1Alexander von Humboldts Tagebuch Fragmente des Sibirischen Reise-Journals 1829 ist ohne Zweifel eine der bekanntesten der unbekannten Humboldt’schen Schriften. Schon seit den 1960er Jahren wusste die Forschung von ihrer Existenz, nachdem die Tagebücher-Konvolute der beiden hemisphärischen Reisen 1958 von der Sowjetunion an die Deutsche Staatsbibliothek Berlin der DDR übergeben wurden. Trotzdem standen die drei Bände, die während und im Zuge der russisch-sibirischen Reise von 1829 entstanden sind, stets im Schatten ihrer berühmten Geschwister, der neun Tagebücher der amerikanischen Reise. Dieses ungleiche Verhältnis in der öffentlichen Wahrnehmung gibt es bis heute.

2Es ist also nicht wenig, hier festzuhalten, dass die vorliegende erste Lieferung der Fragmente ein Novum für die Humboldt-Forschung ist und ein lang bestehendes Desiderat der Quellen und Kontexte zur zentralasiatischen Expedition mit einem ersten Angebot bedient.

3Es ist uns wichtig zu betonen, dass die in der edition humboldt digital im Oktober 2020 veröffentlichte Fassung nicht mehr als ein tentatives und äußerst vorläufiges Angebot an die interessierten Leser, Forscherinnen und Studierenden der Wissenschafts- und Expeditionsgeschichte Russlands im 19. Jahrhundert sein kann. Es handelt sich in jeder Hinsicht um eine Beta-Version und noch nicht um eine editionsphilologischen Standards genügende, wissenschaftliche Edition dieses ersten der Humboldt’schen Tagebücher zur russisch-sibirischen Reise. Hierfür gibt es mehrere Gründe.

4An erster Stelle steht das Problem der Lesbarkeit von Humboldts Handschrift. Die von Humboldt selbst zurecht verteufelte „écriture diabolico-microscopique“[1] stellt jede Bearbeitung vor eine große Herausforderung. Doch zeigt sich hier noch etwas anderes: Humboldts Schrift kommt nur selten in den Fluss, entwickelt kaum Rhythmus, bleibt Notiz, Anmerkung, Liste, Messreihe, Entwurf. Viel seltener als in den Amerikanischen Reisetagebüchern entwickelt Humboldt längere Passagen der Reflexion, Erzählung oder Analyse. Das Sibirische Reise-Journal ist tatsächlich das Zeugnis einer ganz anderen als der amerikanischen Reise.[2] Humboldt war nicht fünf Jahre, sondern nur neun Monate (12. April bis 28. Dezember 1829) unterwegs. Trotz der kurzen Dauer wurde eine kaum vorstellbare Distanz bewältigt. Zusammen mit seinen Reisegefährten legte Humboldt eine Strecke von mindestens 19.000 km zurück. In eine Formel gebracht, heißt das: Einmal um den halben Planeten reisen, 260 Tage am Stück, durchschnittlich 73 km pro Tag, im Jahr 1829. Diese Beschleunigung der Reise hat ihren Ausdruck gefunden in einer hochgradig verdichteten und zuweilen hermetisch anmutenden Textgestalt. In einer an Stationen reichen Expedition blieb nur selten Zeit für das Stationäre, für Ruhe und Rückblick. Dazu darf nicht vergessen werden, dass Humboldt keineswegs unbeobachtet reiste, sondern im Gegenteil sich seiner Beschattung sicher sein konnte.[3] Im Vorfeld der Reise hatte er dem russischen Finanzminister Georg von Cancrin zudem versichern müssen, sich in seinen Schriften zur Reise nicht über Land und Leute zu äußern[4], ein Zugeständnis, das Humboldt noch in seiner Widmung an Nikolaus I. im Vorwort zu Asie Centrale (1843) wiederholt.[5][1] Humboldt an Marc-Auguste Pictet, Berlin, 3. Januar 1806 (Humboldt 1868, 178).[2] Christian Suckow, langjähriger Arbeitsstellenleiter der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle (1970–2014), hat diese Unterschiede auf den Punkt gebracht: „Die amerikanische Reise ließ ihm trotz aller Entbehrungen bei längeren Aufenthalten an einem Ort genug Muße zum Arbeiten, die russische forderte bei relativer Bequemlichkeit äußerste Konzentration im schnellen Wechsel der Kulissen. In Lateinamerika konnte er sich mit jedermann unterhalten, denn er beherrschte die spanische Landessprache; in Rußland war ihm die unmittelbare Verständigung nur mit Angehörigen des Adels, höheren Beamten und Wissenschaftlern auf Französisch und Deutsch möglich, sonst war er auf Dolmetscher angewiesen. Die Wahrnehmung der kolonialen lateinamerikanischen Gesellschaft war weithin eine von unten, nämlich eine der eigenen Erlebnissphäre während der Reise, die Perspektive auf die zarenrussische wurde ihm in der Regel von oben, d.h. unter weitgehender Abschirmung von den sozial unteren Schichten eröffnet […].“ (Suckow 2001, 253).[3] Alexander an Wilhelm von Humboldt, Ekaterinburg, 9./21. Juni 1829: „Die Vorsorge der Regierung für unsere Reise ist nicht auszusprechen, ein ewiges Begrüssen, Vorreiten und Vorfahren von Polizeileuten, Administratoren, Kosakenwachen aufgestellt! Leider aber auch fast kein Augenblick des Alleinseins, kein Schritt, ohne dass man ganz wie ein Kranker unter der Achsel geführt wird!“ (Humboldt 2009a, 138, Nr. 38).[4] Humboldt an Cancrin, Ekaterinburg, 5./17. Juli 1829: „Es versteht sich von selbst daß wir uns beide nur auf die auf die todte Natur beschränken und alles vermeiden was sich auf Menschen Einrichtungen[,] Verhältnisse der untern Volks-Classen bezieht: was Fremde, der Sprache unkundige, darüber in die Welt bringen, ist immer gewagt, unrichtig u[nd] bei einer so complicirten Maschine, als die Verhältnisse und einmal erworbenen Rechte der höhern Stände und die Pflichten der untern darbieten, aufreizend ohne auf irgend eine Weise zu nüzen.“ (Humboldt 2009a, 148, Nr. 43).[5] Humboldt 1843, I, VIII-IX. Dt. Übers.: „Ew. Kaiserliche Majestät geruheten zu bestimmen, dass die Gegenden, welche ich besuchen wolle, ganz von meiner Wahl abhängen sollten. Sie erklärten, ‚dass der Hauptzweck dieser Reise der sei, der Wissenschaft, und insbesondere der Geologie und dem in unsern Tagen so fruchtbringenden Zweige des Erdmagnetismus, förderlich zu sein, und dass bei meinen Untersuchungen durchaus Alles, was materielle und örtliche Interessen beträfe, nur eine Nebenrolle spielen solle.‘ Wenn ich hier diese edlen und hochherzigen Worte wiederhole, so glaube ich, dadurch Ew. Kaiserlichen Majestät die Huldigung an den Tag zu legen, welche eines mächtigen Monarchen würdig ist.“ (Humboldt 1844, I.1, o. S.).

5Dies erklärt den eigentümlichen Charakter der Schreibprozesse und Schreibmomente dieser nicht ohne Grund von Humboldt als Fragmente getauften Aufzeichnungen.

6Für die Editionsarbeit heißt das: Der Text der Handschrift „diabolico-microscopique“ ist nicht nur in Teilen unleserlich, er bleibt auch zuweilen unverständlich. Transkription, textkritische Erschließung und Erforschung der Kontexte lassen sich auf dieser Textgrundlage kaum voneinander trennen und erschweren den Abschluss der Textkonstitution.

7Ein dritter und letzter Grund liegt in der Vorlage, mit der die Herausgeber arbeiten. Wie die Anzeige der digitalen Faksimile verdeutlicht, liegt dem Akademienvorhaben „Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung“ bis dato lediglich eine Fotokopie der Tagebuchseiten aus jener Zeit vor, als die Bände der Reise in Verwahrung der DDR-Staatsbibliothek waren. Das schlecht ausgeleuchtete Bildmaterial erlaubt kaum, Unterschiede in der Schichtung von Schreibprozessen zu erkennen, Verschreibungen oder Verschleifungen bleiben häufig rätselhaft. Die zahlreichen, ebenfalls der Hektik der Reise geschuldeten Bleistift-Notate lassen sich oft kaum erkennen und müssen mehr geraten als gelesen werden.

8Unter diesen Voraussetzungen wäre es möglich gewesen, den Text weiterhin zurückzuhalten, um der Absicherung von Lesungen, ja überhaupt dem Abschluss der eigentlichen Transkription Vorrang zu geben. Die Herausgeber haben sich zuletzt dagegen entschieden und für die dem Digitalen vorbehaltene Option, etwas Unfertiges zu veröffentlichen. Deutlich wird nunmehr der Prozess der editorischen Arbeit, ihre zuweilen irritierende Ungleichzeitigkeit von Transkription und Kommentar.

9Das Zwischenfazit im Oktober 2020 lautet daher: Die vorliegende Edition der Fragmente ist selbst das Fragment einer Edition geworden. Das wird sie nicht bleiben. Für den Moment gilt: Die nun erfolgte Vorab-Veröffentlichung als digitale Beta-Edition erlaubt endlich einen ersten Zugang zu diesem ebenso sperrigen wie geheimnisvollen und aufregenden Text.

Anmerkungen

Die Erstellung der Datenbestände der edition humboldt digital ist ein fortlaufender Prozess. Umfang und Genauigkeit der Daten wachsen mit dem Voranschreiten des Vorhabens. Ergänzungen, Berichtigungen und Fehlermeldungen werden dankbar entgegengenommen. Bitte schreiben Sie an edition-humboldt@bbaw.de.

Zitierhinweis

Kraft, Tobias; Schnee, Florian: Erstmal(s) die Fragmente. Ein Kommentar zur vorliegenden Beta-Edition (2020). In: edition humboldt digital, hg. v. Ottmar Ette. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. Version 9 vom 04.07.2023. URL: https://edition-humboldt.de/v9/H0018418


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Über die Autoren

 

Tobias Kraft

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

kraft@bbaw.de

Tobias Kraft, geb. 1978. Studium der Germanistik, Romanistik und Medienwissenschaften in Potsdam und Bonn. 2013 Abschluss der Promotion an der Universität Potsdam. Seit 2015 Arbeitsstellenleiter im Akademienvorhaben „Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung“. Seit 2019 Leiter des „Proyecto Humboldt Digital“.

 

Florian Schnee

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

schnee@bbaw.de

Florian Schnee, geb. 1975. Studium der Germanistik, Romanistik und Komparatistik in Berlin und Bologna. 2015-2018 Mitarbeit in der Abt. Editionen des Goethe- und Schiller-Archivs Weimar. Seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Akademienvorhaben „Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung“.