der independencia (die Humboldt, wie wir wissen, bis um 1818 ablehnte), konnte er nur ahnen – mit seinen Aussagen zur „weißen Republik“ lag er im politischen, kulturellen und sozialen Sinne gar nicht so falsch. Humboldt konnte auch nicht ahnen, dass Kuba durch die Flucht vieler Menschen aus den Revolutions- und Bürgerkriegsgebieten (und Gebieten, die 1810–1821 an die USA gingen, wie die beiden Floridas), vor allem Pflanzern, Kaufleuten und Plantagenspezialisten, einen extrem wichtigen Schub an Kapital (Geld), Wissen und überhaupt Menschen (Humankapital) bekam. Ich will das kurz im Zusammenhang darstellen, um das gigantische Ausmaß der Migrationen zu verdeutlichen. Alain Yacou hat ausgezählt, dass allein zwischen Juni 1803 und dem 31. Januar 1804 18213 Personen aus Saint-Domingue nach Santiago de Cuba kamen (in einem Zensus 1808 sind für Santiago 7500 Franceses, „Franzosen“ ausgewiesen, 22% der Stadtbevölkerung, davon waren allerdings nur 28% wirklich in Frankreich geboren). Seit 1795 emigrierten auch viele Menschen aus dem an Frankreich abgetretenen Santo Domingo nach Kuba. Oder sie gingen nach Puerto Rico. Viele Franzosen mussten zwar wegen des antifranzösischen Dekrets von 1809 die spanischen Inseln wieder verlassen, vor allem Kuba, etwa 20000 aus Baracoa, Santiago (8870[316]) und La Habana. Beim Verkauf von Louisiana an die USA kamen im Gegenzug 1803/04 aber viele Spanier und Kreolen aus Louisiana nach Kuba. Seit 1811 folgten ihnen wegen der Wirren der Unabhängigkeitskriege Menschen aus Venezuela und Neu-Granada, auch aus Mexiko; 1814/15 kehrte eine Reihe von franceses aus Louisiana nach Kuba zurück; 1817 und 1821 kamen Massen sogenannter floridanos (für Forida existierte bereits eine Tradition, die auf den Auszug bei Übergabe 1763 an Großbritannien zurückging[317]). 1821 und vor allem 1829 strömten spanische Kaufleute aus Mexiko und „Groß“-Kolumbien auf die Insel – sie sollen (nach Luciano Franco) etwa 30 Millionen Silberpesos Kapital mitgebracht haben. Das investierten sie oft in die Zuckerwirtschaft (wie schon Antonio del Valle Hernández 1800 gefordert hatte[318]). [316] Portuondo Zúñiga 1996, 118; Portuondo Zúñiga 2004, 100–104.[317] Landers, Jane G., „African Choices in the Revolutionary South“, in: Landers 2010, 15–54.[318] Valle Hernández, „Necesidad de invertir en la agricultura nuevos fondos“, in: Valle Hernández 1977, 91–92.

137Dazu kamen per Zwangsmigration immer mehr Versklavte aus Afrika – selbst in den Krisenjahren 1805–1809 16519. Von Rückgang des Sklavenhandels konnte keine Rede sein: 1810–1814 wurden bereits 31308 Versklavte aus Afrika und 1815–1820 137988 Versklavte aus Afrika nach Kuba verschleppt.[319] Kubas Bevölkerung explodierte; zumal schon seit den 1770er Jahren eine massive „freie“ Migration aus Spanien eingesetzt hatte. Bis um 1850 wurde die Masse der Migranten durch Verschleppte aus Afrika gebildet (dazu kamen 1847–1874 noch coolies aus China – rund 125000).[320][319] „Negros: Expediente formado para recoger y remitir al Sor. Capitan gen.l las noticias que S.E. pide de los esclavos que han entrado en toda la isla desde el año de 1811. hasta la extincion del tráfico de negros, y desde el año de 1764, hasta el de 1810, inclusive“ (ohne Foliierung), in: ANC 1832; vgl. auch „Relacion ... de los negros bozales entrados en este puerto [Santiago de Cuba] desde el año de 1764 hasta 1810, inclusive“, Cuba 16 de Febrero de 1835, in: ANC 1832a; die Gesamtzahl der Verschleppten nach Santiago allein ist laut dieser Liste 14 846 legal nach Kuba Verschleppter! Allein für 1811 sind in den neu (2012) aufgetauchten Listen des Zolls von Havanna („Entrada de Negros bozales“) 6349 Verschleppten ausgewiesen, vgl.: „Entrada de Negros bozales“ [1811], in: Miscelanéa de Libros, Aduana Maritima, no. 862 (1811) (enthält auch Informationen für 1812 und 1813; partiell ohne Foliierung), f. 10r–18r, in: ANC 1811; vgl. speziell: „Resumen“, in: Ebd., f. 18r. Vgl., kontrastierend, die Liste von 1832 für den Generalkapitän, die für den Zeitraum 1811 bis 1821 von einer Zahl von 130 371 legal Importierter nur für Havanna ausgeht, in: ANC 1832b. Negros: „Expediente formado para recoger y remitir al Sor. Capitan gen.l las noticias que S.E. pide de los esclavos que han entrado en toda la isla desde el año de 1811. hasta la extincion del tráfico de negros, y desde el año de 1764, hasta el de 1810, inclusive“ (ohne Foliierung): „Estado demonstrativo de la introduccion de negros bozales realizada en este puerto [La Habana] ...“. Für die ganze Insel (ohne Havanna) legal eingeführte Sklaven, nach dieser Liste (ANC 1832a), Cuba 16 de Febrero de 1835 („Yntroducidos en este Puerto y demás de esta prov.a desde el año de 1811 hasta la extincion del trafico [wirklich bis 1823]“: 28 379 legal importierter Sklaven, in: ANC 1832a. Vgl. auch: „Relacion que se forma por la Administracion de rentas R.s de mi cargo, del número de esclavos de ambos sexos, importados en este Puerto desde 1811 á 1820, en q.e se estinguió este tráfico, la cual se saca p.a dirigir á la Superintend.a gral de R.l hacienda en virtud de oficio de 22 de Marzo prox. pasado, á saber“, in: AGI 1832–1835.[320] Johnson 2010, passim; Gonzalez-Ripoll Navarro, „El espacio de azúcar: equilibrio racial y blanqueamiento de la población“, in: González-Ripoll Navarro 1999, 99–121; Curry-Machado, „Engeneering Migration“, in: Curry-Machado 2011, 47–71.

138Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass nach Aufhebung der Sklaverei im Britischen Empire (1834–1838) auch Sklavenbesitzer von den Bahamas und Jamaika mit ihren Sklaven nach Kuba kamen. Ihre Zahl war nicht sehr signifikant, aber immerhin so sichtbar, dass die Gegend zwischen Gibara und Holguín im Volksmund „Englisch-Kuba“ genannt wurde. Und schließlich beobachtete der irisch-britische Abolitionist Richard Robert Madden (1798–1886) bei seinen Reisen auf Kuba als Superintendent und Richter des gemischten britisch-spanischen Gerichtshofes (Tribunal Mixto de Justicia, kurz: Comisión Mixta)[321] 1836–1839 folgendes: Weil im spanischen Imperium keine Ausländer (extranjeros) vorgesehen waren, gab es auch kein Gesetz, das sie den Steuern unterwarf, die Spanier (súbditos españoles) zahlen mussten. Madden schreibt weiter: [321] „Expo.te formado por el nombramiento de arbitro del D.r D.n Ricardo Roberto Madden para este Tral. Mixto de Just.a“, Havanna, 24. August 1836, in: TNA 1836.

„Esta inmunidad atrajo a Cuba un número de colonos de los Estados sureños [der Südstaaten der USA – M.Z.], de tal manera que algunos distritos en la costa norte de la isla, especialmente en la vecindad de Cárdenas y Matanzas, tienen mas bien las características de colonias americanas que españolas“.[322][322] Madden, „Influencia norteamericana en Cuba y política tejana“, in: Madden 1964, 105–117, hier 106.

139 Die Aussage zeigt, dass es auch eine nordamerikanische Immigration nach Kuba gab (vor allem nach dem Verbot des transatlantischen Sklavenhandels in den USA 1808), meist Sklavenhändler und -besitzer, Kaufleute, Ingenieure und Eisenbahnmechaniker, die die lokalen Behörden bestachen und wie die lokale Elite behandelt wurden.

140Arango hat diese ganze Entwicklung Kubas zur Perle der Second Slavery angestrebt, begleitet und beeinflusst, natürlich ohne den Begriff zu benutzen. 1791, als die Ereignisse auf Saint-Domingue (1790–1803) bekannt wurden, hatte er sofort festgehalten:

„als die Vorsehung über Frankreich die Geißel brachte, die sie heute peinigt [Arango meint die Sklaven-Revolution von Saint-Domingue] ... verringerte die Konfusion und die Unordnung, die in ihren Kolonien herrschte, ihre Produktion und gab unserer Wert [cuando la Providencia descargó sobre la Francia el azote que hoy la aflige. La confusión y desorden que reinaba en sus colonias diminuyó sus producciones y dando valor a las nuestras]“.[323][323] Arango y Parreño, „Discurso sobre la Agricultura de la Habana y medios de fomentarla“ (1792), Arango y Parreño 1952, Bd. I, 114–162, hier 122; vgl. auch: Arango y Parreño, „Discurso sobre la agricultura de La Habana y medios de fomentarla“ (1792), in: Pichardo 1973, Bd. I, 162–197, hier 169; sowie: González-Ripoll Navarro et al. 2005.

141 Dies gesagt, verlangte Arango kühl kalkulierend die Ausweitung des Freihandels mit Sklaven, vorangetrieben vom Staat, die Rücknahme des Código Negro Español, Steuererleichterungen, freien Export sowie wissenschaftliche und technologische Verbesserungen der Zuckerproduktion auf Kuba. Wichtig war, dass der große Pancho die Ergebnisse der neuen Wissenschaften der politischen Ökonomie, der Demographie und Naturwissenschaften sowie der Steuerung der Wirtschaft durch den Staat (Institutionenökonomik) auf Kuba anwandte. Das Allerwichtigste aber – expressis verbis formuliert erst 1795 nach der „Spionagereise“, die Arango sowie Ignacio Pedro Montalvo y Ambulodi, Conde de Casa Montalvo nach Portugal, England, Barbados und Jamaika unternommen hatten – kann in der Forderung zusammengefasst werden: „es soll nicht erlaubt werden, dass von Kuba unraffinierter Zucker abgehe [no debía permitirse que saliera de Cuba el azúcar sin refinar]“.[324] Das ist das Motto einer industriellen Revolution im Plantagensektor. 1796 kam die Bestätigung aus Madrid, eine Real Orden, die quasi anerkannte, dass Spanien in Bezug auf die industrielle Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte hinter seiner „Kolonie“ Kuba zurück lag: „man kann auf dem ganzen Distrikt dieser Insel [Kuba] Zuckerraffinerien errichten, um ihn nach diesen Königreichen [Spanien] oder an die weiteren Herrschaften Seiner Majestät in Amerika zu bringen“.[325] Ein Eintrittsbillet zur industriellen Revolution unter dem Stichwort industria nacional [Nationalindustrie]. Arango war ein konservativer Revolutionär.[326] [324] González-Ripoll Navarro, „El proyecto de Arango y Parreño“, in: González-Ripoll Navarro 1999, 198–205, hier 201; das Gesuch von Arango y Parreño findet sich unter, „Resultan grandes perjuicios de que en Europa se haga la fabricación del refino“, in: Arango y Parreño 1952, Bd. I, 225–239;.[325] Die Real Orden von 1796 ist als Anhang abgedruckt in: Arango y Parreño, „Resultan grandes perjuicios de que en Europa se haga la fabricación del refino“, in: Arango y Parreño 1952, Bd. I, 225–239, hier 238f.[326] Arango y Parreño, „Representación hecha a su S.M. con motivo de la sublevación de esclavos en los dominios franceses de la isla de Santo Domingo“ (20. November 1791), in: Arango y Parreño 1952, Bd. I, 109–113; zur technologischen Entwicklung vgl.: Zogbaum, Heidi, „The steam engine in Cuba’s sugar industry, 1794–1860“, in: JILAS 2002, 37–60; Curry-Machado, „Steam and Sugarocracy“, in: Curry-Machado 2011, 23–47.

142Kuba, besser gesagt, die Cuba grande, Puerto Ricos Küstenzonen[327], Suriname, aber vor allem der South der USA und der Kaffeesüden Brasiliens wurden zu den neuen Plattformen der Second Slavery, die mit den neuen Möglichkeiten des Transports (Eisenbahn, Dampfer) in die Kontinente hinein expandierten. Kuba war kein Kontinent, aber eine sehr große Insel im Vergleich zu Jamaika oder Saint-Domingue mit seinen vielen Bergen. Kuba wurde zur Perle der Second Slavery, entwickelter als die USA oder Brasilien.[328] [327] Cabrera Salcedo 2010.[328] Zeuske, „The Second Slavery: Modernity, mobility, and identity of captives in Nineteenth-Century Cuba and the Atlantic World“, in: Laviña/Zeuske 2014, 113–142.

143Genau in diesem Textteil über die Sklaverei bezeichnete Humboldt sich als „Geschichtsschreiber von Amerika“[329] – in unserem Zusammenhang handelte es sich um eine Politisierung von Geschichte in einer extrem dynamischen Phase der Entwicklung der Sklaverei, des Kapitalismus und der atlantischen Welt. Humboldt hat die Sklaverei und den ab 1820 illegalen Sklaven- und Menschenhandel Kubas abgelehnt. In der Realgeschichte entwickelten sich beide aber so dynamisch und mächtig, dass die „Kolonie Kuba“ quasi bis 1898 das spanische Rest-Imperium finanzieren konnte und eine ganze Reihe von Spaniern und Katalanen auf Kuba zu reichen Männern wurden. Sie gründeten unter anderem Banken in Spanien, schufen Dampferflotten und modernisierten Barcelona, Valencia und Madrid (und andere Städte des europäischen Spaniens).[330][329] Zeuske, „‚Geschichtsschreiber von Amerika‘: Alexander von Humboldt, Deutschland, Kuba und die Humboldteanisierung Lateinamerikas“, in: Zeuske 2001, 30–83.[330] Rodrigo y Alharilla, Martín, „Con un pie en Catalunya y otro en Cuba: la familia Samá, de Vilanova“, in: Rodrigo y Alharilla 1998, 359–397; Rodrigo y Alharilla 2000; Rodrigo y Alharilla, „Los Goytisolo. De hacendados en Cienfuegos a inversores en Barcelona“, in: Rodrigo y Alharilla 2003, 11–37; Rodrigo y Alharilla 2007; Rodrigo y Alharilla, „Trasvase de capitales antillanos: azúcar y tranformación urbana en Barcelona en el siglo XIX“, in: Santamaría García/Naranjo Orovio 2009, 127–158; Rodrigo y Alharilla, „De la esclavitud al cosmopolitismo: Tomás Terry Adán y su familia“, in: Laviña/Piqueras/Mondejar 2013, 93–119; Rodrigo y Alharilla, „Spanish Merchants and the Slave Trade. From Legality to Illegality, 1814–1870“, in: Fradera/Schmidt-Nowara 2013, 176–199.

144Arango förderte die Entwicklung der Second Slavery auf Kuba mit allen Kräften bis um 1826. Im Zuge all dieser Konflikte und versuchten Einflussnahme hat er allerdings sein eigenes Geschäft ruiniert; vor allem als er, wie Humboldt auch, bemerkte (Arango am eigenen Leibe), dass die kreolischen Hacendados immer abhängiger von den Krediten (refacción) der (meist) spanischen Kaufleuten/Sklavenhändlern wurden.[331] Arangos Kreditgeber und Konsignatoren (die seinen Kaffee und Zucker in den USA und Europa verkauften), sowie seine Zulieferer und Kreditgeber, die Kaufleute/Sklavenhändler Drake, Hernández & Chauviteau, Inglada & Echendia, Ferrer und Lombillo änderten während seiner häufigen Abwesenheit die Konditionen zu seinen Ungunsten. Dazu kamen Absatzschwierigkeiten in den USA (Embargo 1814) für Kaffee und Zucker. 1819 war Arangos Vorzeige-Ingenio La Ninfa praktisch pleite.[332] [331] Mit den extrem hohen Kreditzinsen (manchmal 30% pro Jahr) war seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine mächtige Kaufleute- und Wucherergruppe (refaccionistas) entstanden, vor allem von Spaniern, deren Kapital sich mit der Zins- und Zinseszinsalchemie der Refacción sehr schnell vermehrte; vgl.: García Rodríguez 2004.[332] Quiroz, Alfonso W., „The Scientist and the Patrician: Reformism in Cuba“, in: Erickson/Font/Schwartz 2007, 111–122, hier 122f.

145Aber die Second Slavery auf Kuba, für die Arango so viel getan hatte, gedieh extrem dynamisch; so dynamisch, dass Havanna und Kuba den Weltzuckermarkt dominierten und die Sklaverei auf Kuba als vorletzte in den Amerikas (1886, zwei Jahre vor Brasilien) aufgehoben wurde. Kuba war für 80 Jahre die „Perle“ des spanischen Restimperiums.[333][333] Sivers 1861; Gallenga 1873; Zeuske, „Mythos Kuba: Reichtum, Gesundheit und Sklaven“, in: Zeuske 2004a, 337–347; Fradera 1999; Fradera 2015.

146Leipzig, 1.–30. August 2016

Anmerkungen

Die Erstellung der Datenbestände der edition humboldt digital ist ein fortlaufender Prozess. Umfang und Genauigkeit der Daten wachsen mit dem Voranschreiten des Vorhabens. Ergänzungen, Berichtigungen und Fehlermeldungen werden dankbar entgegengenommen. Bitte schreiben Sie an edition-humboldt@bbaw.de.

Zitierhinweis

Zeuske, Michael: Alexander von Humboldt, die Sklavereien in den Amerikas und das „Tagebuch Havanna 1804“ . Zur Edition von „Isle de Cube“. In: edition humboldt digital, hg. v. Ottmar Ette. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. Version 9 vom 04.07.2023. URL: https://edition-humboldt.de/v9/H0012105


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Über den Autor

 

Michael Zeuske

Universität zu Köln

michael.zeuske@uni-koeln.de

Michael Zeuske, seit 1993 Universitätsprofessor, Iberische und Lateinamerikanische Abteilung/Global South Studies Center an der Universität zu Köln. Spezialisiert in Geschichte der Sklaverei und des Sklavenhandels, Geschichte der Karibik, Geschichte Kubas und Venezuelas, Globalgeschichte, Mikrogeschichte und Geschichte des Atlantiks. Neueste Publikationen (Auswahl): Simón Bolívar. History and Myth. Princeton: Markus Wiener Publishers, 2012. Amistad. A Hidden Network of Slavers and Merchants. Translated by Rendall, Steven, Princeton: Markus Wiener Publishers, 2014. Handbuch Geschichte der Sklaverei. Eine Globalgeschichte von den Anfängen bis heute. Berlin/Boston: De Gruyter, 2016. Sklavenhändler, Negreros und Atlantikkreolen. Eine Weltgeschichte des Sklavenhandels im atlantischen Raum. Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2015.